Kapitel 2

Yi Min hatte sich mit tatkräftiger Unterstützung von Martha von ihrer schmutzstarrenden Kleidung befreit und es sich nach einem heißen Bad auf dem großen Himmelbett bequem gemacht.

Ihr Kopf tat höllisch weh und ein stechender Schmerz durchfuhr sie jedes Mal, wenn sie aus Unachtsamkeit zu tief Luft holen wollte. Diese verfluchte, gebrochene Rippe verursachte reichlich Ungemach.

Nachdem diese zwar nette, aber für Yi Mins Geschmack auch etwas zu aufdringliche ältere Dame das Zimmer endlich verlassen hatte, hing sie ihren Gedanken nach.

Was zum Madhu hatte sie ausgerechnet hierher verschlagen? Einen schlechteren Ausgangspunkt konnte sie sich wahrlich nicht vorstellen.

Darüber hinaus war sie verletzt. Einen Knochenbruch hatte sie noch nie zuvor gehabt. Auch keine anderen ernsthaften Verletzungen. Keine sehr angenehme Erfahrung. Zu allem Überfluss konnte sie sich hier noch nicht einmal selbst helfen.

Ihr war strengstens untersagt, ihre Kräfte einzusetzen denn sonst hätte sie gegen die elementarste Regel der Initationsriten verstoßen. Und sich darüber hinaus auch noch in große Gefahr dabei gebracht.

Yi Min war nicht gerade eine Persönlichkeit, die sich gern und freiwillig Regeln oder dem Diktat Höhergestellter unterwarf. Doch auch sie musste die Bestimmungen und Traditionen der Initation befolgen. Denn sie wollte um keinen Preis riskieren, länger als unbedingt notwendig in dieser feindlichen Umgebung verbleiben zu müssen. Dafür war sie bereit, sich dieses eine Mal zu unterwerfen. Kein sehr berauschender Gedanke für so einen widerborstigen Wildfang.

Unwillig schüttelte sie den Kopf.

Das konnte doch einfach alles nicht war sein.

Kaum hatte sie das Portal durchschritten gehabt, war sie von gleißenden Lichtern geblendet worden. Für einen kurzen Moment starr vor Verwunderung hatte sie in der Bewegung inne gehalten. Wie ein Reh.

Und dieser kurze Augenblick war ihr zum Verhängnis geworden. Das herannahende Auto hatte sie erfasst und sie war erst vorhin wieder zur Besinnung gekommen.

In einem fremden Haus.

Dieses Haus. Viel hatte sie noch nicht davon gesehen.

Dafür ihren Gastgeber umso genauer.

Sie war sich nicht völlig sicher. Sie selbst hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

Und es mussten mindestens 3 Jahrzehnte vergangen sein. Zeit genug, um sich zu verändern.

Amari, ihre ältere Schwester hatte ihr von dem unseeligen Umstand erzählt der sich vor 30 Jahren (in Murgat-Zeitrechnung) zugetragen hatte.

Damals hatten zwei Halbwüchsige Evgrin's aus dieser Welt eine der Pforten zwischen den Dimensionen durchschritten, waren unbemerkt in den Hain eingedrungen und hatten Irial, einen der heiligen Steine aus dem Schrein gestohlen.

Amari war damals Anwärterin gewesen und hatte unbemerkt alles mit angesehen. Auch einen der Evgrin's hatte sie gesehen. Ein hagerer Junge von vielleicht 16 Murgat-Jahren mit fast weißem Haar.

Den zweiten Dieb umhüllte ein Schatten, den kein Tashgan-Auge durchdringen konnte. Ein mächtiger Zauber.

Zum Glück wurden die Evgrin's von Hainwachen bei ihrem schändlichen Treiben entdeckt und aus der Tashgan-Dimension vertrieben, bevor sie auch noch die heiligen Schriften an sich bringen konnten. Das war Glück im Unglück. Denn so sehr Yi Mins Volk der Verlust von Irial schmerzte, so hatten sie doch die Gewissheit, dass diese ungeheuerlichen Evgrin's ohne Kenntnis der heiligen Schriften nie Macht über den heiligen blauen Stein erlangen konnten. Dennoch, Irial war und blieb verschwunden.

Immer wieder hatten sich altehrwürdige Daragan-Krieger ihres Volks sich auf die Suche gemacht. Jahrelang. Einige waren nicht wieder zurückgekehrt.

Alles vergeblich.

Jeder Heranwachsende An-Fhearr, der sich seit diesem Tag dem Vohpa 'e'e, dem Initationsritus, unterziehen musste, war gebeten worden, sich nach Kräften nach dem gestohlenen Irial umzusehen und ihn zurückzubringen falls dies möglich war. Sie sollten sich aber auf keinen Fall dabei in Gefahr bringen sondern zurück kehren nach Hetohk'e'e und den Ältesten berichten.

Bis jetzt aber hatte noch kein zurückkehrender An-Fhearr irgendwelche nützlichen Information mitbringen können.

Amari hatte ihrer kleinen Schwester Yi Min –als diese Anwärterin wurde und deren Stunde des Übergangs näher rückte- noch einmal genau das Aussehen des einen Evgrin geschildert, den sie vor so vielen Jahren im Hain gesehen hatte.

Nun, Jahre waren vergangen.

Das Aussehen des jungen Evgrin hatte sich verändert. Er war zu einem stattlichen Mann herangewachsen.

Einem Mann mit silberweißem Haar. So ungewöhnlich dies bei einem Murgat-Mann mittleren Alters auch war, es bestand durchaus die Möglichkeit, das er nicht der Einzige mit einem derart auffälligen Schopf auf dieser Welt war.

Trotzdem.

Es regten sich bei Yi Min nur schwache Zweifel, dass es sich bei Ihrem Gastgeber nicht um ebendiesen Evgrin handelte, der etwas mit dem Verschwinden von Irial zu tun hatte.

Sie musste sehr vorsichtig sein.

Kapitel 3

Yi Min hatte nicht bemerkt, dass jemand das Zimmer betreten hatte, so sehr war sie in ihren Gedanken versunken.

Als sie ihren Gastgeber, scheinbar wie aus den Nichts aufgetaucht, neben dem Bett stehen sah, erschrak sie sehr und zuckte unwillkürlich zusammen.

Das hätte sie jedoch nicht tun sollen denn ihre gebrochene Rippe machte sich sofort mit stechenden Schmerzen bemerkbar.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht stöhnte sie auf.

„Das haben wir gleich" sagte er sanft, setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und hielt seine flache Hand ausgestreckt wenige Zentimeter über die verletzte Stelle. Dabei murmelte er tonlos einige fremdartige Worte. Die Luft zwischen seiner Hand und Yi Mins Körper begann zu glühen. Ein kurzer, heftiger Schmerz ließ sie nochmals aufstöhnen.

Dann zog er seine Hand zurück und sah sie aufmerksam an, ohne jedoch ein weiteres Wort zu sagen.

Vorsichtig versuchte Yi Min tief Luft zu holen, jeden Moment wieder mit einem stechenden Schmerz rechnend. Doch er blieb aus. Ungläubig betastete sie ihre Seite. Vom Rippenbruch war nichts mehr zu spüren.

„Ich sagte doch, ich kümmere mich darum" meinte er leichthin.

„Ich danke Ihnen. Für die Heilung und das Quartier heute Nacht" erwiderte Yi Min.

„Keine Ursache. Es ist mir eine Freude" entgegnete er.

Beim Wort Freude leuchteten seine eisblauen Augen kurz unheilvoll auf. Yi Min lief ein Schauer über den Rücken.

„Darf ich nun den Namen meines gütigen Gastgebers erfahren?" fragte sie und versuchte, dabei möglichst unbefangen zu klingen.

„Nennen Sie mich Lucius".

Interessant, dachte Yi Min. Er hatte ihr nur seinen Vornamen genannt.

Was hatte er zu verbergen?

Die beängstigende Gewissheit schlich sich in ihr Hirn. Vor ihr saß tatsächlich einer der Evgrin-Magier, die Irial gestohlen hatten.

Warum hatte er sie mitgenommen?

Wusste er vielleicht was sie war? Bei diesem Gedanken wurde Yi Min übel.

Aber nein, das konnte nicht sein.

Ihr Volk konnte sein wahres Selbst normalerweise recht gut vor Murgats und Evgrin's verbergen.

Trotzdem musste Lucius etwas Ungewöhnliches an ihr bemerkt haben, sonst hätte er sie einfach nach dem Unfall am Straßenrand liegen lassen.

Yi Min wusste nur zu gut Bescheid über die hasserfüllte Abneigung, die die meisten der Evgrin-Magier ihren einfachen Murgat-Mitmenschen (von ihnen auch verächtlich Muggel genannt) entgegen brachten.

Sie war in diesem Haus in großer Gefahr.

Dennoch konnte sie nicht jetzt gleich so ohne Weiteres verschwinden. Das würde sicher nicht unbemerkt bleiben, dachte sie sich.

Und außerdem fühlte sie sich nicht besonders gut.

Der Rippenbruch war zwar geheilt, ihre Kopfschmerzen waren jedoch noch da.

Sie beschloss, für ein paar Stunden zu hier zubleiben um sich ein wenig zu erholen.

Zumindest so lange, bis alle Bewohner dieses Hauses sich zur Ruhe begeben hatten.

Und wenn sie hier ihre Kräfte nicht einsetzte (was ja sowieso verboten war) dann konnte eigentlich niemand hinter ihr Geheimnis kommen.

„Oh, was ist mit Ihren Haaren passiert?" fragte Lucius plötzlich verwundert. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die schmutzigen, blonden Locken verschwunden waren und eine seidig-glatte, schwarzglänzende Mähne ihr Gesicht umrahmte.

Lucius bevorzugte eigentlich ausschließlich Blondinen, musste jedoch zugeben, dass diese schwarzen Haare einen gewissen Reiz hatten. Es verwunderte ihn allerdings doch etwas. Man änderte seinen Geschmack oder seine Vorlieben nicht plötzlich von heute auf morgen. Dennoch fand er, dass Yi Min die schwarzen Haare sehr viel besser standen als diese blonden Locken. Das Schwarz war ein toller Kontrast zu ihrer milchweißen Haut und verstärkte ihre exotische Ausstrahlung.

Gerne hätte er eine ihrer Strähnen durch seine Finger gleiten lassen um herauszufinden, wie sie sich anfühlten, doch er unterließ es.

Yi Min verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.

„Es war nur eine Perücke" erwiderte sie.

Lucius fragte sich kurz, wie jemand auf eine solch einfältige Idee kommen konnte und einer derart lächerlichen Perücke seinen eigenen, durch aus sehr ansehnlichen Haaren den Vorzug gab.

Yi Min wusste es genau. Ihre merkwürdige Aufmachung (inklusive dieser scheußlichen Perücke) hatte sie der obersten Hainherrin Begley zu verdanken. Na ja, wenn sie ehrlich war, eigentlich eher ihrem eigenen Trotzkopf und ihrer Aufsässigkeit. Normalerweise trugen die jungen An-Fhearr's unauffällige Kleidung, wenn sie sich dem Vohpa'e'e unterzogen. Man wollte in der fremden Welt schließlich so wenig wie möglich Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

In Yi Mins Fall jedoch lag der Sachverhalt anders. Wegen ihrer Aufsässigkeit und wegen ihres letzten Streichs, der leider von Begley bemerkt worden war, hatte sie sich zur Strafe mit den erbärmlichsten und auffälligsten Klamotten einkleiden müssen. Sozusagen als Buße. Sie hätte die Perücke und die Sachen so lange tragen müssen, bis sie wieder zurückkehrte oder bis ein Murgat zufällig auf die Falschheit ihrer Haare stieß. Nun, dieser Haushälterin und ihrem Reinlichkeitsfimmel hatte es Yi Min zu verdanken, dass sie diese lächerliche Aufmachung nur ein paar Stunden hatte ertragen müssen.

Aber das alles konnte sie Lucius wohl kaum erzählen und sie wollte es auch nicht.

Sollte er ruhig denken, sie wäre ein wenig naiv.

„So ist es viel besser. Das Schwarz passt zu Ihren Augen" bemerkte Lucius.

Warum schmeichelte er ihr? fragte sie sich verwirrt.

„Da..danke" stammelte sie etwas hilflos.

Lucius schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

Nun, dieses Lächeln verfehlte seine Wirkung völlig denn es erschien Yi Min eher wie ein teuflisches Grinsen. Dieser Evgrin war unheimlich und er hatte sicherlich mehr als ein paar Leichen im Keller.

Eine lange Pause des Schweigens trat ein.

Yi Min wagte nicht, etwas zu sagen.

Lucius war auch mit einem Mal um Worte verlegen und froh, dass sich bald der Zeitpunkt näherte, wo er seine höfliche Maskerade würde fallen lassen können.

„Ich lasse Sie jetzt allein" erklärte er um das Schweigen zu brechen und stand auf.

„Wenn Sie etwas brauchen sollten, so klingeln Sie bitte nach Martha oder einem der anderen Diener". Mit diesen Worten deutete er auf den Klingelzug neben dem Kopfteil des Betts.

Ihre Antwort nicht abwartend nickte er ihr kurz zu, wandte sich um und ging zur Tür.

Bevor er jedoch den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um.

„Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir morgen Vormittag im Salon Gesellschaft leisten würden. Natürlich nur wenn es Ihnen besser geht".

„Äh ja, vielen Dank. Ich werde kommen" erwiderte sie. Natürlich hatte sie nichts Dergleichen vor.

Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, grübelte Yi Min noch lange nach. Doch dann übermannte sie doch der Schlaf.

To be continued...