Kapitel 4
Yi Min erwachte aus ihrem unruhigen Schlaf, als ihr ein Sonnenstrahl vom Fenster her ins Gesicht fiel.
Müde rieb sie sich die Augen, streckte und dehnte sich.
Nur undeutlich nahm sie ihre Umgebung war.
Doch dann fiel ihr alles wieder ein und mit einem verhaltenen Schrei setzte sie sich kerzengerade im Bett auf.
Ich bin in Aenoheso und muss meine Bewährungsprobe hinter mich bringen, schrie es in ihren Gedanken.
Mit einem Satz war sie aus dem Bett gesprungen.
Sie musste hier so schnell wie möglich weg. Sie hatte nur noch wenig Zeit, den Übergang wieder zu finden und zu kennzeichnen. Wenn sie dies nicht innerhalb eines Tages schaffte, so würde sie 6 lange Monate ausharren müssen, bis sich die Portale von selbst für einen kurzen Moment öffneten. Aber wenn es ihr gelang, den Übergang, durch den sie in diese Welt getreten war, mit einem kurzes Ritual auf sie einzustimmen, dann wäre das Portal jederzeit für sie durchlässig, und sie konnte kommen und gehen wann sie wollte. Dies war eine der Aufgaben des Vohpa'e'e. Die An-Fhearr sollten beweisen, dass sie aus eigener Kraft in ihre Dimension zurück kehren konnten.
Yi Min fluchte leise. Durch den Unfall hatte sie keine Ahnung wie weit dieses Haus und sein verfluchter Besitzer vom Übergang entfernt war, denn sie war auf der Fahrt hierher ja ohnmächtig gewesen.
Es konnte gleich hinter der nächsten Ecke sein, Meilen entfernt oder am anderen Ende dieser grauenvollen Welt.
Unruhig lief sie durchs Zimmer. Sie hatte keine Ahnung in welchem Teil dieser Welt sie sich befand, noch, wie viele kostbare Stunden sie durch das kleine Schläfchen verloren hatte. Darüber hinaus hatte sie zur Zeit nur ein dünnes Nachthemd an und keine Schuhe. So konnte sie wohl kaum unbemerkt auf die Straße. Was für ein Desaster.
Gehetzt blickte sie sich um und entdeckte dann ein Bündel Textilien, das auf einem der Sessel lag. Offenbar war das Problem mit der Kleidung erst einmal gelöst.
Irgend jemand musste ihr Kleider hergebracht haben, als sie geschlafen hatte.
Und auch ein Tablett mit einer Wasserkaraffe und einem Teller mit Essen.
Erst jetzt bemerkte sie, wie durstig sie war, griff dankbar nach der Karaffe und trank das Wasser darin in einem Zug aus.
Sofort ging es ihr erheblich besser.
Dann trat sie näher an den Sessel heran und nahm eins der Kleidungsstücke hoch.
Bei näherer Betrachtung stutzte sie. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Sie war offenbar verdammt dazu, hier als Flittchen gekleidet herumzulaufen.
Da jedoch im ganzen Zimmer und auch in keinem der Schränke andere Kleidung zu finden war, musste sie sich wohl oder Übel in ihr Los fügen.
Schnell zog sie sich an und trat vor den mannshohen Spiegel in der Ecke.
Bei ihrem Anblick verzog sie das Gesicht.
Man hatte ihr ein kurzes schwarzes Kleid gebracht das so eng am Körper lag, dass es mehr preisgab als verbarg.
Dazu wieder Netzstrümpfe und ihre schweren Schnürstiefel.
Ein Bild es Grausens.
Aber es nützte nichts.
Ein Mantel oder eine Jacke waren nicht dabei. Offenbar erwartete niemand, dass sie das Haus verlassen wollte.
Doch das war zweitrangig. Zuerst musste sie den Weg aus diesem Riesenkasten herausfinden.
Als sie gestern Nacht hier her geführt wurde, hatte sie nur nebenbei bemerkt, dass das Haus ziemlich groß war. Es hatte fast schlossähnliche Ausmaße.
Doch auch im größten Schloss musste irgendwo ein Ausgang sein.
Sie war entschlossen, ihn auch zu finden.
Und das möglichst ohne dabei gesehen zu werden.
Yi Min verspürte keinerlei Bedürfnis, Lucius oder sonst jemandem aus diesem Haushalt noch einmal über den Weg zu laufen.
Die Tür ihres Zimmers war glücklicherweise nicht verriegelt. Kurz fragte sie sich, wieso sie angenommen hatte, dass die Tür verschlossen war denn immerhin war sie hier Gast und keine Gefangene, oder?
Aber bei ihrem Gastgeber handelte es sich ja nicht um einen normalen Murgat.
Da konnte und musste man auf alles gefasst sein.
Leise schlich sie den Flur entlang und die Treppe hinunter. Die Treppe führte weiter zu einem langen Gang und um einige Ecken herum.
War das ein Haus oder ein Irrgarten? fragte sich Yi Min als sie nach einigem Herumirren wieder auf einer breiten Treppe ankam, die sie Minuten zuvor schon einmal passiert hatte.
Es schien so, was hätte sich das Haus gegen sie verschworen. Es hatte den Anschein als bestünde es nur aus langen verwinkelten Fluren, Treppenaufgängen und einer Menge Türen, die weis Mardhu wohin führen konnten.
Leise fluchtend eilte sie weiter.
Nach endlos langer Zeit, wie es ihr schien, gelangte sie über eine breite Prunktreppe endlich in einen langgezogenen Raum, der offenbar die Vorhalle oder das Treppenhaus des Schlosses war, denn am anderen Ende konnte sie eine schwere Eichenholztüre mit Eisenbeschlägen entdecken und sie hoffte sehr, dass das der Weg nach Draußen war.
So leise wie möglich huschte sie auf den Ausgang zu.
Sie war jedoch nur ein paar Schritte weit gekommen, da ertönte eine wohlbekannte Stimme hinter ihr.
„Du willst uns doch nicht etwa schon verlassen?" fragte Lucius in einem sehr selbstzufriedenen Tonfall.
Yi Min lief es eisig den Rücken herunter.
Nicht nur, dass er ihre Flucht entdeckt hatte, nein, aus seinem Tonfall war unschwer herauszuhören, dass jetzt Schluss mit der Höflichkeit war.
Sie blieb stehen und drehte sich halb nach hinten um ihn anzusehen.
Da stand er am Fuß der Treppe, die Hände lässig vor dem Bauch gefaltet und ein sehr zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
„Entschuldigung. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich muss sofort gehen". Obwohl sie beinahe wusste, dass es keinen Zweck haben würde, so versuchte sie es doch zuerst einmal mit Überredungskunst.
„Du wirst nirgendwo hingehen. Nicht heute, nicht morgen." war seine knappe Antwort.
Jetzt wusste sie, woran sie war und es konnte sie nun nur noch ihre Schnelligkeit retten.
Sie wirbelte herum und hastete so schnell sie konnte auf die Tür zu.
In Windeseile erreichte sie sie und zog an der Türklinke. Leider klemmte der Türriegel und sie verlor wertvolle Sekunden bis die Tür endlich nachgab und sie auf den Vorplatz hinausrennen konnte.
Lucius war stehen geblieben.
Er hatte es nicht nötig, seinem Wild nachzusetzen.
Er hob eine Hand und murmelte einen kurzen Zauberspruch. Ein blauer Energiestrahl schoss aus seiner Handfläche durchquerte blitzschnell die Distanz zwischen ihm und seiner Beute. Eine leuchtende Schlinge legte sich erbarmungslos um Yi Mins Hals und sie wurde sehr unsanft zurückgerissen.
Sie stürzte hart zu Boden, rang nach Luft und griff sich an den Hals. Sie fühlte nichts, keine Schlinge oder sonstige Behinderung, doch etwas hielt sie mit Nachdruck fest. Langsam kam Lucius näher und lächelte grausam auf sein Opfer hinab.
„Das ist ein Bannzauber meine Kleine. Solltest du unachtsam sein und dich weiter als 10 Meter von mir entfernen wird es dir schlecht ergehen" erklärte er ihr gönnerhaft.
Mühsam erhob sich Yi Min. Sie sagte kein Wort. Starrte ihn nur wütend an.
Sie hat etwas herrlich wildes an sich, dachte Lucius. Es wird bestimmt Spaß machen ihren Willen zu brechen.
Doch dann tat sie etwas unvorhersehbares. Zumindest für Lucius. Es kam nicht oft vor, dass jemand es wagte und die Hand gegen ihn erhob.
Doch diese Wildkatze wagte es. Eine blitzschnelle Bewegung und seine linke Wange zierten vier tiefe blutende Kratzer. Er verzog kurz das Gesicht und tastete nach den schmerzenden Schrammen.
„Du Wildfang, das wirst du mir büßen" knurrte er.
Er wollte sie packen und ihr gleich ein wenig Gehorsam beibringen doch sie entwand sich ihm mit einer schnellen Drehung.
Ein mörderischer Blick ihrer grünen Augen traf ihn, dann flogen ihre Haare durch die Luft als sie herumwirbelte und über die Auffahrt zu entkommen versuchte.
Doch je größer die Distanz zwischen ihnen wurde, desto langsamer wurde sie. Als sie knapp 10 Meter von Lucius entfernt war brach sie schmerzgepeinigt zusammen und krümmte sich.
Zufrieden beobachtete er ihre Pein. Er hatte sie gewarnt. Wenn sie nicht hören wollte, dann musste sie es eben so lernen.
Er überließ sie noch einen Augenblick ganz dem verheerenden Schmerz, der mit dem Bannzauber einherging. Zu leicht wollte er es ihr schließlich nicht machen.
Sie sollte spüren, wer hier der Herr und Meister war und das Sagen hatte.
Dann trat er langsam auf sie zu.
Als er bei ihr angekommen war, konnte sie schon wieder einigermaßen Luft holen ohne vor Schmerzen zu wimmern.
„Ich hatte dich gewarnt" bemerkte er kühl.
Sie antwortete nicht sondern sah ihn nur durchdringend an. Jede Faser ihres Körpers strahlte Verachtung für ihn aus.
„Nun komm schon. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit" knurrte er und riss sie unsanft hoch.
Sein stahlharter Griff um ihr Handgelenk zwang sie, hinter ihm zurück ins Haus zu stolpern.
„Lass mich los" fauchte sie und zerrte an seiner Umklammerung aber er lachte nur.
Wenn sie ihre Kräfte hätte einsetzten können wäre es ihr ein Leichtes gewesen, sich seinem Griff zu entwinden. Doch das war nicht möglich ohne sich zu verraten. Ihr blieb nichts anderes übrig als mitzukommen.
Er zerrte sie zurück ins Haus, mehrere Treppen hinunter in die Gewölbe unter dem Haus.
Ihr Weg führte sie durch einen nur spärlich beleuchteten, feuchtkalten Gang bis zu einer eisernen Tür am Ende des Korridors.
Lucius versetzte Yi Min einen Stoß, dass sie in den Raum hineintaumelte, dann folgte er ihr und verschloss die Tür hinter sich. Gegen die Tür gelehnt sah er sie an, begierig darauf herauszufinden, wie sie sein kleines Vergnügungsparadies aufnehmen würde.
Trotz des schwachen Lichts, das nicht alle Ecken des Raums ausleuchten konnte hatte Yi Min genug gesehen, dass ihr Blut in ihren Adern gefror.
Das konnte tatsächlich sehr ungemütlich für sie werden.
Die Einrichtung des Raums hätte das Herz des Marquis de Sade höher schlagen lassen. Es war alles da. Streckbank, dicke Balken mit Ketten oder wahlweise Hand- und Fußfesseln daran, Peitschen, Stricke, Knebel in unterschiedlichster Ausführung, Nadeln, Messer, Zangen, eine Vielzahl kleiner Glasflaschen mit wer weis welchen Flüssigkeiten darin.
Sie seufzte.
Es würde sie sehr viel Kraft und Selbstbeherrschung kosten, das alles zu überstehen.
Ihre schlimmsten Befürchtungen waren bittere Wahrheit geworden. Jetzt konnte ihr niemand mehr helfen. Sie war verdammt.
To be continued...
