Kapitel 6
Als Yi Min am ersten Tag nach dem erduldeten Martyrium endlich in ihrem Zimmer allein war, brach sie auf dem Boden zusammen und weinte erst einmal.
Nachdem der Tränenfluss etwas versiegt und sie wieder klarere Gedanken fassen konnte, überlegte sie, was zu tun war.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht betrachtete sie die geschundene Haut auf ihren Armen.
Er würde sie morgen wieder holen und hinunter in seine Kammer des Schreckens bringen.
Und übermorgen.
Und an allen weiteren Tagen.
Daran bestand kein Zweifel. Dafür schien es ihm viel zu viel Freude zu bereiten.
Eckel verzerrte ihren Mund.
Was für ein grausamer, niederträchtiger und perverser Evgrin.
Weidete sich an der Hilflosigkeit und den Schmerzen anderer.
Eines Tages würde ihn dafür die gerechte Strafe ereilen.
Die Gedanken machten Yi Min wütend.
Wütend auf ihn.
Wütend auf sich selbst.
Auf ihre eigene Hilflosigkeit.
Wenn sie doch nur ihre Kräfte gebrauchen dürfte. Sie würde ihm zeigen, wie schön es war, gefoltert zu werden.
Der Gedanke erschreckte sie dann doch etwas.
Im Wesen ihres Volks gab es keine Niedertracht und kein Verlangen, anderen Lebewesen zum Spaß Schaden zuzufügen.
Die Tashga'ahana setzen ihre Kräfte normalerweise nur dazu ein, um Dinge wachsen und gedeihen zu lassen und nicht um zu zerstören.
In Yi Mins Wesen war dies jedoch nicht so stark verwurzelt wie bei anderen.
Sie quälte zwar niemanden und nichts, aber sie war für eine Tashgan von doch recht ungewöhnlich impulsivem Wesen und immer bereit dazu, ihre Meinung oder Ihre Haut notfalls auch mit Gewalt zu verteidigen. Und das geschah leider hin und wieder. Yi Min war etwas zu leicht reizbar.
Das machte sie bei ihrem Volk zum Außenseiter.
Sie hatte ihre destruktiven Gefühle normalerweise recht gut unter Kontrolle.
Aber dieser Evgrin lockte ihre dunkelsten Instinkte hervor.
Es gab leider keine Möglichkeit, sich gegen ihren Peiniger zur Wehr zu setzen. Nicht mit den ihr hier zur Verfügung stehenden Mitteln. Und ihre Tashgan-Kräfte durfte sie nicht benutzen. Das hätte fatale Folgen gehabt.
Sie saß auch jetzt schon für mindestens 6 Monate hier in dieser Dimension fest, denn sie hatte das notwendige Ritual am Portal ja nicht in der vorgeschriebenen Zeit durchführen können.
Auch das hatte sie Lucius' Niedertracht zu verdanken.
Sie beschloss, ihm, egal was er mit ihr anstellte, wenigstens nicht die Genugtuung eines Schreis oder der Bitte um Gnade zu geben.
Dafür war sie einfach zu stolz und auch zu eigensinnig.
Um diesen Plan jedoch in die Tat umsetzen zu können, musste sie körperlich unversehrt sein.
Oder besser gesagt: es wieder werden.
Die Brandblasen schmerzten höllisch. Vorhin im Verließ hatte sie ihren Verstand gegen das Schmerzempfinden abschirmen können. Das war recht einfach und jeder Tashga'ahana war dazu fähig, seinen Geist hinter eine alles ausschließende Barriere zurückzuziehen. Dieser Zustand ließ sich jedoch nur eine gewisse Zeit aufrecht erhalten denn er kostete Kraft und erforderte eine gewaltige mentale Disziplin.
Und mit der Disziplin haperte es ja bekanntlich etwas bei ihr.
Sie musste also etwas gegen ihre Verletzungen unternehmen. Sie glaubte keine Sekunde daran, dass Lucius den Schaden, den er heute angerichtet hatte, wieder beheben würde, wie er das gestern Nacht mit ihrer Rippe gemacht hatte.
Also musste sie sich selbst helfen.
Das ging allerdings nicht ohne einen Teil ihrer Kräfte einzusetzen zu müssen.
„Zum Ashai, ich bin jetzt schon verdammt. Also kann ich genauso gut auch gegen die anderen Regeln des Vohpa'e'e verstoßen." rief sie erstickt.
Gesagt, getan.
Mühsam und unter Schmerzen kam sie wieder auf die Beine. Sie sah sich kurz um, dann ging sie zu einem der beiden Fenster und öffnete es.
Dicht am Haus stand eine alte Eiche, die ihr erstes Frühlingsgewand trug. Einer der ausladenden Zweige reichte bis fast an das Fenster heran.
Sie presste sich an die Gitter und streckte ihren Arm so weit es ging nach draußen.
Schade, dass es keine Buche war.
Eine Buche wäre nützlicher für sie gewesen.
Die Buche war ihr Lebensbaum.
Die Lebenskraft eines jeden Tashga'ahana war mit einem Baum oder auch größeren Busch verbunden.
Yi Mins war die Buche mit ihrem dunkel-silbernen Stamm und den gefalteten hellgrünen Blättern.
Doch es war kein Buchenbaum in Reichweite.
Also musste ein Eichenblatt genügen.
Nachdem sie sich mit ein paar Worten in Elfensprache bei der Eiche für ihre Gabe bedankt hatte, schloss Yi Min das Fenster wieder und ging in die Mitte des Raums.
Dort setzte sie sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden.
Sie hob die Hände, drückte die Handflächen gerade aneinander. Die Fingerspitzen zeigten nach oben. Das Eichenblatt lag zwischen ihren Handflächen.
Nachdem sie ein paar Mal tief eingeatmet hatte, begann sie, ihre Kräfte im Innern zu sammeln. Sie schloss die Augen und murmelte die erforderlichen rituellen Verse leise vor sich hin.
Ihre Hände begannen schwach von innen heraus zu glühen.
Das Glühen breitete sich aus, zog sich ihre Arme hoch, über Kopf und Körper bis hinunter zu den Zehenspitzen.
Unablässig flüsterte sie dabei die elfischen Verse.
Die blutigen Striemen und die Brandblasen verblassten, die Wunden schlossen sich. Langsam verebbte das milchige Glühen wieder.
Sie öffnete die Augen und seufzte.
Die Schmerzen waren verschwunden.
Schon fühlte sie sich viel besser.
Als sich ihre Hände wieder voneinander lösten war das Eichenblatt verschwunden. Aufgelöst zu einem winzigen Häufchen Asche.
Als Lucius sie am darauf folgenden Nachmittag wieder holen wollte, um sein zerstörerisches Werk fortzusetzen, hatte er sehr überrascht ausgesehen und sich bestimmt gefragt, wie ihre Wunden offenbar über Nacht völlig verheilt sein konnten.
Aber das ging ihn ganz und gar nichts an, dachte Yi Min grimmig.
Teilnahmslos hatte sie sich nach unten in das Verließ bringen lassen.
Aber innerlich brodelte in ihr der Zorn.
Als er ihre Hände an den Balken gefesselt hatte, war er höhnisch grinsend und recht nah vor ihr stehen geblieben.
Seine widerwärtige Selbstüberschätzung war einfach zum Davonlaufen.
Er nahm doch tatsächlich an, er hätte ihren Willen bereits gebrochen.
Sie kochte vor Wut.
Ihre Kräfte konnte sie zwar nicht gegen ihn einsetzen aber es gab schließlich auch noch andere Mittel und Wege.
Und er hatte es versäumt, ihre Füße an den Kreuzbalken zu fesseln.
Ein perfekter Moment, um sich ein wenig an ihm zu rächen.
Doch leider musste ihn irgendetwas in ihren Augen gewarnt haben.
Und so glitt der gut gezielte Tritt nach seinen Kronjuwelen leider nur an seinem Oberschenkel ab.
Das tat zwar auch weh aber lange nicht so sehr wie wenn ihr schwerer Stiefel sein Ziel getroffen hätte.
Sie verfluchte sich dafür, dass sie ihren Gesichtsausdruck nicht besser unter Kontrolle gehabt und damit eine einmalige Chance, auch ihm einmal Schmerzen zuzufügen, vertan hatte.
Jetzt war er wütend.
Und er ließ sie für ihren Angriff einen bitteren Preis bezahlen.
Er hatte sie diesmal zurück in ihr Zimmer tragen müssen, denn sie hatte keinen Schritt mehr tun können.
In dieser Nacht brauchte sie zwei Eichenblätter um sich selbst zu heilen.
To be continued...
