Kapitel 8

Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich schon fast wieder ganz hergestellt.

Gähnend räkelte sie sich noch ein wenig in den Laken, unschlüssig, ob sie schon aufstehen wollte.

Sie tat es dann doch, machte sich etwas frisch, zog sich an und verließ das Zimmer.

Unschlüssig ging sie nach unten.

Wohin wollte sie eigentlich? Und was machte sie hier?

Irgend etwas zog sie in den linken Flügel des Gebäudes und sie kam zu einer nur angelehnten Tür.

Vorsichtig drückte sie die Türe ein bisschen weiter auf und spähte in den dahinter liegenden Raum. Es war offenbar das Esszimmer denn in der Mitte stand ein langer Eichenholztisch und daran saß Lucius und frühstückte.

Als er sie in der Tür stehen sah, lächelte er freudig und bat sie, ihm Gesellschaft zu leisten.

Etwas zögernd trat sie näher.

„Hast du Hunger? Bitte bediene dich. Es ist alles da" forderte er sie mit einer einladenden Handbewegung auf.

Hinter ihm auf der Anrichte waren die unterschiedlichsten Speisen aufgebaut.

Unschlüssig betrachtete Yi Min die Auswahl.

Dann entschied sie sich für einige Früchte aus dem großen Obstkorb, nahm ihren Teller und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.

Lucius betrachte skeptisch ihren Teller.

„Das ist alles? Mehr möchtest du nicht essen?" fragte er ehrlich besorgt.

„Es ist ausreichend. Danke" erwiderte sie.

„Etwas Tee?" fragte er und griff nach der silbernen Teekanne.

„Tee? Was ist das?" fragte sie vorsichtig.

Überrascht hielt er in der Bewegung inne. Sie wusste nicht was Tee ist? Sehr seltsam. Jedes Kind wusste das doch.

„Versuch es. Er ist gut" forderte er sie auf und goss etwas von dem vorzüglichen Broken Orange Pekoe in ihre Tasse, die neben dem Teller stand.

Misstrauisch beäugte sie die goldbraune, dampfende Flüssigkeit.

„Woraus ist er gemacht?" fragte sie.

Er erklärte es ihr. Immer noch erstaunt über ihr Unwissen.

„Ach, dann ist es gut" erwiderte sie und entspannte sich wieder.

Dann nahm sie die Tasse hoch und nippte vorsichtig daran.

„Mm, das schmeckt wirklich gut" rief sie überrascht und nahm noch einen Schluck.

Lucius musste lächeln.

Er hatte noch niemals jemanden gesehen, der keinen Tee kannte und sich dann derart dafür begeistern konnte.

Tee war für Yi Min tatsächlich eine eigenartige, neue Erfahrung. In ihrer Welt gab es so etwas nicht.

Und sie hätte niemals geglaubt, dass man aus den Blättern eines Buschs ein so wohlschmeckendes Getränk herstellen konnte.

Sie konnte die allen Pflanzen innewohnende grüne Kraft in diesem Tee leider nicht mehr spüren, doch das lag vermutlich daran, wie Tee hergestellt wurde.

Aber es war noch immer ein belebendes Getränk.

Und sie freute sich wie ein Kind darüber.

Gerne nahm sie noch eine zweite und eine dritte Tasse an.

Während Lucius sein Frühstück verspeiste, wunderte er sich nochmals über die eigenartigen Essgewohnheiten seines Gastes.

Und dann erinnerte er sich an das, was Martha ihm darüber erzählt hatte. In den ganzen Tagen ihrer Gefangenschaft hatte Yi Min offenbar nie Essen angerührt, dass von Tieren stammte. Kein Fleisch, keine Milchprodukte, keine Eier. Und auch keinen Alkohol. Sie ernährte sich offenbar ausschließlich von pflanzlicher Nahrung und rührte nichts anderes als Wasser an.

Das war an sich nichts ungewöhnliches. Es gab unter Magiern wie auch unter Muggeln viele, die den Verzehr tierischer Produkte aus den unterschiedlichsten Beweggründen ablehnten.

Dass sein Gast allerdings keine Ahnung hatte, was Tee war, war dann doch ungewöhnlich.

Und wieder regte sich seine bohrende Neugier.

Was war sie wohl?

Er musste es unbedingt herausfinden.

Doch er hatte ihr sein Wort gegeben, nicht wieder die Hand gegen sie zu erheben.

Für den Augenblick gedachte er auch, sein Wort zu halten.

Aber das konnte sich auch wieder ändern.

Lucius fühlte sich Versprechen, die er Nichtmagiern gegeben hatte, nicht unbedingt immer verpflichtet.

Nach dem Frühstück, führte er sie etwas herum, zeigte ihr unter Anderem auch den Garten. Der Tag war ideal dazu. Es war sonnig und es wehte eine leichte Brise.

Der Garten befand sich hinter dem Haupthaus. Es war ein normaler englischer Garten. Gras, ein paar Kieswege. Nicht zu viele Blumen und anderes Zierwerk, dafür eine Menge Bäume von unterschiedlichster Größe und Art.

Sie lebte förmlich auf, als sie den Garten betraten. Sie trat zu jeden Baum, den sie auf ihrem Spaziergang passierten, und legte kurz ihre Handflächen auf die Rinde. Dabei sah sie lächelnd am Stamm hinauf in die Blätterkrone.

Es schien fast so, als würde sie alte Freunde begrüßen.

Ihr Verhalten erschien ihm sehr merkwürdig und verstärkte nochmals seine Neugier, herauszufinden was sie war.

Die Luft und die Natur hatten sie offenbar etwas übermütig gemacht. Mit einem Jauchzen lief sie auf den Rasen hinaus und zu einer schmalen noch jungen Buche. Als sie dort angelangt war umarmte sie den Baum.

Doch dann stieß sie einen Schmerzenslaut aus.

Sie hatte sich zu weit von Lucius entfernt und der Bannzauber lag noch immer auf ihr.

Seufzend ging Lucius ihr über den Rasen nach.

„Der Bannzauber liegt noch immer über dir meine Liebe" erklärte er ihr, als er sie erreicht hatte.

„Dann nimm ihn fort. Du hast mir dein Wort gegeben, nicht mehr die Hand gegen mich zu erheben" forderte sie ihn auf.

„Nein das werde ich nicht tun. Der Bannzauber ist nicht Teil meines Versprechens".

„Warum willst du mich nicht gehen lassen?" fragte sie etwas ärgerlich.

„Warum willst du unbedingt gehen?" fragte er zurück.

„Ich..weil..." stotterte sie. Sie konnte ihm nicht sagen, warum sie gehen wollte denn sonst hätte sie ihm von dem Portal und von allem anderen erzählen müssen. Sie wusste, dass er sich mit keiner anderen Antwort würde abspeisen lassen.

„Ja was?" hakte er nach.

„Es ist nichts."

Mit diesen Worten warf sie der Buche noch einmal einen sehnsüchtigen Blick zu, wandte sich um und wollte zum Haus zurücklaufen.

Er ließ sie ein paar Schritte vorgehen.

Betrachtete ihre anmutigen Bewegungen. Ihr langes schwarzes Haar, das sich offen über ihren Rücken ergoss.

Und mit einem Mal überkam ihn wieder die Begierde.

Mit schnellen Schritten hatte er sie erreicht, umfasste ihre Taille und zog sie an sich. Dabei drückte er ihr die Arme fest an den Körper dass sie sich nicht rühren konnte. So stand sie bewegungslos mit dem Rücken zu ihm.

Sie war etwa einen halben Kopf kleiner als er.

Mit der freien Hand strich Lucius ihr die Haare aus dem Nacken und zwang ihren Kopf leicht zur Seite.

Das Kleid war etwas verrutscht und entblößte halb ihre Schulter. Lucius senkte den Kopf und berührte mit seinen Lippen die Haut oberhalb ihres Schlüsselbeins. Dann ließ er seine Zungenspitze hinauf über ihren Hals bis zu ihrem Ohr gleiten.

Sie schmeckte sehr gut. Ihre Haut duftete nach Orangenblüten. Das irritierte ihn etwas denn zu dieser Jahreszeit gab es in ganz England keine blühenden Orangenbäume und auch im Haus war nirgends etwas zu finden, dass für diesen Duft verantwortlich war.

„Ich kann dich jederzeit nehmen, weist du. Dir meinen Willen aufzwingen" flüsterte er rau in ihr Ohr.

„Ja das kannst du" erwiderte sie und ihre Stimme war kalt wie Stahl.

„Tu es doch. Ich habe keine Angst vor dir" forderte sie ihn heraus.

Einen Augenblick lang war er versucht, genau das zu tun.

Doch dann hielt er inne.

Es würde ihm Vergnügen bereiten, sie hier und jetzt zu nehmen. Doch es wäre nur ein schaler Abklatsch der Ekstase, die er verspüren würde, wenn sie sich ihm freiwillig hingab, davon war er überzeugt.

Noch einmal küsste er ihren Hals und strich mit den Fingern über das seidige schwarze Haar.

„Ich sollte dich beim Wort nehmen" flüsterte er.

Sie lag steif wie eine Marmorstatue in seinen Armen. Rührte sich nicht, sagte kein Wort. Aber alles an ihr lehnte ihn ab.

Das konnte er fühlen.

Mit leisem Bedauern löste er seinen Griff.

Doch er war sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Und der Tag würde kommen, da sie freiwillig zu ihm kam.

Sobald er sie losgelassen hatte, erwachte die Marmorstatue wieder zum leben. Sie wandte sich nicht um, sondern ging einfach weiter Richtung Haus als ob nichts geschehen wäre.

Nur das Tempo ihrer Schritte hatte sich beschleunigt.

Lucius folgte ihr und trat kurz nach ihr wieder in die Vorhalle des Hauses.

„Nein, komm mit mir" sagte er als sie die Treppen zu ihrem Zimmer hinaufsteigen wollte.

„Warum?" fragte sie enervierend.

„Ich will, dass du mir Gesellschaft leistest. Hier entlang. In mein Arbeitszimmer" erwiderte er und zeigte auf die Tür am Ende des linken Korridors.

„Wenn es unbedingt sein muss".

Mit gelangweiltem Blick folgte sie ihm in sein Arbeitszimmer und ließ sich auf einen der Sessel am Fenster fallen.

Sie würdigte ihn dabei keines Blickes.

„Gut dann reden wir eben nicht miteinander" bemerkte er als er ihr abweisendes Verhalten sah.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch.

Unerfreulicherweise hatte er noch einige das Ministerium betreffende Korrespondenz zu erledigen. Einiges davon musste dringend erledigt werden und er hatte es so lange vor sich hergeschoben, dass es jetzt so viel war, dass er es nicht an einem einzigen Tag erledigen konnte.

Mit einem Seufzen vertiefte er sich in seine Arbeit.

Doch nach einer Weile störte ihn ein kleines, nervtötendes Geräusch.

Unwillig sah er auf.

Yi Min saß lässig im Sessel. Ihre Beine baumelten locker über eine Sessellehne und sie beobachtete ihn.

Dabei trommelte sie mit den Fingern einer Hand immer wieder rhythmisch auf die Holzplatte des kleinen Beistelltischchens.

„Könntest du das bitte unterlassen?"

„Wie mein Gebieter wünscht" erwiderte sie gönnerhaft und zog ihre Hand zurück.

Lucius nahm seine Arbeit wieder auf.

Doch nach einer Weile begann das Geräusch wieder.

Er warf ihr einen wütenden Blick zu.

Belustigt zog sie eine Augenbraue in die Höhe und hörte mit dem Trommeln auf.

Er arbeitete wieder eine Zeitlang weiter.

Und das Getrommel begann von neuem.

So ging es eine Zeitlang hin und her. Seine Nerven wurden immer angespannter.

Bis ihm schließlich der Geduldsfaden riss und er mit der Faust auf den Schreibtisch donnerte.

„Schluss jetzt" brüllte er, sprang aus seinem Sessel auf, stürmte zu ihr hinüber und fegte den Tisch mit einem einzigen Schlag durch den Raum. Das Tischchen krachte gegen die Türfüllung und zerbrach.

„Du liebe Güte. Du behandelst deine Einrichtungsgegenstände ja nicht sehr gut" bemerkte sie süffisant grinsend.

Er kochte vor Wut. Er hätte ihr am liebsten gleich hier und jetzt den Hals umgedreht.

Doch dann begriff er, dass sie es genau darauf angelegt hatte, ihn zu reizen und ihm den letzten Nerv zu rauben.

Wenn er jetzt seiner Wut nachgab, sie schlug oder wieder in ihr Zimmer einschloss, dann hätte er das Spiel verloren.

Denn genau das war es, was sie hier mit ihm machte. Sie spielte ein Spiel.

Ein recht gefährliches zwar, denn Lucius war nicht gerade für seine große Geduld oder seine Nachsicht bekannt, doch ohne Zweifel ein Spiel.

Sie reizte ihn vorsätzlich, um ihm so ein klein wenig von seiner Niederträchtigkeit heimzuzahlen.

Wenn er jetzt seinem Zorn nachgab, dann hatte sie gewonnen und diesen Triumph wollte er ihr nicht überlassen.

Mühsam beherrsche er sich.

„Sei froh, dass es nur der Tisch war, der zu Bruch ging" zischte er.

Dabei packte er sie bei den Schultern und schüttelte sie leicht. Doch er hätte ihr nicht so nahe kommen sollen.

Ein gezielter Schlag und ein widerliches Knacken war zu hören. Sie hatte ihm mit einer blitzschnellen Kopfbewegung die Nase gebrochen.

Mit einem Schmerzenslaut wich Lucius zurück. Sofort rann Blut aus seiner gebrochenen Nase und färbte sein weißes Hemd rot.

Lucius keuchte, dann legte er seine flachen Hände gegen die Nasenflügel und richtete sie mit einem Ruck wieder gerade. Es tat höllisch weh. Diesmal konnte er sich nicht beherrschen und er stöhnte dabei schmerzerfüllt auf.

Als er sich mit einem Taschentuch einen Teil des Bluts aus dem Gesicht gewischt hatte, sah er Yi Min an.

Sie saß noch immer seelenruhig in ihrem Sessel und beobachtete ihn.

„So, jetzt sind wir quitt" meinte sie und in ihrer Stimme lag ein klein wenig Genugtuung.

Lucius wollte auffahren und sich rächen, doch dann hielt er sich zurück.

Der Nasenbruch schmerzte sehr.

Doch auch wenn er es nicht wollte, so musste er zugeben, dass er es verdient hatte. Es war nur ein Bruchteil dessen, was er ihr alles angetan hatte.

Und, dass ihr offenbar keinerlei Furcht vor ihm zu eigen war, das faszinierte ihn sehr. Er mochte keine schwachen Menschen.

Es war noch nicht sehr oft vorgekommen, dass sich ein Nicht-Magier Lucius' Respekt erworben hatte.

Doch dieses Mädchen hatte es in diesem Augenblick geschafft. Wenn auch auf eine etwas ungewöhnliche Weise.

„Geh in dein Zimmer" befahl er.

Langsam, mit katzenhaften Bewegungen erhob sie sich. Dabei ließ sie ihn keine Sekunde aus den Augen. Ihren Mund umspielte ein wissendes Lächeln.

„Sehr wohl Gebieter" und mit diesen Worten war sie verschwunden.

Mit dem gleichen Zauberspruch, er auch ihre Rippe geheilt hatte, heilte Lucius jetzt seinen Nasenbruch.

Diese Raubkatze war wirklich immer und immer wieder für eine Überraschung gut.

Seufzend nahm er seine Arbeit am Schreibtisch wieder auf.

To be continued...