Kapitel 10

Nur langsam und fast ein wenig widerwillig löste sich Lucius' Geist aus dem Traumreich und er erwachte. Seinen Mund umspielte ein Lächeln als er sich erinnerte, was in dieser Nacht vorgefallen war.

Immer noch mit geschlossenen Augen und zufrieden seufzend drehte er sich auf die Seite um Yi Min wieder in seine Arme zu ziehen.

Doch seine Hand glitt nur über leere Laken.

Er öffnete die Augen und fand das Bett neben sich verlassen.

Wo war sie?

Stirnrunzelnd setzte er sich auf und sein Blick glitt suchend umher. Erleichtert seufzte er auf als er sie an den großen Fensterflügeln des Schlafgemachs stehen sah. Sie hatte sich offenbar eines seiner Hemden aus dem Schrank geholt und sich übergezogen.

Es war ein weißes Hemd aus schwerer Seide, mit aufwendigen Spitzenmanschetten und auch Spitze am Kragen. Er hatte dieses Hemd eigentlich nie richtig gemocht. Es war ihm zu verspielt und er zog es eigentlich so gut wie nie an, weil er sich lächerlich darin vorkam. Als er sie jetzt darin sah, musste er zugeben, dass es hervorragend zu ihr passte. Es umschmeichelte ihren grazilen Körper wie eine watteweiche Wolke.

Leise stand er auf und ging zu ihr.

Ihre Hände um den Körper geschlungen stand sie da und blickte hinaus in den Garten.

Sanft legte er seine Arme um sie und hauchte einen Kuss auf ihr Haar.

„Guten Morgen" sagte er leise.

Es schien, als würde sie aus einem Traum erwachen. Die Entrücktheit verschwand aus ihren Augen und sie drehte den Kopf um ihn anzusehen.

„Guten Morgen" erwiderte sie und ihre Stimme war so leise, dass es wie ein Wispern klang.

„Ich würde so gerne hinunter in den Garten gehen" sagte sie.

Lucius warf einen Blick aus dem Fenster.

„Aber es regnet doch" erwiderte er.

„Genau deswegen möchte ich ja hinaus".

„Aber das ist absurd. Du wirst klitschnass".

„Das macht mir nichts. Bitte Lucius, lass mich gehen" bat sie ihn leise. Ihr Blick war flehentlich nach draußen gerichtet.

Ihre Bitte rührte ihn.

Warum sollte er es ihr nicht erlauben? Was war schon weiter dabei, sie in den Garten hinunter gehen zu lassen?

Lucius verspürte jedoch keine große Lust sie zu begleiten. Er mochte keinen Regen und verabscheute es zutiefst, nass zu werden.

Also musste er sie wohl allein gehen lassen. Aber dazu musste er den Bannzauber aufheben, mit dem er sie belegt hatte.

Das war ein Risiko.

Wenn er den Zauber löste dann bestand die Gefahr, dass sie ihm entfloh.

Eine innere Stimme sagte ihm, dass sie das nicht tun würde. Er war sich nicht darüber im Klaren, warum er sich dabei so sicher war.

Doch er beschloss, das Risiko einzugehen. Die Nacht hatte ihn in sanfte und mildtätige Stimmung versetzt.

Er hob eine Hand und flüsterte den Zauberspruch, der den Bann von ihr nahm.

Blaues Licht leuchtete einmal an ihrem Hals auf und verschwand dann.

Sie bemerkte es und jauchzte entzückt.

Sie drehte sich zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn.

„Danke, vielen Dank" rief sie glücklich, löste sich von ihm und rannte auch schon aus dem Zimmer.

Schmunzelnd schüttelte Lucius den Kopf. Dieses Mädchen war absolut unberechenbar. Sie hatte große Stärke in sich, war wild und ungestüm, hatte ihn gekratzt, ihn fast entmannt und dann auch noch die Nase gebrochen. Ihre mentalen Fähigkeiten waren enorm, denn sonst hätte sie sich nicht immer wieder gegen die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte, abschirmen können. Letzte Nacht war sie wie ein brodelnder Vulkan gewesen. Ihre hitzige Leidenschaft hatte ihm beinahe die Haut versengt und ein ums andere Mal mitgerissen.

Und dann kam sie ihm wieder wie ein unschuldiges Kind vor. Ihre Unwissenheit, was manche höchst alltägliche Dinge betraf und ihre kindliche Freude an den Bäumen in seinem Garten.

Sie war wirklich ein höchst ungewöhnliches Wesen und es machte ihm Freude, mit ihr zusammen zu sein.

Nachdem er sich im Bad etwas erfrischt und danach frische Kleidung angezogen hatte, trat er an die Fensterflügel seines Schlafgemachs und halb auf den Balkon hinaus.

Er musste sich eingestehen, dass er doch etwas neugierig war, was sie bei diesem Regenwetter draußen so trieb.

Er musste nicht lange nach ihr Ausschau halten.

Sie tanzte ausgelassen durch das Gras, dass sie Regentropfen auf den Halmen nur so aufspritzten.

Sie hatte die Arme ausgebreitet, ihr Gesicht dem Himmel entgegen gehoben, lachte laut und genoss die Regentropfen, die auf ihr Gesicht fielen.

Sie wirbelte herum und Lucius konnte ihre unbändige Lebensfreude beinahe spüren.

Einfach bezaubernd.

Er lächelte, ging wieder hinein, schickte nach einem Dienstmädchen und ließ sich Frühstück für zwei auf sein Schlafzimmer bringen. Aus einer Laune heraus hatte er beschlossen, heute im Bett zu frühstücken. Das hatte er schon viel zu lange nicht mehr gemacht.

Während der darauf wartete, dass Yi Min wieder zurück ins Haus kommen würde, hing er seinen Gedanken nach.

Die Lebenskraft leuchtete aus diesem Mädchen heraus als würde sie in Flammen stehen. Sie strahlte sie nach außen ab, als sie so durch das Gras tanzte. Eigentlich musste dadurch alles um sie herum wachsen und gedeihen. Keine lebende Materie mochte sich dieser Energie entziehen.

Etwas wehmütig wurde ihm bewusst, dass sein Leben bis jetzt eher auf das Gegenteil ausgerichtet war. Er hatte nur Tod und Zerstörung über andere gebracht. Auch war er noch nie fähig gewesen, etwas oder jemanden zu lieben.

Um sein Herz hatte sich im Lauf der Jahre ein harter, undurchdringlicher Eispanzer gelegt. Das war ihm bis jetzt eigentlich immer ganz recht gewesen. Rührseligkeit und Gefühlsduselei waren sein Ding nicht.

Was war nur mit ihm los, dass er auf einmal sein ganzes bisheriges Leben in Frage stellte?

Es hatte natürlich mit ihr zu tun.

Lucius hatte ihre unbändige Stärke und Lebenskraft vergangene Nacht kosten dürfen. Sie zu lieben war so als würde man vom Elixier des Lebens selbst trinken.

Es hatte etwas elementares an sich.

Und obwohl sie sich stundenlang geliebt hatten, war er heute morgen keineswegs erschöpft sondern fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr.

Ganz in seine Gedanken versunken lag er lässig auf dem Bett.

Er bemerkte nicht, wie die Türe geöffnet wurde und Yi Min wieder ins Zimmer schlüpfte. Erst als sie neben ihm vor dem Bett stand, bemerkte er sie.

Bei ihrem Anblick musste er lachen.

Ihr nasses Haar hing ihr wirr um den Kopf, das weiße Hemd klebte auf ihrer Haut.

An ihren nassen Beinen klebten Grashalme und Blätter und ihre Füße hatten Grasflecken grün gefärbt. So musste ein Waldschrat aussehen. Allerdings ein sehr hübscher Waldschrat.

„Das hast du jetzt davon. Du bist klatschnass" erklärte er lachend.

„Das war es wert" erwiderte sie und in ihren Augen leuchtete die Freude.

„Komm schon, lass uns dich abtrocknen sonst bekommst du noch eine Erkältung" erklärte er und stand auf.

„Keine Bange. Ich bin nicht aus Zucker" erklärte sie, folgte ihm dann aber doch ins Bad.

Da war sich Lucius nicht so sicher. Er grinste schelmisch und dachte daran, dass ihre Haut so süß schmeckte, dass man gar nicht genug davon bekommen konnte.

Nachdem die Grasflecken beseitigt waren, half er ihr, sich abzutrocknen. Mit einem Handtuch versuchte er, einen Teil der Nässe aus ihren Haaren zu bekommen.

Zärtlich strich er ihr ein paar Strähnen zur Seite und küsste ihren Nacken. Ihre Haut duftete noch immer nach Orangenblüten und auch ihr Haar hatte den selben Duft.

Die Nässe des Regens hatte es sogar noch intensiviert. Lucius kam es vor, als stünde er in einem riesigen blühenden Orangenhain.

Der Duft war betörend.

Die Natur ist gut zu dir mein Mädchen. Du bist ein Teil von ihr, dachte er.

Er wusste nicht, wie nahe er damit ihrem Geheimnis gekommen war.

Nachdem sie wieder einigermaßen trocken war, legten sie sich auf das Bett und teilten sich Speisen und Tee.

Es machte Lucius Spaß sie mit allerlei Fruchtstücken zu füttern. Es wurde ihm bewusst dass er sich dabei wie ein verliebter Teenager aufführte. Doch es war ihm egal. Fasziniert beobachtete der diese roten Lippen, zwischen denen ein um das andere Fruchtstück verschwand.

Er nahm ein Stück Ananas und hielt es ihr hin. Dabei lief etwas von dem Fruchtsaft an seinen Fingern hinunter. Vorsichtig hatte sie ihm das Fruchtstück mit ihren Zähnen abgenommen. Er wollte seine Hand zurückziehen doch sie griff sanft nach seinem Arm und zog seine Hand zu sich.

Ihre kleine rosa Zunge begann, den Ananassaft von seinen Fingern zu lecken. Dabei ließ sie ihn keine Sekunde aus den Augen.

Einer seiner Finger verschwand zwischen ihren Lippen und sie saugte sanft daran.

Lucius stöhnte auf und spürte, wie das Blut in seine Lenden schoss.

Dieses Geschöpf wusste nur zu gut, wie man einem Mann den Kopf verdrehen konnte.

Er entzog ihr sacht seine Hand, ergriff das Tablett, das zwischen ihnen auf dem Bett stand und schaffte es beiseite.

Dann zog er sie in seine Arme und sie liebten sich langsam und zärtlich.

Danach lagen sie eng aneinander gekuschelt da.

„Post coitum omne animalium triste est" flüsterte sie schalkhaft.

„Wie kommst du den darauf?" fragte er erstaunt. Natürlich konnte er genug Latein, um zu verstehen was sie gesagt hatte. nach dem Beischlaf ist jedes Tier bedrückt bedeuteten die Worte. Er hatte nur nicht geahnt dass auch Yi Min Latein konnte.

„Und warum nennst du mich ein Tier?" fragte er.

Sie lachte leise.

„Ich denke, diese Frage kannst du dir selbst beantworten" erwiderte sie und zwickte ihn in die Seite.

Er lachte. Natürlich wusste er es. Es war natürlich eine Anspielung auf seinen Raubtierhaften Hunger nach ihr.

„Du hast gerade etwas bedrückt ausgesehen" erklärte sie.

„Was ist mit dir?".

„Ach, eigentlich nichts." erwiderte er.

„Komm schon. Erzähl es mir. Oder ist es ein Geheimnis?"

„Nein, es ist kein Geheimnis. Ich habe in drei Tagen Geburtstag und muss eine große Abendgesellschaft hier geben" erklärte er ihr.

„Oh du hast Geburtstag? Das ist doch etwas Erfreuliches, oder?"

„Eigentlich schon. Ich befürchte nur, es wird einige Komplikationen geben. Die Party ist seit Monaten geplant aber jetzt habe ich gar keine Lust mehr darauf, einen Haufen Leute hier im Haus zu haben. Und natürlich wird auch mein Sohn für das Wochenende hier herkommen."

Yi Min erinnerte sich schwach an Lucius Sohn. Sie hatte ihn nur einmal ganz kurz gesehen. Er hatte hasserfüllt um eine Ecke gespäht in der Nacht, als Martha sie auf ihr Zimmer brachte. Ein eingebildeter, hochnäsiger Jüngling. Dass es Lucius' Sohn gewesen war, den sie gesehen hatte, daran bestand kein Zweifel. Vater und Sohn verfügten über die gleiche silberweiße Haarfarbe. Und wenn sie schon bei einem Mann in Lucius' Alter ungewöhnlich war, so war sie an einem Teenager ziemlich selten.

„Ich verstehe. Dann willst du sicher, dass ich mich am Abend der Party nicht sehen lasse und auch für die Zeit, in der dein Sohn hier ist, unsichtbar bleibe".

„Nein, nein ich möchte, dass du mit mir zur Party kommst". Er meinte es ehrlich und das überraschte ihn ein wenig. Sich mit ihr auf der Party zu zeigen war für seinen Ruf nicht ganz ungefährlich. Und seine Zaubererfreunde würden sich sicherlich die Mäuler darüber zerreißen.

Aber es scherte ihn wenig. Er wollte sie unbedingt dabei haben. Lucius nahm sich vor, gleich nachher James in die Stadt zu schicken, um ein Abendkleid und passende Schuhe für Yi Min zu besorgen.

„Oh, ich fühle mich geehrt über die Einladung. Bist du wirklich sicher, dass ich dabei sein soll?" fragte sie etwas skeptisch.

Sie war sich nämlich keineswegs so sicher, dass sie an diesem Abend unbedingt dabei sein wollte. Sich in der Gegenwart von so vielen Zauberern zu befinden versprach keine angenehme Sache zu werden. Und darüber hinaus würde es wohl auch ein recht langweiliger Abend für sie werden, denn sie glaubte nicht, dass unter Lucius' Freunden und Bekannten viele waren, mit denen sich Yi Min nett unterhalten konnte und wollte. Schließlich wusste sie, was für ein Mensch Lucius war. Sie hatte seine Niederträchtigkeit ja am eigenen Leib erfahren. Und sie glaubte, dass Leute, die ihn Freund nannten, bestimmt ebenso niederträchtig waren wie er.

„Dann ist es also beschlossen. Du begleitest mich" fragte er.

„Ja. Geht in Ordnung" erwiderte sie immer noch leicht unsicher.

„Gut".

To be continued...