Gedankenverloren beobachtete Mia ihre kleine Tochter dabei wie sie an dem Ohr ihres Stofftieraffen nuckelte, den ihr ihr Vater direkt nach der Geburt geschenkt hatte.
Die kleine Rose lag auf einer Decke im Kinderlaufstall, der für ihr derzeitiges Alter eigentlich noch gänzlich überflüssig war.
Hin und wieder gab das kleine Mädchen quietschende Geräusche von sich – sich der inneren Qual ihrer Mutter nicht bewusst.
Alles wirkte fremdartig und sie vermisste Ethan.
Die Familie Winters war nach dem Vorfall in Rumänien erneut unter dem Zeugenschutzprogramm der BSAA – oder vielmehr von Chris Redfield- zurück in die Vereinigten Staaten umgesiedelt worden.
Das kleine Haus unterschied sich nicht nur in der Größe und Lage von dem Alten, sondern auch von dem Aufbau. Der kleine Vorgarten war mit Liebe gestaltet worden, auch wenn zu dieser Jahreszeit natürlich nichts bunt blühte.
Wenn man durch die Haustür kam gab es auf der linken Seite ein offenes Wohnzimmer und rechts die Treppe in den ersten Stock. Der Gang geradeaus führte in die Küche und angrenzend in die Garage.
In der oberen Etage gab es ein großes Badezimmer, zwei Schlafzimmer und einen offenen Bereich, wo sich derzeitig noch einige Umzugskisten stapelten.
Trotz der sentimentalen Erinnerungen und dem Schmerz den diese mit sich brachten war Mia nicht in der Lage die Habseligkeiten aus dem alten Haus wegzuwerfen oder zu ersetzen, auch wenn Chris und die Anderen es ihr geraten haben um mit dem Vorfall abzuschließen.
So stand Rosemary's selbstgebaute Wiege wieder in ihrem Schlafzimmer – ein wunderschönes aber schmerzliches Andenken an Ethan, der sie selbst gebaut hatte.
Wie sollte sie denn loslassen und weitermachen, wenn all das erst wenige Wochen zurücklag und niemand ihr wirklich erklären wollte was in dem Dorf vorgefallen war.
Hatte sie kein Recht darauf zu erfahren wieso ihr Ehemann nicht mit Rose zusammen zurückgekehrt war, sondern Chris ihr kleines Mädchen in den Helikopter trug?
Ethan, so hatte Mia es ihm schließlich im Gewölbe von Mirandas Labor gesagt, ist – war – besonders. Nur deshalb hatte Chris noch einmal nach ihm gesucht um ihn aus dem Dorf zu bergen, aber der Soldat war nur mit Rose zurückgekehrt.
Natürlich war sie erleichtert ihr Mädchen gesund und munter wieder in den Armen halten zu können.
Nichts davon war spurlos an ihr oder Rose vorbeigegangen. Rose weinte viel seit Ethans … Abwesenheit. Sie war es gewohnt von ihm gehalten und gefüttert zu werden. Oft sang er ihr ein Gute-Nacht-Lied an der Wiege.
Mias Psychiater pflegte zu sagen: Es gibt fünf Etappen der Trauer.
Phase 1: Nicht-Wahrhaben-Wollen. Es passierte alles so schnell, dass die erste Phase dieses mentalen Ablaufs nahezu schlagartig vorüber zog. Auf ihr Drängen hin hatte Chris ihr gesagt, dass Ethan nicht kommen würde, dass er zurückgeblieben sei um ihre Flucht zu ermöglichen. Jedes Wort, welches sie Chris daraufhin hatte entgegenwerfen wollen wurde in dem Geräusch der Explosion ertränkt.
Phase 2: Wut. Geschockt von dem was ihr Verstand zu verarbeiten versuchte schrie sie den Soldaten an. Chris stoppte ihren Ausbruch indem er seine Faust gegen die Wand schlug. Seine Stimme würde Mia nicht vergessen. Sie klang schwer genug um sie verstummen zu lassen und stattdessen blickte sie mit tränenden Augen in das unschuldige und unwissende Gesicht ihrer Tochter.
Jetzt, Wochen später, fiel es ihr leicht Chris die Schuld für Ethans Tod zu geben, auch wenn sie wusste, dass es unfair ihm gegenüber war, nach allem was er für sie und ihre Familie getan hatte, aber dadurch fühlte sie sich geringfügig besser. Wenn auch nur für eine kurze Zeit.
Phase 3: Verhandlung. Nahezu jeden Tag flehte sie ins Ungewisse an Ethans Stelle gestorben zu sein. Er liebte seine Tochter, war bereit aufs Ganze zu gehen um sie in Sicherheit zu wissen, also verdiente auch er es an ihrer Seite zu bleiben. Mia hatte die ganze Zeit in einer Zelle festgesessen ohne irgendetwas ausrichten zu können. Ja, es wäre nur fair mit ihm den Platz zu tauschen, so dachte sie.
Phase 4: Depression. Wut war immer noch ein beständiger Teil von ihr, der sie lebhaft wirken ließ, aber während den depressiven Phasen war sie wie in Trance. Sie folgte blind der täglichen Routine. Sie fütterte Rose, kuschelte und spielte mit ihr, aber gleichzeitig fühlte sie sich distanziert. Die meisten Nächte verbrachte sie weinend im Badezimmer und dachte darüber nach, wie sie niemals die letzte und endlich heilende Phase erreichen würde.
Akzeptanz klang so … unerreichbar. Und Loslassen fühlte sich alleine schon im Gedanken falsch an.
Albträume waren immer noch ein Problem.
Für sie und für Rosemary.
Wie oft schon wurde sie durch das Weinen der Kleinen geweckt mit der Frage, was sie ihr angetan haben?
Niemand wollte ihr Antworten geben. Wieder einmal würden sie ihr nur raten loszulassen und weiter zu machen.
Ihre eigenen Träume handelten nicht immer nur um Ethan, das Dorf und seinem Tod – nein – auch Louisiana war wieder ein Teil davon.
Die Baker Familie … Eveline.
Manchmal vermischten sich die Grauen um ein gänzlich neues Bild von Horror zu erschaffen.
Jedenfalls war sie wieder auf ihre Tabletten angewiesen um zu funktionieren.
Ein besonders schrill klingendes Quietschen riss Mia aus ihren Gedanken und kurz blinzelte sie verwirrt, ehe sich ihr Blick auf die kleine Rose fokussierte, die sie aus dem Laufstall heraus angrinste.
Der Spielzeugaffe lag nun außerhalb des Absperrung und es sah so aus als wartete das Mädchen nur auf Zustimmen wie gut sie ihn weggeworfen hatte.
Sie war kaum 7 Monate alt und hatte schon so viel durchleben müssen.
„Es tut mir leid, Rose.", flüsterte Mia sanft und beugte sich am Laufstall zu ihrer Tochter hinab um ihr über den Kopf zu streicheln.
Die Kleine strahlte sie engelsgleich dafür an.
„Alles wird gut. Das verspreche ich dir."
Gerade als ihr Versprechen ihre Lippen verließ, klingelte es an der Haustür.
