1. Neblige Aussichten

Dröhnend jagte die kleine Maschine der British Airways durch ein Meer aus dichten, grauen Gewitterwolken. Tal klammerte sich fest an ihren Sitz, ihr Gesicht war vor lauter Nervosität und Übelkeit noch aschfahler als sonst. Dies war absolut keine Art zu reisen! Liebend gern hätte sie eine lange, eintönige Zugfahrt quer durch Mitteleuropa diesem holperigen Flug vorgezogen, doch der Bekannte von Mr. Diggory, ein alter Arbeitskollege vermutlich, hatte auf ihrer schnellen Ankunft bestanden. 

„Eile ist Irrtum!", hatte Tal geantwortet, sich jedoch ziemlich rasch überreden lassen. Immerhin hatte sie ihrem Chef Diggory dankbar sein können, der so schnell auf ihre Wünsche eingegangen war und ihr, dank seiner Beziehungen, diesen fabelhaften Job in Rumänien verschafft hatte. Für irgendetwas musste dieser dämliche, arrogante Pinsel schließlich auch gut gewesen sein!

Tal erhob sich von ihrem Sitz und taumelte ein paar Schritte durch den kurzen engen Gang. Sie fühlte sich wie die Banane in einem Shake. Die Hand auf die Magengegend gepresst, steckte sie den Kopf ins Cockpit.

„Wieviel Zeit noch, bis wir eintreffen?", fragte sie.

Der Pilot, ein großer weißhaariger Mann um die sechzig, wandte ihr sein lächelndes, etwas faltiges Gesicht zu.

„Kaum weniger als bereits vor zehn Minuten, Miss Cheng! Momentan befinden wir uns über Nordungarn." Er stieß einen bedauernden Seufzer aus. „Ein Jammer, dass das Wetter so schlecht ist! Sie hätten einen phantastischen Blick auf das Mátra-Gebirge, wären die Bedingungen doch nur ein wenig besser."

Tal konnte ihm nur zustimmen, obgleich es weniger der Blick über Ungarn war, der sie reizte. Tief Luft holend kletterte sie durch die schmale Cockpittür, was ihr zum Glück nicht schwer fiel, da sie selbst mehr als schmal war, und ließ sich auf den Sessel neben ihm plumpsen. Erschöpft schloss sie die Augen.

Ihr Begleiter warf ihr einen besorgten Blick zu. „Ist Ihnen nicht gut, Miss Cheng?", fragte er.

„Chang", verbesserte sie. „Mein Name ist Chang."

Der Pilot lachte. „Verzeihen Sie! Aber diese asiatischen Namen klingen doch alle irgendwie gleich ... Wang, Wong, Cheng, Chang ... da kommt man als Engländer schon mal leicht durcheinander, wissen sie?"

„Das bin ich gewohnt. Ich lebe seit Jahren überwiegend in England." Tal schlug die Beine übereinander und blickte desinteressiert aus dem Fenster.

„Haben Sie dort beruflich zu tun?", wollte der Pilot wissen.

Sie nickte. „Ja."

„Und? Was tun Sie dort Spannendes?"

„Ich bin Sekretärin."

Mit dieser Antwort schien ihr Begleiter offenbar nicht gerechnet zu haben, was eine etwas peinliche Stille auslöste, ab und zu unterbrochen vom Rütteln der Maschine. Tal warf dem älteren Mann einen nervösen Blick zu. „Sind Sie auch sicher, dass dieses Ding nicht abstürzen kann?", fragte sie schließlich.

„Oh, keine Sorge, Miss", lachte er zufrieden, „mein Flieger hält das locker aus. Wir beide haben schon weitaus mehr überstanden. Mit diesen kleinen Turbulenzen werden wir spielend fertig!"

Er tätschelte liebevoll das Armaturenbrett und seine alten Augen erfüllten sich mit glänzendem Stolz.

Tal betrachtete ihn kopfschüttelnd. „Muggel!", murmelte sie.

Überrascht blickte der Pilot sie an. „Wie bitte?"

„Oh, nichts!" Tal errötete leicht und blickte rasch wieder aus dem Fenster. Noch immer hatte sich an der Aussicht nichts geändert. Überall waren nur graue Wolken.

„Und was will eine hübsche junge Frau wie Sie in Rumänien?", fragte der Pilot in seiner harmlosen, nichtsahnenden Art weiter.

Tal wandte ihm das Gesicht zu. „Ach, nichts besonderes. Ich besuche Freunde."

„Wirklich?" Auf der Stirn des Piloten zeigten sich eine verwunderte Falte. „Dieser Mann, Diggory, der mich bezahlt hat, machte Andeutungen auf ein ...  Forschungsprojekt. Einen ...", er schien krampfhaft in seinem Gedächtnis zu kramen, „einen Dokumentarfilm, ja genau, etwas in der Art sagte er! Wenn mich meine alten grauen Zellen nicht trügen." Er zwinkerte ihr zu. Tal lächelte nervös.

„Nein ... natürlich, ein Dokumentarfilm! Ja, genau, wir drehen einen Dokumentarfilm."

Besten Dank, Mr. Diggory! Hättest du mir nicht vorher mitteilen können, was du diesem neugierigen Muggel über mich erzählt hast, wenn du uns beide schon in ein Flugzeug setzt?!

Der Pilot lächelte irritiert. „Und Freunde haben Sie auch dort? Das ist aber ein glücklicher Zufall!", versuchte er ihre widersprüchlichen Aussagen zu erklären.

Tal nickte. „Ja."

„Und worum geht es dabei?"

Sie blickte ihn überrascht an. „Wobei?"

„Bei Ihrer Dokumentation selbstverständlich", lächelte er geduldig.

„Oh ..." Tal dachte blitzschnell nach. „Um Luchse!"

„Luchse ..." Der Mann tat beeindruckt, nickte anerkennend mit dem Kopf. Tal musste grinsen.

„Interessante Tiere, nicht wahr?", bemerkte er. „Aber ist das nicht gefährlich?"

Die junge Frau hob die Schultern. „Ein wenig Gefahr gehört tatsächlich zu dem Job."

Zumindest dies entsprach sogar der Wahrheit. Tal sah dem Piloten an, dass sie ihm nun gänzlich imponiert hatte, doch allzu sehr wollte sie seine alten Nerven nicht strapazieren. Den restlichen Flug über schwieg sie sich aus, abgesehen von ihrer viertelstündigen Frage, wie weit es denn noch sei und ob man nicht irgendetwas gegen das Holpern tun könne. Schließlich überflogen sie die östlichen Karpaten. Tal wies den Piloten an, auf einer kleinen, von Felsen umschlossenen Ebene zu landen.

„Ziemlich trostlos hier!", bemerkte der Pilot, während er den Antrieb langsam drosselte und die Landestützen ausfahren lies. „Sind Sie sicher, dass dies hier die richtige Stelle ist?"

„Ganz sicher!", erwiderte Tal, die sich keineswegs sicher war, es jedoch keine Minute länger in diesem ruckelnden Flugzeug aushalten konnte. Hastig erhob sie sich. Sie würde den Ort schon finden, schließlich hatte sie eine Karte im Gepäck, die sie hundertmal sicherer führen würde als jede Muggel-Landkarte!

„Ihre Tasche, Miss Chang!", rief ihr der Pilot hinterher und machte Anstalten, nach den verschnürten Lederriemen zu greifen. Tal fuhr erschrocken aus ihren Gedanken.

„Halt!", rief sie schrill. Der Pilot zuckte zusammen und blickte verdutzt zu ihr auf. „Ich meinte ...", Tal nahm sich zusammen und lächelte entschuldigend, „ich meinte, die Tasche ist doch viel zu schwer für Sie. Ich schaffe das schon allein!"

Hastig schnappte sie sich die Lederriemen, wuchtete die Tasche eigenhändig zur Ausstiegsluke hinaus und sprang hinterher. Sie war tatsächlich schwer.

„Vielen Dank!", keuchte sie.

Der Pilot steckte den Kopf durch die Ausstiegsluke und blickte sich prüfend um. Sie befanden sich inmitten einer felsigen Berglandschaft. Es war kaum Grün zu sehen und ein frischer Wind pfiff um sein Haar. „Kommen Sie wirklich allein zurecht?", fragte er besorgt. „Ich könnte Sie begleiten, bis Sie sicher bei Ihren ... Kollegen angekommen sind."

Tal schüttelte den Kopf. „Das wird nicht nötig sein."

„Nun denn!", lächelte er und wollte sich bereits abwenden, doch von einem Moment auf den anderen gefror sein Lächeln zu Eis. Irritiert folgte Tal seinem Blick. Er starrte unverwandt auf ihre Tasche. Sie bewegte sich!

Tal gab der Tasche einen wütenden Fußtritt und gab dabei seltsame Zischlaute von sich. Lächelnd hob sie den Kopf und blickte den Piloten an, der ihre Aktion mit vor Unglauben aufgerissenem Mund verfolgt hatte. 

„Verzeihen Sie", sagte sie freundlich, „das ist nur Serpensia. Sie will wohl raus."

Der Pilot trat schluckend einen Schritt zurück und musterte angstvoll die Tasche, die sich nun nicht mehr rührte. „Sie sind die seltsamste Passagierin, die ich seit zehn Jahren geflogen habe", murmelte er. Doch dann schüttelte er ruckartig den Kopf. „Nun denn", wiederholte er hastig, „Sie kommen allein zurecht, sagten Sie? Dann werde ich Sie nicht länger aufhalten. Adieu!"

„Warten Sie, da wäre noch etwas." Tal ging langsam ein paar Schritte auf das Flugzeug zu. Als sie direkt vor den verwirrt dreinblickenden Augen des Piloten stand, schnellte ihre Hand hoch.

„Obliviate!", rief sie. Auf der Stelle fingen die beiden Augen an zu schielen. Die Gesichtszüge des Mannes entspannten sich und ein gleichmütiges Lächeln trat in sein Antlitz.

„Es war mir eine Freude, Sie hergeflogen zu haben, Miss Cheng!", murmelte er verträumt.

Tal lächelte. „Chang, Mister. Ich danke Ihnen."

Sie winkte dem Piloten geduldig hinterher, der, wie in einem Trancezustand, zurück in sein Cockpit taumelte und langsam den Antrieb startete. Bald war seine Maschine im bewölktem Himmel über Rumänien verschwunden.

„Puh, das war knapp! Es geht doch nichts über einen Gedächtniszauber ...", murmelte Tal, während sie ihren Zauberstab neben sich auf den Boden legte. Sie kramte ihre Landkarte hervor und faltete sie mühselig auseinander, was kein einfaches Unterfangen war, da der Wind sie immerfort mitzureißen drohte. Schließlich kniete sie sich auf das Papier, um die Hände freizubekommen. Mit der Spitze ihres Zauberstabs tippte sie dreimal auf einen vormarkierten Punkt, bis die Karte aufhörte zu flattern und fest wie eine Schieferplatte auf dem felsigen Boden lag. Als Tal aufstand, stieg die Karte langsam in die Höhe und faltete sich selbst zu einer Schwalbe. Tal nickte zufrieden. „Komm, Pansy!", murmelte sie. „Wir haben schon genug Zeit mit diesem Muggel vertrödelt. Machen wir und lieber auf den Weg!"

Die schwere Tasche über der Schulter und den zerrenden Wind in den Haaren folgte sie mit raschen Schritten der Papierschwalbe, die wie ein Vogel über ihrem Kopf auf die östlich gelegenen Berge zusegelte.