3. Erinnerungen
Tal stampfte, noch immer zornig, auf das winzige Zelt zu, dass Mr. McDougal ihr zugeteilt hatte – zumindest wollte sie stampfen, doch ihre weichen Turnschuhe erzeugten auf dem felsig-sandigen Untergrund kaum mehr als ein dumpfes Knirschen. Zu alledem wirbelte sie auch noch Staub auf und bekam einen Hustenanfall. Wütend riss sie den Reißverschluss ihres Zeltes auf und feuerte die Tasche in eine Ecke.
Was für ein Idiot!
Selbstverständlich hatte sie ihn auf den ersten Blick wiedererkannt. Die kupferfarbenen Haare, die unzähligen Sommersprossen auf Gesicht, Hals und Armen, die scheinbar in der ganzen Familie Weasley vorherrschten, prägten sich einem ja nur allzu leicht ein. Selten war er, dieser keltische Typ, aber faszinierend. Tal erinnerte sich ärgerlich, wie sie selbst einem von ihnen schöne Augen gemacht hatte – nicht Charlie, sondern seinem älteren Bruder Bill. Bill, dem Rebellen, aufgrund seiner langen Haare und dem Schlangenzahn an seinem Ohr von den Lehrern skeptisch beäugt, von den Schülern bewundert. So sehr, dass sie ihn beinah einstimmig zum Schulsprecher gewählt hatten!
Es war Tal immer noch äußerst peinlich – weniger die Tatsache, dass sie letztendlich bei Bill abgeblitzt war, als ihre feurige, kindische Schwärmerei! Ob Charlie sich noch daran erinnerte? Vorsichtshalber hatte sie sich erst einmal kühl gegeben und abgewartet, wie er auf sie reagieren würde. Bestimmt hatte sein Bruder ihm damals alles haarklein berichtet und sie hatten sich gemeinsam in ihrem dämlichen Gemeinschaftsraum über sie lustig gemacht! Und hinzu kam noch die Art, wie Charlie über ihre geliebte Serpensia gesprochen hatte. So was von intolerant und herablassend! Tal blickte unvermittelt auf die getigerte Python, die sich auf einem Klappstuhl eingekringelt hatte und gelassen vor sich hinzüngelte. Sie erwiderte Tals Blick ohne zu blinzeln.
„Wäre ich doch bloß immer so gelassen wie du, Pansy!", murmelte Tal und setzte sich auf ihre Iso-Matte.
Die Schlange wandte leicht den Kopf. „Ich finde, du hast bisher alles sehr gut gemacht, Sórore", sagte sie zischend.
Tal schüttelte den Kopf. In einem neuen Anflug von Zorn gab sie ihrer Tasche noch einmal einen heftigen Fußtritt, so dass sie auf die Seite kippte und ihr gesamter Inhalt herauskullerte. „Was glaubt dieser Gryffindor eigentlich, wer er ist!", schnaubte sie empört. „Die haben uns doch immer nur skeptisch beäugt, uns und alles was wir sagten oder taten oder hatten! Haben geglaubt, sie wären was besseres!"
„Du weißt doch genau, dass sie das nicht sind", zischte Serpensia von ihrem Stuhl aus.
Tal beachtete sie kaum. Ihr gesamter, über die Jahre an Hogwarts unbewusst angesammelter Zorn, entlud sich nun wie ein krachender Blitz an Charlie. „Sie haben uns immer wer weiß was unterstellt!", redete sie sich weiter in Rage. „Behauptet, wir hätten nur Gemeinheiten im Sinn und würden nichts als ... lügen und intrigieren und zerstören ..."
„Wenn du deine Tasche weiterhin so behandelst, wird sie in der Tat bald hinüber sein!", bemerkte Serpensia züngelnd.
Tal blickte sie an und seufzte. „Du hast Recht, meine Schöne!", murmelte sie. „Ich sollte mich zusammennehmen."
Langsam glitt die Schlange von ihrem Stuhl hinab und um Tal herum, ehe sie ihren flachen Kopf auf die Schulter ihrer Herrin legte. „Seit wann ist dir die Meinung eines Gryffindors eigentlich so wichtig?", fragte sie.
Tal hielt in der Bewegung inne. Unschlüssig klappte ihr Mund auf und zu. „Ich weiß es nicht", gestand sie schließlich.
„Könnte es vielleicht sein, dass du ihn magst?"
Empört blickte Tal zu der Schlange empor. „Ich, ihn mögen? So ein Unsinn! ... ich meine, wie könnte ich? Er ist ein Gryffindor und ich kenne ihn kaum."
„Du musst dennoch zugeben, dass er dich amüsiert hat", erwiderte Sepensia. „Du hast es ihm kaum signalisiert, doch ich spürte es. Du kannst es mir ruhig sagen, Sórore! Ich werde es für mich behalten."
Tal musste lächeln. „Das wirst du zweifellos, Pansy!", sagte sie und streichelte den Kopf der Schlange. Serpensia gab ein wohliges Zischen von sich.
Seufzend stellte Tal ihre Tasche wieder ordentlich hin und sammelte die zerstreuten Sachen auf. Ihre Kristallkugel, in deren Innern ein kleiner chinesischer Pavillon stand, war zum Glück nicht zerbrochen. Tal nahm sie in die Hände und schüttelte sie. Sie war so verzaubert, dass es im Winter in ihr schneite, im Sommer feinste Sonnenstrahlen in ihr erglühten. Im Moment nieselten Regentropfen auf den bunten Pavillon hinab. Es war Spätsommer.
Tal stellte die Kugel auf den Nachttisch und kniete sich wieder auf den Boden. Dicke Pullover, Essensvorräte, ihren Zauberstab, ohne genau hinzusehen lud sie erst mal alles in ihre Arme und schwankte schwer bepackt zu ihrer Tasche hinüber. Ein viereckiges Stück Papier segelte aus ihren Armen zu Boden. Tal ließ ihre Sachen in die geöffnete Tasche plumpsen und bückte sich danach.
Es war ein Foto ihrer Familie – mit einer Muggel-Kamera aufgenommen, so dass sich die Personen darauf nicht bewegten. In der Tat waren ihre Eltern Muggel und die Tatsache, dass drei ihrer vier Kinder magische Fähigkeiten besaßen hatte bei ihnen, gelinde ausgedrückt, leichtes Entsetzen ausgelöst.
Kai, der Älteste, war ein ehemaliger Hufflepuff und inzwischen Lehrer geworden. Tal erinnerte sich lebhaft, wie viel Überredungskunst es ihn gekostet hatte, die Eltern dazu zu bringen, ihn auf die fragwürdige Schule für Zauberei und Hexerei zu schicken. Doch nachdem er im Laufe der Jahre so viele gute Noten eingeheimst und nun solchen Erfolg in seinem Beruf hatte, waren Mr. und Mrs. Chang geradezu stolz auf ihren Sohn. Cho war immer noch in Hogwarts, in Ravenclaw. Auch sie war eine gute Schülerin. Und Lou, die einzige der Geschwister ohne magische Fähigkeiten, war nach London gezogen und studierte. Doch nicht Lou – so stellte Tal mal wieder fest, während sie das Foto betrachtete – war die Außenseiterin unter den Geschwistern. Sie selbst war es. Sie war die einzige gewesen, von der die Eltern mit gutem Recht enttäuscht sein konnten. Sie war die Rebellin, die aus der Reihe tanzte und nicht das tat, was ihren Eltern am liebsten gewesen wäre.
Tal ließ das Foto sinken und dachte nach. Vielleicht war genau das der Grund gewesen, weshalb sie so vernarrt in Bill gewesen war. Er war so anders als die anderen! Irgendwie hatte sie sich ihm auf seltsame Art gleich gefühlt – ein bedauerlicher Trugschluss, wie sie später hatte feststellen müssen! Nein, Bill war nicht wie sie gewesen, ganz und gar nicht wie sie. Sein Äußeres war zweifellos außergewöhnlich, doch er fühlte und dachte wie die anderen. Und außerdem war er, so musste sie sich eingestehen, selbstbewusst und beliebt gewesen. Und das waren zwei Eigenschaften, mit denen Tal absolut nicht hatte dienen können.
Eigentlich hatte sie sich auch auf Hogwarts immer mehr oder weniger fehl am Platz gefühlt. Während ihre Geschwister und Mitschüler fleißig lernten, und vermutlich sogar Spaß daran hatten, hatte sich Tal nie die Bohne für Verwandlung, Arithmantik oder Geschichte der Zauberei interessiert. So langweilig und im Grunde überflüssig! Was sollte es einem denn nützen, wenn man eine Teetasse in eine Ratte verwandeln oder die Lebensgeschichte sämtlicher Zauberer hinunterbeten konnte? Konnte man damit irgendetwas bewegen? Nein, das einzige, was sie an der Zauberei wirklich fesselte, war die geheimnisvolle, aufregende und nicht immer ganz ungefährliche Seite. Sie wusste selbst nicht genau, was sie daran gereizt hatte. Eigentlich war sie ja von Natur aus eine äußerst vorsichtige und misstrauische Hexe und ständig darauf bedacht, der Gefahr immer einen guten Schritt voraus zu sein.
Aber ist es nicht gerade deshalb so wichtig, die dunkle Seite zu kennen? Möglicherweise könnte man sogar Nutzen aus ihr ziehen! Es muss doch einen Grund haben, weshalb sie solchen Einfluss und Macht ausüben kann ...
Aber wie auch immer, es war eine Seite gewesen, die Hogwarts ihr nicht hatte bieten können. So war ihr nichts als Pflege magischer Geschöpfe geblieben - ein faszinierendes Fach über faszinierende Tiere, wie sie fand. Zumindest ab der vierten Klasse, wo endliche aufregendere Dinge dran kamen als das Sezieren von Flubberwürmern! Doch auf Dauer hatte sie ihre miesen Noten mit Hilfe dieses einzigen Faches nicht wettmachen können. So hatte sie ihre Schullaufbahn kurzerhand von sich aus abgebrochen, ohne noch einmal mit Dumbledore darüber zu sprechen, und die Abfuhr von Bill Weasley war schließlich nur das letzte Glied einer langen Kette von Auslösern dafür gewesen. Tal bereute es nicht. Sie war sich sicher, dass man sie, hätte sie nicht von sich aus das Feld geräumt, aufgrund ihrer mangelnden Leistungen fortgeschickt hätte.
„Ich hätte nach Durmstrang wechseln sollen, Pansy!", murmelte Tal nachdenklich. „Mir wurde erzählt, dass die Schüler dort in Schwarze Magie unterrichtet werden. Das wäre endlich mal etwas interessantes gewesen, glaubst du nicht?"
Die Schlange hob träge den Kopf. „Nach allem, was du mir über deine Eltern erzählt hast", erwiderte sie zischend, „halte ich es für unwahrscheinlich, dass sie sich damit einverstanden erklärt hätten. Und Dumbledore hätte ihnen sicher davon abgeraten, wenn sie ihn nach seiner Meinung gefragt hätten."
Über Tals Gesicht huschte ein Lächeln. „Du verfügst über eine gute Menschenkenntnis, meine Schöne! Meine Eltern haben sich damals tatsächlich nicht einverstanden erklärt. Und es lief genauso ab, wie du es vermutet hast."
Serpensia musterte sie unbeweglich.
„Ach, ich hätte es einfach tun sollen!", schimpfte Tal wütend. In ihrem Ärger machte ihre Hand schon Anstalten, das Foto zu zerreißen, doch sie besann sich rechtzeitig. Stattdessen pfefferte sie es auf den Zeltboden. „Ich hätte sie irgendwie dazu bringen müssen! Oder ich hätte ihre Unterschriften fälschen können. Im Unterschriftenfälschen bin ich gut, weißt du?"
Sie blickte die Schlange erwartungsvoll an, die jedoch nur starr und ausdruckslos ihrem Blick standhielt. „Weshalb hast du es dann nicht einfach gemacht?", fragte Serpensia in ihrer ruhigen, logischen Art.
Tal holte tief Luft und dachte einen Moment lang nach. Das ist eine gute Frage. Ja, weshalb eigentlich nicht? Doch dann schüttelte den Kopf. „Du stellst mal wieder viel zu viele Fragen, Pansy!", antwortete sie ausweichend. „Manchmal tun Menschen Dinge, die könnt selbst ihr klugen Schlangen nicht begreifen."
„Belassen wir es dabei", entschied Serpensia und kroch auf ihren Klappstuhl zurück.
Tal seufzte. Sie musste sich beruhigen, musste wieder Herr ihrer Frustration werden. Wie hatte ihre Mutter immer gesagt? „Nur in einem ruhigen Teich spiegelt sich das Licht der Sterne!" Tal hatte nie vollkommen verstanden, was sie damit meinte. Doch aus ihr selbst unerklärlichen Gründen hatte sie immer versucht, ihre Worte zu befolgen, so gut sie konnte. Vielleicht, weil es tief in ihr immer noch den Wunsch gab, die Eltern stolz zu machen? Es war doch nicht ihre Schuld gewesen, dass sie nicht für das hatte begeistern können, was es all ihren Geschwistern so angetan hatte!
Tal zuckte mit den Schultern und machte sich ans Aufräumen. Gegenstand für Gegenstand landete in ihrer großen Tasche, bis sie schließlich wieder bis an den Rand gefüllt war. Umhang, Adlerfederkiel, Pergament, ein Fläschchen ... Tal hielt abrupt inne.
„Serpensia?"
Die Schlange hob erneut ihren Kopf. „Was gibt´s denn noch?", zischte sie träge.
„Kannst du mir sagen, was das hier ist?" Tal wedelte unschlüssig mit dem Fläschchen vor ihren Augen herum, so dass die silbrige Flüssigkeit in seinem Bauch hin und her schwappte. Langsam kroch Serpensia an ihre Seite und musterte sie ausgiebig.
„Das ist Einhornblut", stellte sie schließlich fest.
Verwirrt blickte Tal sie an. „Einhornblut?"
Die Schlange bestätigte dies durch ein leichtes Nicken ihres Kopfes. Tal wusste, dass es stimmen musste, denn Schlangen logen ihre Herrn niemals an. Erneut schaute sie auf die silbrige Flüssigkeit in der Flasche und wieder zu Serpensia. „Weshalb schleppe ich Einhornblut mit mir rum?", fragte sie sich verwundert.
Serpensia erwiderte ihren Blick aus gelben, reglosen Schlitzaugen. „Ich weiß es nicht", antwortete sie zischend.
