4. Die dunkle Seite

Der Himmel über ihr war hellblau-violett, von feinen Wolkenfetzen durchzogen. Links von ihr plätscherte ein kleiner Wasserfall, rechts erstreckte sich ein Pinienwäldchen. Es duftete nach Magnolien und Azaleen. Langsam schritt sie den weißen Kiesweg entlang und blickte sich immerfort staunend um. Wie kam sie hierher? Ihr wurde bewusst, dass sie träumen musste, denn das, was sie sah, erschien ihr vollkommen unmöglich – sie war zuhause! Nein, nicht zuhause in ihrem winzigen Apartment in South Kensington, wo der Regen immerfort an die Scheiben klopfte. Dies hier war ihr wirkliches Zuhause. Das Zuhause, in dem sie groß geworden war. Der Strom des Wasserfalls, der Wind in den Pinien, der Duft der Blüten, alles kam ihr so vertraut vor. Es war beinahe so, als wäre sie nie fort gewesen.

Langsam folgte sie dem Kiesweg, der unter ihren nackten Fußsohlen raschelte und knirschte. Mit einem Mal hielt sie inne. Da war etwas vor ihr auf dem Kiesweg. Es schimmerte weiß in der strahlenden Sonne, doch kaum einen Wimpernschlag später war es verschwunden. Hastig beschleunigte sie ihren Schritt, verfiel in einen leichten Trab und rannte schließlich die letzten Meter über den Kies, bis sie einen kleinen Hügel erklommen hatte. Atemlos blieb sie stehen. Da war es wieder. Schimmernd weiß wie Morgentau stand es am Füße des Hügels, scharrte mit den Hufen und schüttelte die silberfarbene Mähne. Ein Einhorn! Sofort fühlte sie unbändige Freude in ihrem Herzen aufkeimen, so wie es jedem erging, der die Geschöpfe der vollkommenen Unschuld und Reinheit erblickte. Doch ihre Freude wurde schnell getrübt, als sie erkannte, dass das Tier blutete. Eine tiefe Wunde klaffte an seinem schönen, geschwungenen Hals und als sie näher hinsah, glaubte sie zu erkennen, dass dicke, perlmuttfarbene Tränen aus seinem Auge rannen. Das Gebüsch neben seinen Füßen begann sich zu regen und raschelte. Sie sah einen mächtigen Kopf mit langen, kirschfarbenen Barthaaren aus den Zweigen hervorblitzen. Kurz darauf erschien ein schlangengleicher Körper auf vier kurzen Beinen, an deren Enden sich scharfe Krallen in den Kies gruben. Das Tier legte den Kopf zurück und spie unter heftigem Gebrüll eine züngelnde weiße Flamme. Der Fünfklauige Lindwurm! Wie kam er in ihren Traum? Was hatte das zu bedeuten?

Vom hellen Feuer geblendet, kniff sie die Augen zusammen und hielt ihre Hände schützend davor. Ihre Wahrnehmung wurde mit einem Mal merkwürdig trüb. Ihr war, als würden beide Tiere den Kopf wenden und sie auffordernd ansehen. Und da war noch ein drittes Tier! Kleiner, ruheloser und schneller schlängelte es um die Füße der beiden anderen und gab leise Zischlaute von sich.

Erst jetzt wurde sie der Wolken gewahr, die lautlos über den Himmel gezogen waren. Sie waren rot, jedoch nicht wie Blut, sondern heller und funkelnder, und schirmten dennoch alles Sonnenlicht ab. Und ein fremder Geruch mischte sich unter den Blumenduft. Ein seltsamer Geruch. Auf eine Art süß und betörend, aber dennoch rauchig und schwer. Er nahm ihr die Luft zum Atmen! Das rote Leuchten wurde immer stärker ...

Mit einem Schlag war Tal wach. Es war kurz vor Mitternacht. Tiefschwarz und sternenlos hing der Himmel über den östlichen Karpaten und tauchte das kleine Forschungscamp in vollkommene Finsternis. Ein eiskalter Wind kroch von draußen durch ein Loch in ihr Zelt und streifte ihr Gesicht. Tal konnte kaum die Hand vor Augen erkennen.

Ruckartig setzte sie sich auf und schlug unverzüglich mit dem Kopf gegen eine tief hängende Zeltstange, was sie nun vollkommen zur Besinnung brachte. Wütend stieß sie einige heftige chinesische Flüche aus, doch mit einem Mal verstummte sie wie erstarrt. Da war es wieder, das rote Leuchten. Es war direkt neben ihr, auf dem Kopfkissen. Zwei schimmernde rote Punkte, die mitten in der Dunkelheit auf gleicher Augenhöhe mit ihr in der Luft hingen wie zwei schwebende Rubine.

Tals Herz setzte einen Schlag lang aus. Was um Himmels Willen ging hier vor? Träumte sie etwa noch immer? Doch der Schmerz flammte augenblicklich an ihrer Stirn auf – dort, wo sie sich eben noch gestoßen hatte – und erinnerte sie daran, dass die Dinge um sie herum, hier und jetzt, sehr wohl real waren. Erschreckend real geradezu!

Automatisch suchten ihre Hände in der Finsternis nach dem Zauberstab. Gewöhnlich legte sie diesen vor dem Schlafengehen neben ihr Bett, was sich wohl auf ihre ureigene Skepsis zurückführen ließ, die sie immerfort zu vorrausschauendem und gefahrbereitem Handeln zwang. Doch eine Sekunde später erstarrten auch ihre Hände wie Eis. Der schwere Geruch aus ihrem Traum schien Wirklichkeit gewesen zu sein, denn er stieg ihr immer noch in die Nase. Auf seltsame Art fand sie ihn angenehm und furchterregend zugleich, und in diesem Moment spürte sie, wie sein rotweißer Nebel sie vollkommen umhüllt hatte. Gleichzeitig vernahm sie eine Stimme. Wie von einem fremden Willen gezogen, drehte Tal ihren Kopf und starrte wie gebannt auf die beiden glühenden, rubinroten Punkte zu ihrer Seite. Es gab keinen Zweifel – jemand in der Dunkelheit sprach zu ihr.

„Schlangenherrin!", sagte die Stimme feierlich. In Wirklichkeit war die Stimme schwach und zitterig, doch in Tals Ohren erklang sie gewaltsam und mächtig. Eine Welle der Erinnerung überkam sie plötzlich. Sie hatte diese Stimme schon einmal gehört, in London war es gewesen. Damals war sie kreuz und quer durch die dunkelsten und verwirrendsten Straßen geschickt worden. Weshalb hatte sie sich nicht schon vorher erinnert?

„Ich sehe, dass du mich wiedererkennst!", sprach die Stimme weiter. „Ich bin der Diener des dunklen Lords und du, Schlangenherrin, bist meine Dienerin. Durch den Zauber des Rubins kannst du meine Stimme hören, und ich sehe dich durch die Augen deiner Schlange. Bist du bereit, die Worte meines – unseres – Herrn auszuführen und ihm durch deinen Mut und deine Stärke neue Lebenskraft zu schenken?"

Tal saß stocksteif da wie eine Porzellanpuppe. Langsam öffnete sie den Mund, doch als sie sprach, war es nicht sie selbst, die die Worte formte. Es war, als hätte sich auf einmal irgendeine dunkle Seele ihrem Willen bemächtigt und dirigierte sie. „Ich bin bereit!", sagte sie entschlossen.

„So höre", fuhr die Stimme fort, „wie dein Plan lautet. Das Einhornblut hast du bereits in der Nokturngasse beschafft. Dein Herr ist äußerst stolz auf dich und lässt dir seinen geschätzten Dank ausrichten. Einhornblut, das Elixier ewigen Lebens, besitzt ungeheure Macht und wird deinem Herrn die nötige Kraft schenken, um den Wiederauferstehungsprozess einzuleiten."

Komm zur Sache!, dachte die dunkle Seele in Tal, doch ihr Gesicht war wie versteinert. „Und weiter?", fragte sie ruhig.

„Die nächste Zutat, die benötigt wird, ist die Brut des Lindwurms. Alle Dracheneier besitzen ein hohes Maß an irdischer Kraft und Stärke, um die Neugeborenen vor ihren natürlichen Feinden zu schützen. Wasser, Kälte, Eis ... jede Art besitzt ihre eigene. Lindwurmeier jedoch enthalten einen einzigartigen Vorrat an Lebensenergie, denn ihr natürlicher Feind ist die Sonne. Selbst unter Zauberern ist sie die höchste Energiequelle, die uns bekannt ..."

„Ich soll also ein Lindwurmei beschaffen!", schloss die junge Zauberin. „Warum sagt Ihr das nicht gleich! Ist dies der Grund, weshalb ich in Rumänien bin?"

Mitten in ihrem Wortschwall unterbrochen, wirkte die Stimme zunächst ein wenig irritiert. Doch dann lachte sie laut auf. „Exakt, Schlangenherrin. Könnten wir die Verbindung noch länger aufrecht erhalten, so würdest du dich auch daran erinnern. Doch dafür bleibt leider keine Zeit. Bei der Ausführung unseres Planes ist Eile geboten."

„Eile!", antwortete sie. „Jawohl, ich werde mich beeilen! Sagt, wenn ich das Drachenei beschafft habe ... wird mein Herr dann wieder auferstehen? Und wird er ... wird er erneut herrschen?"

„Das Lindwurmei ist eine unverzichtbare Zutat. Doch diejenige, durch dessen Kraft dem dunklen Lord zu neuem Leben verholfen wird, Schlangenherrin, wirst letztenendes du selbst sein!"

Bei diesen Worten erklang selbst die dunkle Stimme in Tal ungläubig. „Ich werde es sein?", fragte sie verwundert.

„Du und niemand sonst", war die Antwort.

Sie schluckte. „Ich werde mich geehrt fühlen, Herr!"

„Das solltest du auch. Es, ähm ...  gibt keine größere Tat, um deinem Herrn die Treue zu beweisen!" Die Stimme wurde langsam schwächer. „Tu was ich dir gesagt habe. Und nun – schlafe weiter."

Die glühenden Rubinaugen erloschen abrupt und im selben Augenblick fiel Tals Körper schlaff wie in einer Ohnmacht auf die Iso-Matte. Ihr Atem ging tief und gleichmäßig.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, war auch ihre Erinnerung an das Gespräch vollkommen ausgelöscht, so dass nicht einmal der stärkste Gedächtniszauber sie zurückzuholen vermocht hätte.