5. Die Schlange und der Löwe
Das erste, was Tal vernahm, war das Ratschen eines Reißverschlusses, gleichzeitig drang ein greller Strahl Sonnenlicht von draußen in ihr Zelt. Sie öffnete die Augen und blinzelte. Eine Gestalt lugte herein. Breite Schultern. Muskulöse, sonnengebräunte Oberarme. Schimmernd rotes Haar. Sie schloss genervt die Augen.
„Charlie!", murmelte sie im Halbschlaf. „Was gibt´s?"
„Frühstück gibt´s!"
Tal gähnte und schloss die Augen wieder. Doch dann roch sie auf einmal den verlockenden Duft von gebratenem Rührei mit Speck, vermischt mit Kaffee und Sahne. Hat er gerade Frühstück gesagt? Schon war sie im Begriff, trotz all ihrer Müdigkeit aufzustehen, als ihr gerade noch rechtzeitig einfiel, dass sie ja immer noch wütend auf Charlie war. Abrupt drehte sich von ihm weg.
Charlie hatte sie beobachtet und schielte mit hochgezogener Augenbraue auf sein Tablett. „Hm, gebe zu, das ist nicht gerade feinstes Sushi!", stellte er grinsend fest. „Aber ich schwöre, es ist essbar. Hab´s selbst probiert!"
„Ich hasse Sushi!", entgegnete Tal äußerst knapp.
Charlie seufzte. „Hör mal, Ma´am, also ... das mit deiner Schlange tut mir leid. Doch, wirklich! Hab nachgedacht und beschlossen, jedem ... ähm, das seinige zu lassen. Okay?"
„Klingt gut." Tal setzte sich abrupt auf. „Solange du dem anderen sein Anderssein nicht verzeihen kannst, bist du noch weit ab vom Wege der Weisheit."
„Was für Weisheiten schlägst du mir da bloß dauernd um die Ohren!", entgegnete Charlie und verdrehte die Augen.
Tals Gesicht gewann eine Spur an Härte. „Das sind die Weisheiten meines Volkes. Ich für meinen Teil glaube daran. Es sind beinahe ... wie meine persönlichen Gesetze. Ich befolge sie."
Kopfschüttelnd betrachtete er sie. „Jedem das seinige", wiederholte er und machte Anstalten, durch die Zeltöffnung zu klettern. Tal schlug die Decke zurück, vergessend, dass sie nichts als Socken und ein kaum zugeknöpftes Hemd trug.
Charlie hielt in der Bewegung inne und starrte sie an. Um ein Haar wäre ihm das Tablett aus der Hand gerutscht.
„Oh", machte Tal, an sich hinuntersehend. „Habe wohl am frühen Morgen noch nicht mit Besuch gerechnet!", fügte sie entschuldigend hinzu.
Abrupt liefen seine Wangen unter der Sonnenbräune dunkelrot an. Beinahe so rot wie sein Haar, stellte sie fest. „Tut mir leid, ich ... ich ..."
Angesichts seiner verlegenen Miene musste Tal sich ein Grinsen verkneifen. „Nun – rein oder raus!", ordnete sie an. „Entscheide dich, aber mach endlich die Öffnung zu. Es blendet!"
„Oh, okay ... dann lieber rein!", entschied Charlie und zog den Reißverschluss hinter sich hoch. Tal wandte ihm den Rücken zu, schloss die Knöpfe ihres Hemds und schlüpfte in einen langen geblümten Rock. Anschließend band sie ihr Haar zu einem straffen Zopf und drehte sich wieder zu ihm um.
„Machen wir jetzt ein Picknick?", fragte sie feixend, als sie sah, dass Charlie Teller, Tassen und Besteck auf einer Decke platzierte.
Er grinste zu ihr hoch. „Jawohl, Ma´am. Kaffee?"
„Lieber Tee", antwortete sie und kniete sich ihm gegenüber auf die Decke. „Wie spät ist es überhaupt?", fragte sie plötzlich.
Charlie hob die Schultern. „Keine Ahnung. Halb elf?"
„So spät!" Tal musterte ihn entgeistert.
„Ja, du hast geschlafen wie ein Hermelin", grinste Charlie und reichte ihr eine dampfende Teetasse.
Tal nahm sie und nippte vorsichtig daran. Verlegen schielte sie zu ihm hinüber. „Danke", murmelte sie über den Tassenrand hinweg.
Überrascht hob Charlie die Brauen. „Wofür?"
„Naja. Für´s Frühstück." Tal zuckte mit den schmalen Schultern. „Ohne deine Hilfe hätte mir wohl keiner was übriggelassen. Wo ich schließlich verschlafen habe. Und ich dachte noch, du hättest was gegen mich."
Charlie betrachtete sie. Ein sanftes Lächeln zog sich plötzlich über sein Gesicht. „Gegen dich hab ich nichts", schüttelte er den Kopf. „Naja, bloß gegen dein blödes Schlangenvieh!"
Als hätte sie seine Worte gehört, steckte wie auf Kommando die Tigerpython ihren Kopf aus Tals Tasche. Blitzschnell glitt sie auf den Zeltboden, huschte hin und her und bezüngelte neugierig Teller, Tassen und deren Inhalt. Tal bekam glänzende Augen.
„Serpensia! Da bist du ja, meine Schöne! Hast du gut geschlafen?"
Sie stellte die Tasse ab und streichelte zärtlich den Kopf der Schlange. Charlies sah ihr voller Unbehagen zu. Sein warmes Lächeln war um ein paar Grad gefroren.
„Bist du sicher, dass sie, naja – nicht gefährlich ist?", fragte er skeptisch.
Statt einer Antwort griff Tal einfach nach der Schlange und hängte sie sich um den Hals. Charlie starrte sie mit offenem Mund an. „Sie ist ganz zahm!", versicherte sie. Für einen kurzen Moment blitzten ihre Augen auf, Charlie sah es genau. Ihr schien ein Gedanke gekommen zu sein. Was dann jedoch folgte, hatte er nicht vorausgeahnt.
„Hier, nimm du sieh!", befahl Tal lächelnd. „Du wirst sehen, dass sie ganz harmlos ist."
Allein der Gedanke an die Schlange um seinen Hals ließ Charlie das Gesicht verziehen. „Ich soll was? Muss das wirklich sein?"
„Jetzt sei kein Feigling!", antwortete sie hartnäckig. Charlie wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich königlich über ihn amüsierte. Ihr Gesicht verriet zwar nichts, doch ihre Mandelaugen blitzten ihn kess an.
Zögernd hob er die Schultern und Tal, die dies als Aufforderung verstanden hatte, hängte ihm blitzschnell die Schlange um den Hals. Und das, noch ehe er protestieren konnte.
„Sehr hübsch!", rief sie und klatschte in die Hände. Charlie beobachtete skeptisch, wie die Schlange langsam um seine Schultern glitt. Sie fühlte sich seltsam an. Überraschend warm und gar nicht so glitschig, wie er erwartet hatte. Eher trocken. Ihr Kopf nahm langsam Kurs auf sein Gesicht. Er zog eine gequälte Grimasse.
„Sie, ähm ... ist nicht giftig, oder?", fragte er vorsichtig.
Tal lächelte. „Ach was, nein!"
Charlie atmete erleichtert aus.
„Sie ist eine Würgeschlange", fügte sie hinzu, und schneller als sie blinzeln konnte, hatte Charlie die Python panisch von seinen Schultern geschüttelt. Mit wütenden Zischgeräuschen kroch die Schlange durch ein Loch in der Zeltwand davon.
„Bist du verrückt?", zeterte Charlie. „Das hättest du mir ja wohl vorher sagen können!"
Tal biss sich auf die Lippen und musste sich wegdrehen, damit Charlie ihr Lachen nicht sah. Eine Schande, dass sie keine Kamera dabei hatte! Charlies panisches Gesicht angesichts der Würgepython um seinen Hals war einfach zum Schießen gewesen!
„Ja, ja, du findest das auch noch lustig!", knurrte Charlie, der offenbar doch etwas bemerkt hatte.
Tal riss sich zusammen. Grinsend stand sie auf und strich sich die schwarzen Haarsträhnen aus der Stirn. Dann schlenderte sie langsam auf ihn zu und ließ ihre flache Hand über seine Schulter gleiten. „Diese Gryffindors halten sich für mutig und haben Angst vor kleinen, harmlosen Schlangen!", bemerkte sie kopfschüttelnd.
„Ich hab keine Angst!", behauptete Charlie stur. „Ich bin nur nicht besonders ... an sie gewöhnt, das ist alles!"
Tal legte den Kopf schief. „Du arbeitest doch mit großen Schlangen", stellte sie lächelnd fest. „Und dann sagst du, du bist nicht an sie gewöhnt?"
„Drachen sind keine Schlangen!", widersprach Charlie. „Sie sind vollkommen anders."
„Sie sind aber eng mir ihnen verwandt. Außerdem sind Drachen viel größer."
„Genau deswegen lassen wir sie auch nicht frei ´rumlaufen!", entgegnete Charlie, noch immer nicht bereit, nachzugeben. „Und direkt klein ist deine ... Python auch nicht, wenn ich mal so sagen darf. Verdammt, die ist doch an die fünf Meter lang!"
„Drei", antwortete Tal und strich mit den Fingerspitzen über das Brandmal auf seinen Oberarm. Charlie blickte sie mürrisch an, schob ihre Hand jedoch nicht weg.
„Tut das weh, so´n Brandy zu machen?", fragte sie beiläufig.
Ihr plötzlicher Themenwechsel schien ihn zu irritieren. „Geht so", antwortete er verwirrt.
Tal musste lächeln. Einige Wimpernschläge lang blickten sie sich nur in die Augen. Der Ärger schien schließlich von ihm zu weichen, und Tal wurde plötzlich gewahr, dass sich sein Gesicht immer mehr dem ihren näherte. Abrupt ließ sie den Arm sinken.
„Ich muss Serpensia suchen gehen!", erklärte sie übergangslos. Ihre Stimme klang wieder neutral und ein wenig kühl. Charlie blickte sie an und holte tief Luft. Ehe er etwas erwidern konnte, hatte sie sich schon umgedreht und war aus dem Zelt gehuscht. Mit gerunzelter Stirn schaute er ihr nach.
Ma´am, manchmal bist du mir wirklich ein Rätsel!
