7. Widersprüchliche Gefühle
„Okay", rief Steve Brown und sprang auf. Die Schatten der Flammen tänzelten auf seinem Gesicht und gaben ihm, passenderweise, ein geheimnisvolles, etwas ungestümes Aussehen. „Da stand ich nun also – allein auf dieser Waldlichtung. Nichts weiter als meinen Zauberstab in den bloßen Händen. Und vor mir dieser riesige Ungarische Hornschwanz. Ich schickte ihm einen Imperius-Fluch auf den Hals – doch dieser zeigte keinerlei Wirkung. Der Fluch prallte einfach so an dem stahlharten Drachenpanzer ab. Das einzige Resultat meiner Aktion war, dass der Hornschwanz nur noch wütender und gereizter auf mich losging. Unter lautem Brüllen spie er einen Flammenberg, und ich rollte mich blitzschnell zur Seite. Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Würde ich das gigantische Tier in Atem halten können, bis Hilfe aus dem Zaubereiministerium eintreffen würde? Oder würde ich bis dahin durchgeröstet sein wie ein Grillhähnchen!"
Auf den umliegenden Gesichtern zeigte gespannte Begeisterung. Als Steve den letzten Satz aussprach, gab es vereinzeltes Gelächter und zustimmende Pfiffe. Beinahe jeder der Drachenforscher hatte Steves Geschichten schon einmal gehört (und weniger als die Hälfte davon geglaubt), aber die Art, wie er sie am Lagerfeuer vorzutragen pflegte, hatte jedes Mal etwas unterhaltendes, fesselndes. Steve verstand sich wirklich bestens darauf, die Aufmerksamkeit seiner Kollegen an sich zu fesseln. Ob seine Geschichten nun wahr waren, oder nicht, im Grunde kümmerte es niemanden, solange er sie nur ordentlich ausschmückte und von Mal zu Mal mit extremeren und furchterregenderen Details gestaltete.
Steve zog dem Leiter der Forschungscamps, Mr. McDougal, in elegantem Schwung den Zauberstab aus der Tasche und schwenkte ihn ausladend durch die Luft. „Ich schickte ihm einen Versteinerungszauber auf den Hals – stupor!", rief er, und diejenigen Zuhörer, die in seiner Schusslinie saßen, wichen kreischend den Blitzen seines Zauberstabes aus. Steve grinste entschuldigend. „Ups, Verzeihung, Leute! Ich schickte ihm also einen Versteinerungszauber auf den Hals – doch auch damit hatte ich keinen Erfolg. Der Drachenpanzer eines Ungarischen Hornschwanz` ist hart wie ein Stahlpanzer. Hart wie ein Stahlpanzer, sage ich euch!"
„Wissen wir, Steve!", kam ein Zwischenruf aus der Zuhörermenge. „Jetzt erzähl uns endlich, wie du den furchterregenden Hornschwanz besiegt hast!"
Die jungen Zauberer neben ihm brachen in Gekicher aus. Von den anderen Seiten jedoch drangen verärgerte schhh´s und „Ruhe!"-Rufe. Steve atmete betont langsam ein, offenbar entschlossen, den Störenfried eiskalt zu ignorieren.
„Die Furcht drohte mich zu lähmen.", rief er. „Ich sah mich nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, angesichts des Todes, dem ich nun Auge in Auge gegenüber stand. Doch da kam mir eine Idee – wenn ich schon vor lauter Furcht gelähmt und kampfunfähig war, weshalb sollte ich es dem Drachen nicht mit gleicher Münze heimzahlen? Und so griff ich meinen Zauberstab mit zitternder Hand – betend, dass ich die richtige Stelle treffen möge – und rief laut in die Nacht: Impedimenta!"
Diesmal hatte Steve vorsorglich nach oben gezielt, und zischend und funkensprühend verschwand der Zauber im wolkigen Nachthimmel.
„Aus weit aufgerissenen Augen beobachtete ich, wie sich die Bewegungen meines Angreifers zögernd verlangsamten. Bald schon trottete er wie in Zeitlupe auf mich zu. Mir wurde bewusst, dass mein Zauber ihn an einem seiner Augen getroffen haben musste – der schwächsten Stelle eines jeden Drachen. Ermutigt durch das Glück, das mir offensichtlich hold war, startete ich einen erneuten Angriff. Ohne mir bewusst zu sein, was ich tat, rannte ich unter den Vorderpranken der Drachen hindurch, der – noch immer von meinem Zauber verlangsamt – weder nach mir treten, noch mit dem Schwanz umpeitschen konnte. Ich richtete den Zauberstab von unten gegen seine ungeschützte Brust – Imperius! – und sogleich war der Drache zahm wie ein Schoßhündchen, meinem eisernen Willen unterlegen!"
Er endete, es gab wohlwollenden Applaus von allen Seiten. Steve, sichtlich zufrieden mit sich, hob abwehrend die Hände, aber verneigte sich dennoch tief, ehe er sich wieder auf seinen Platz im Kreis setzte. Abrupt wich die Ruhe aus seinen Kollegen. Unterbrochene Gespräche wurden wieder aufgenommen, Getränke herumgereicht und lange Stöcke, an deren Spitzen Marshmallows steckten, ins Feuer gehalten.
„Ich hielt den Drachen die ganze Nacht lang in Schach", berichtete Steve unverdrossen seinen nächstsitzenden Nachbarn weiter. „So lange dauerte es, bis die Schnarchnasen aus dem Ministerium eintrafen. Ohne mein Einschreiten hätte der Drache wohl den gesamten Wald in Brand gesetzt!" Er grinste zufrieden in die Runde.
Tal, die sich gerade zu den anderen ans Feuer gesellte, hob den Kopf. „Sei nicht prahlerisch", rief sie zu ihm herüber, „es könnte jemand dabei sein, der dich als Kind gekannt hat!"
Steve blickte sie an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sein aufkeimender Ärger verstärkte sich rapide, als er sah, dass einige junge Zauberer um Tal herum auch noch zu lachen anfingen und ihr zustimmend auf die Schulter klopften. Wutschnaubend wandte er sich nach Charlie um. „Die Neue!", schimpfte er aufgebracht. „Was bildet die sich überhaupt ein? Was glaubt sie, wer sie ist, heh? Unverschämtheit!"
Charlie, der sich vor Lachen kringelte, schlug seinem Kollegen aufmunternd auf die Schulter. „Ach Steve, alter Knabe! Sei nicht sauer, wir meinen es nicht so. Obwohl ...", er legte eine kurze Pause ein und dachte nach, „ich finde, an ihren Worten könnte ein Fünkchen Wahrheit dran sein, meinst du nicht auch? Vielleicht solltest du vor´m Schlafengehen mal drüber nachdenken, Kumpel!"
Steve betrachtete Charlie, als ob auch er nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Kopfschüttelnd drehte er sich weg und nahm einen tiefen Schluck Bier aus seinem Glas.
Mit einem Mal wurde die umliegende nächtliche Stille von lauten Rufen durchschnitten. Unvermittelt verstummten die meisten Gespräche; Charlie, Steve und die anderen drehten sich verwirrt um.
„Was ist los?", zischte Steve und spitzte die Ohren. Die Antwort erfolgte prompter als ihm lieb gewesen wäre. Wütendes Drachengebrüll ließ die Zelte erzittern, begleitet mit dem Geräusch reißenden Stoffes und krachenden Metallstangen. Im selben Moment erhellte eine bläulichweiße Stichflamme die Finsternis. Die Zauberer sprangen alarmiert auf.
„Es ist die Ägyptische Sandechse!", rief Cecile, eine besonders junge Drachenforscherin mit langen blonden Haaren. „Sie ist durch den Zaun gebrochen und wütet jetzt zwischen den Zelten rum!"
„Das haben wir gleich!", antwortete Charlie und lief in die Richtung, aus der der Lärm zu kommen schien. Mehrere seiner Kollegen, bewaffnet mit ihren Zauberstäben, folgten ihm unverzüglich.
Steve reagierte nicht ganz so eilig. „Bist du sicher, dass der Drache durch den Zaun gekommen ist?", fragte er die blonde Hexe skeptisch. „Vorhin haben wir doch noch alles gemeinsam kontrolliert!"
Cecile seufzte. „Ich bin sicher, Steve! Wenn du es genau wissen willst, der Drache hat gerade dein Zelt umgenietet!"
„Mein Zelt? Ahh, so ein verdammter Mist!" Sein Glas von sich schmeißend, sprang Steve auf und wetzte los, kehrte jedoch noch einmal zurück, um seinen Zauberstab zu holen. Wie von der Tarantel gestochen stürmte er auf die in dichtem Nebel liegenden Zelte zu, jeden wegschupsend, der ihm dabei in die Quere kam. Cecile und ein paar andere liefen kopfschüttelnd hinter ihm her.
Tal blieb allein vor dem Lagerfeuer zurück. Sie blickte ihnen nach. Ihr erster Impuls war es gewesen, den Kollegen zu folgen, doch irgendetwas in ihr hatte sie zurückgehalten. Wie gebannt starrte sie in die Flammen.
Eigentlich brauchten die anderen ihre Hilfe ja auch gar nicht. Die Anzahl der Gruppe war mehr als genug – an die dreißig Mann – um den tobenden Drachen in Schach zu halten. Und sie – ja, sie selbst hatte etwas anderes zu tun. Etwas anderes und sehr viel wichtigeres!
Da war es wieder, das seltsame und drängende Gefühl in ihr. Sie verstand es immer noch nicht, doch sie zögerte keine Sekunde lang dabei, es zu befolgen.
Die Gelegenheit ist günstig, sprach eine Stimme in ihrem Kopf. Günstig, ja, nur für was?
Begib dich zum Ostzaun des Geheges!, sagte die Stimme weiter. Gib acht, dann wird dich niemand sehen.
Tal starrte weiterhin in die Flammen. Langsam, fast unmerklich nickte sie folgsam mit dem Kopf und setzte dann vorsichtig Fuß um Fuß rückwärts, bis sie aus dem Lichtkegel des Feuers hinausgetreten war. Als sie sich umdrehte und vorwärts ging, schien es jedoch, als spiegelten ihre Augen noch immer das Licht der Flammen wider, denn sie glühten in einem seltsam stechenden Rot. Lautlos und immerfort um sich schauend schlich Tal auf den Zaun zu. Heute jedoch sprang sie nicht über ihn hinweg, sondern schlängelte sich, flach auf die Erde gepresst, unter dem niedrigsten Balken hindurch. Rechts von ihr im Osten erstreckte sich eine gewaltige Bergkette. Sie rief sich die Worte in Erinnerung, die sie sorgsam wie einen wertvollen Schatz in ihrem Gedächtnis verwahrt hatte. Kurz vor dem Ostzaun. Am Fuß des Berges. Ja, hier war sie richtig!
Aufmerksam und geräuschlos, fast wie ein Luchs auf Beutefang, pirschte sich Tal langsam über den felsigen Berghang. Sie hielt in der Bewegung inne und lauschte. Nein, es half nichts – mochte sie doch die Geräuschlosigkeit des Luchses besitzen, sein Gehör besaß sie bei weitem nicht. Ebenso wenig vermochte sie, gleich einer Raubkatze in der Dunkelheit zu sehen. Und je weiter sie sich vom Lagerfeuer entfernte, umso dunkler und nebliger wurde die Nacht es um sie herum.
Tal zuckte die Schultern und griff nach ihrem Zauberstab. „Lumus!", flüsterte sie, so leise wie sie nur konnte.
Sofort begann die Spitze des Zauberstabs an zu leuchten. Der Lichtkegel, den er warf, war nicht besonders raumgreifend, doch für Tals Zwecke reichte es vollkommen. Als sie noch etwa hundert Schritte weiter gegangen, hielt sie plötzlich wie erstarrt inne. Keine zwei Meter vor ihr lag ein überdimensionaler Schlangenkörper mit vier kurzen Beinen, zusammengerollt auf einer Art Nest. Die graublaue Schuppenhaut hob und senkte sich regelmäßig und aus den Nüstern stieg beim Ausatmen dicker Rauch. Es war der Lindwurm.
Sorgsam darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu machen, hob Tal langsam ihren Zauberstab und schwenkte ihn leicht durch die Luft.
„Dormi!", rief sie klar und deutlich. Beim Klang ihrer Stimme fuhr der Kopf des Drachen alarmiert hoch, doch als der Zauber einen Sekundenbruchteil später wirkte, fielen seine Augen bereits wieder ermüdet zu. Der Kopf krachte auf die mächtigen Pranken, dass der Fels erschütterte. Tal hatte ihn in Tiefschlaf versetzt.
Die nächsten vierundzwanzig Stunden würde er kein Auge mehr auftun, das stand fest. Erneut zückte Tal ihren Zauberstab und richtete ihn auf den schlafenden Drachen.
Verflixt!, dachte sie. Wie war doch gleich der Spruch, der Gegenstände zum Schweben brachte? Oh nein. Hätte ich doch nur bei Professor Flitwick besser aufgepasst! Eine Weile stand Tal unschlüssig da.
Wingardium Leviosa, sagte plötzlich die dunkle Stimme in ihrem Kopf.
Tal zuckte zusammen. „Wingardium Leviosa!", wiederholte sie prompt und schwenkte den Zauberstab.
Auf ihre Worte hin stieg der gewaltige Drachenkörper langsam in die Höhe und schwebte zur Seite, so sanft, als wäre er nicht schwerer als eine Wolke. Ein Lächeln huschte über Tals konzentriertes Gesicht. So besiegen schlaue Zauberer einen Drachen, Steve! Übertölpeln ihn einfach im Schlaf. Vielleicht solltest du dir an den Slytherins mal ein Beispiel nehmen, du könntest noch einiges von uns lernen ...
Tal unterbrach sich in ihrem Triumph, als sie den Drachenkörper behutsam neben dem Nest abgelegt hatte. Da war etwas, das ihre Aufmerksam vollkommen für sich beanspruchte und das nun unter freiem Himmel lag. Die Lindwurmeier! Ihre rotglühenden Mandelaugen rissen weit auf vor Begeisterung. Unverzüglich fühlte sie sich von den Eiern auf stärkste Weise angezogen, wie Eisen von einem Magneten, doch mit dem Unterschied, dass dieses Phänomen sicher nicht physikalisch erklärbar war. Eher war es ein dumpfes Gefühl ganz tief in ihrem Innern. Und eine schlagartige Erinnerung durchzuckte sie. Ihr war, als hätte sie ein ebensolches Gefühl schon einmal erlebt, und zwar – seltsamerweise – in London, in der Nokturngasse. Doch sie konnte sich nicht entsinnen, was sie dort zu suchen gehabt hatte.
Mit zitternden Händen steckte Tal ihren Zauberstab in die Tasche und griff nach den Dracheneiern. Eine seltsame Habgier hatte sich mit der Anziehungskraft vermischt und das, was am Ende herauskam, war ein kribbelndes, nie gekanntes Gefühl des Verlangens. Nie hätte sie gedacht, dass sie etwas so reizen, so vollkommen einnehmen könnte wie diese Dracheneier. Was war an ihnen nur so Besonderes, dass sie so viel dafür riskierte? Tal fand keine logische Erklärung, doch das kümmerte sie herzlich wenig. Nicht einmal ihre Begeisterung für die Drachen oder für ihre geliebte Serpensia waren mit diesem neuem, erwachten Gefühl vergleichbar; in der Tat schien ihr alles andere mit einem Mal unwichtig geworden. Nein, das hier war etwas völlig anderes!
Ich sollte eines der Eier mitnehmen!, dachte sie. Nein, lieber zwei, falls eines kaputt geht ... oder doch besser drei? Nein, am besten alle!
Ohne ihre Habgier stoppen zu können, lud sich Tal immer mehr der kopfgroßen, hellgrauen Eier auf die Arme, bis das Nest schon fast leer war. Sie wandte sich um und wollte zu ihrem Zelt zurück schleichen. Doch im selben Augenblick drang etwas an ihr Ohr, etwas, dass sie auf der Stelle wie angewurzelt stehen bleiben ließ.
Ein Schrei.
Es war nicht einmal ein besonders lauter Schrei. Kein Schrei, der auf Verzweiflung oder Todesangst hätte schließen lassen können, und dennoch löste er irgendetwas in den verstecktesten Tiefen von Tals Herzen aus. Sie öffnete die Arme und ließ achtlos die Eier fallen, die beim Aufschlag auf den harten Fels augenblicklich zersprangen. Ihre Schultern zitterten. Das Gefühl in ihrem Herzen hielt an. Es war ein tiefes, seltsamerweise etwas schmerzliches Gefühl, doch es erschien ihr inmitten ihrer verschleierten Gedankengänge so real. Bilder erschienen vor ihrem inneren Auge. Sie hörte freudige Stimmen und Gelächter. Und mit einem Mal kroch das Gefühl aus ihrem Herzen in ihren Kopf und rüttelte ihren Verstand wach. Es war wie eine kalte Dusche, die sie augenblicklich zur Besinnung brachte. Ihre Augen blickten sich suchend um, und ihre Lippen formten lautlos das einzige Wort, den ihr Verstand mit dem Schrei in Verbindung gebracht hatte. Charlie! Das rote Glühen in ihren Augen erlosch.
Ohne zu zögern lief Tal los. Sie war eine äußerst schnelle Läuferin, doch sie hatte das Gefühl, noch nie in ihrem Leben so schnell gerannt zu sein wie jetzt. Ihre Lungen brannten bei jedem Atemzug. Mit wild pochendem Herzen erreichte sie das Lagerfeuer und erkannte undeutlich eine große Ansammlung von Menschen zwischen den Zelten. Sie holte noch einmal tief Luft und spurtete die letzten fünfzig Meter, bis sie sie erreicht hatte.
Es wurde laut und wild durcheinander geredet. Fünf der Zauberer hatten die Ägyptische Sandechse eingekreist, die immer noch heftig mit den Pranken scharrte und schwarze Rauchwolken ausstieß, und versuchten vorsichtig, sie wieder zurück in ihr Gehege zu treiben. Die übrigen Drachenforscher standen in einzelnen Grüppchen zusammen. Einige saßen oder lagen am Boden, umringt von ihren Kameraden.
Ungeduldig schob sich Tal zwischen ihnen hindurch. Ihr Blick irrte suchend über die vielen Gesichter, die im Schein der allgemein leuchtenden Zauberstäbe zeitweise von Licht gestreift wurden. Doch dann entdeckte sie einen kräftigen Köper am Boden liegend. Sommersprossen auf den Armen, die rötlich schimmernden Haare des Kelten. Es gab keinen Zweifel.
„Charlie!", rief sie und stürzte auf ihn zu, von schrecklichen Vorahnungen gepackt.
Charlie lag flach auf dem Rücken, das Gesicht zum Himmel. Seine Augen waren geöffnet, soviel konnte sie erkennen. An seiner Seite im Sand kniete Steve und sah leicht besorgt aus. Tal rannte zu ihnen, stolperte in ihrer Hast jedoch ungelenk wie ein Rehkitz über ihre langen Beine und wäre beinah der Länge nach hingeschlagen.
„Vorsicht!", rief Steve, sprang hoch und fing sie gerade noch rechtzeitig auf. „Du wirst dir und deinem Freund hier noch sämtliche Knochen brechen, schöne Dame!"
Tals Augen funkelten wütend. „Was ist passiert!", herrschte sie den verdutzten Steve an.
„Charlie und ein paar andere haben was von den Flammen abgekriegt", berichtete er hastig, von Tals zornigem Gesicht offenbar leicht eingeschüchtert. „Wir schaffen sie gleich in unser Krankenzelt."
Tal blickte ihn an und dann zögernd auf Charlie. Die Haut an seiner rechten Schulter und gleichseitiger Schläfe war sichtlich gerötet und wies überall Schwielen und Brandblasen auf. Aus einer Schramme auf seiner Stirn sickerte dunkelrotes Blut in den Sand. Doch sein Atem ging ruhig und gleichmäßig und er schien keine allzu schlimmen Schmerzen zu haben. Als er sie sah, verzog sich sein Gesicht zu einem leichten Lächeln.
„Hey, Ma´am ...", murmelte er langsam und ein wenig schläfrig. „Alles klar, ich lebe noch."
Tal betrachtete ihn prüfend, und die Anspannung fiel langsam von ihr ab. Einem inneren Impuls nachgebend ließ sie sich im nächsten Moment neben ihn in den Sand fallen und schlang die Arme fest um seinen Hals. „Gott, Charlie!", brach es plötzlich aus ihr heraus. „Gott, ich habe mir solche Sorgen gemacht! Ich hab dich schreien gehört! Bist du wirklich okay!"
Charlie verzog ein wenig gequält das Gesicht. „Nicht, Ma´am!", presste er mühsam hervor. „Du erwürgst mich noch ... du alte Würgeschlange! ... Lass los!"
Abrupt ließ Tal ihre Hände sinken und blickte ihn zornig an. Das war ja nun wirklich die Höhe! Sie hatte ernsthaft Angst um ihn gehabt und er machte auch noch Witze!
„Das ist wirklich nicht lustig, Charlie!", antwortete sie streng.
Charlie grinste verträumt vor sich hin. „Ahh, Ma´am ...", murmelte er undeutlich. „Wenn du wütend bist, finde ich dich besonders hübsch, weißt du ...?"
Tal zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. Steve, der alles mit angehört hatte, fing an zu lachen.
„Hat wohl auch noch was auf den Kopf gekriegt, der arme Junge!", stellte er amüsiert fest und boxte Charlie in die Seite.
Charlie blickte ihn verärgert an. „Hey, mach mal zarter, ja? Meine Schulter!"
„Schon gut!", gab Steve nach. „Am besten bringe ich dich selbst ins Krankenzelt! Die anderen kriegen das ja doch nicht auf die Reihe."
Ohne Widerspruch zu dulden zog er den sogleich heftig protestierenden Charlie auf die Füße und schleppte ihn, eine Schulter unter seinen Arm geklemmt, davon.
„Steve, lass das doch! Ich fühle mich schon viel besser, wirklich ..."
Steve drehte sich grinsend nach Tal um und nickte in ironischer Zustimmung mit dem Kopf. Sicher, Charlie, du Held!
Die junge Frau erwiderte seinen Blick und rang sich ein Lächeln ab. Als Steve und Charlie jedoch in der Dunkelheit verschwunden waren, wandte sie sich ab und zog nachdenklich die Stirn kraus. Sie war erleichtert, dass Charlie nichts passiert war. Doch gleichzeitig beschlich sie ein äußerst seltsames, zweifelndes Gefühl. Ein dunkler Schleier schien über ihren Erinnerungen zu liegen und verstärkte sich mit jeder Sekunde. Weshalb war sie eigentlich nicht bei den anderen gewesen? Es war, als wäre ein Teil ihres Gedächtnisses vollkommen ausradiert worden!
Weshalb habe sie Charlie nicht beigestanden?
Sie hatte irgendetwas anderes getan, soviel konnte sie noch mit Klarheit sagen. Doch der Rest ihrer Erinnerung verschwamm bereits in einem Nebel der Vergessenheit. Es musste irgendetwas äußerst Tollkühnes gewesen sein, denn sie glaubte sich an ein seltsames, aufregendes Kribbeln zu erinnern, während sie ... was auch immer tat! Tal kam ein alarmierender Gedanke. Ob es etwas Verbotenes gewesen war? Es war weniger die Tatsache, dass sie eine Vorschrift missachtet haben könnte, als die Erkenntnis, dass sie sich überhaupt nicht erinnern konnte, die sie erschreckte.
Was habe ich bloß getan?
Und endlich meldete sich ihre ureigene Skepsis zu Wort. Die Skepsis bei allem Ungewöhnlichen und Gefährlichen, die sie jedoch, seit der Sache mit dem herkunftslosen Einhornblut, seltsamerweise unter den Teppich gekehrt hatte. Es war ein zaghaftes und kaum spürbares Gefühl – wie ein zögerliches Klopfen an einer Tür – und dennoch war es da und löste etwas in ihr aus: Zweifel.
Zweifel ist das Wartezimmer der Erkenntnis!, schoss es ihr durch den Kopf. Eigentlich war sie es ja gewohnt zu zweifeln – an Hogwarts, an Professor Dumbledore´s Art, die Schule zu leiten, an ihren eigenen Fähigkeiten ... Doch dies alles waren Dinge, die sie genau kannte und einzuschätzen vermochte. Es war die Ungewissheit, die ihr Angst einjagte und sich vor der letztendlichen Erkenntnis fürchten ließ. Wie würde diese Erkenntnis wohl aussehen?
Ich muss vorsichtiger sein!, beschloss sie sofort. Irgendjemand treibt hier ein falsches Spiel mit mir und ich kann niemandem mehr blind vertrauen. Ich bin eine Slytherin – ich werde mich doch nicht überlisten lassen!
Tal ahnte nicht, dass all ihre Zweifel bereits zu spät kamen. Denn ein Teil ihres Herzens war nur allzu bereit dazu, sich überlisten zu lassen, ohne, dass sie sich dessen bewusst war.
