8. Glaube und Misstrauen
„Hey, Doc! Kann ich jetzt endlich gehen?" Charlie lag auf dem Rücken im Krankenzelt und starrte an die Decke, durch dessen Stoff sich der untergehende Schein der Abendsonne hineinverirrte. Die ganze Nacht und fast den ganzen Tag lang hatte er hier liegen und sämtliche Zauber der Kühlung und Heilung über sich ergehen lassen müssen. Und alles wegen der paar Verbrennungen! Ob Tal ihn schon vermisste?
Charlie richtete sich mühsam auf und blickte auf den schmalen Rücken des Arztes, der etwa einen Meter entfernt von seinem Fußende stand und mit Kesseln und Fläschchen hantierte. „Mr. Blackstone, bitte! Wie lange dauert das hier noch?"
Seufzend drehte sich der dünne, hochgewachsene Zauberer um und betrachtete Charlie über den Rand seiner Brillengläser hinweg. „Mr. Weasley, darf ich Sie daran erinnern, dass sie zwei schwere Verbrennungen und eine waschechte Gehirnerschütterung erlitten haben!", erwiderte er streng. „Ihr Kopf scheint mir ja wieder ganz in Ordnung, doch ihre Schulter würde ich gern noch ein paar Stunden beobachten. So lange, bis ich absolut sicher bin, dass der Regenerations-Zauber gewirkt hat!"
„Ein paar Stunden?" Charlie verzog enttäuscht das Gesicht und ließ sich zurück auf die Matratze fallen. Na wunderbar! Noch mehr Stunden, in denen er nichts weiter tun als die Decke anstarren konnte.
Mr. Blackstone räusperte sich. „Allerdings", fügte er zögernd hinzu, „könnte ich mich auch damit zufrieden geben, wenn sie das hier trinken. Aber melden Sie sich in den nächsten Tagen auf jeden Fall noch einmal zur Kontrolle bei mir!" Er reichte Charlie ein Fläschchen, in dem eine glasklare Flüssigkeit schwamm.
Charlie betrachtete sie mit großen Augen. „Was ist das?"
„Ein Trank zur Wiederbelebung Ihrer Hautzellen", antwortete der Arzt mit seiner tiefen Bassstimme. „Wenn Sie schon nicht zur Beobachtung hier bleiben wollen, dann muss ich sichergehen, dass sich die Zellen an ihrer Schultern auch ordnungsgemäß erneuern."
Charlie schraubte den Deckel auf und leerte das Fläschchen in einem Zug. Sofort schüttelte er sich.
„Das ist ja wie Eis!", bemerkte er schaudernd.
Mr. Blackstone nickte zufrieden. "Es hat einen zusätzlichen Kühlungseffekt, der Ihre schweren Verbrennungen hoffentlich lindern wird."
Grinsend sprang Charlie auf und klopfte dem Arzt auf die Schulter. „Danke, Doc! Ich fühle mich schon viel besser!"
„Schön, dann gehen Sie an die Arbeit, Mr. Weasley!", seufzte sein Gegenüber resignierend. „Sie wissen ja, wo Sie mich finden!" Er entließ seinen Patienten mit einem Wink.
Charlie schlüpfte aus dem Zelt und trat ins trübe Sonnenlicht hinaus. Es waren die letzten warmen Tage des Spätsommers und der frühe Herbstwind hatte den Nebel bereits aus den Bergen hereingetrieben. Langsam schlenderte er auf das Drachengehege zu. Eine junge braungelockte Drachenforscherin kam ihm entgegen, die einen Besen in der Hand schwenkte.
„Hey, Charlie!", begrüßte sie ihn freudig. „Wir spielen Quidditch, drei gegen drei, solange es noch hell ist. Machst du mit? Wir könnten den berüchtigten Gryffindor-Sucher brauchen!"
Charlie sah sie an und dann auf ihre Kollegen, die sich mit geschulterten Besen bereits auf den Weg zu einer freigelegten Felsebene gemacht hatten. Beim Gedanken an Quidditch stahl sich unverzüglich ein Lächeln in seine Augen. Doch dann schüttelte er den Kopf.
„Später, Mandy!", antwortete er und die junge Hexe sah äußerst enttäuscht aus.
Als sie gegangen war, beschleunigte Charlie seinen Schritt ein wenig, bis er das Gehege erreicht hatte. Verwundert blickte er sich um. Er hatte gehofft, Tal bei den Drachen zu finden, doch von der zierlichen Hexe fehlte jede Spur. Ein wenig verwirrt zog er die Stirn kraus. Sie hatte sich am gestrigen Abend doch nicht etwa auch verletzt, oder? Undeutlich erinnerte er sich an ihr besorgtes Gesicht und das süße zornige Funkeln in ihren Augen, doch nähere Einzelheiten des Gesprächs waren ihm entfallen. Sein Kopf hatte einfach zu sehr gehämmert! Hoffentlich hatte er keinen allzu großen Blödsinn von sich gegeben?!
Während er weiter um sich schaute, entdeckte er etwa hundert Meter entfernt die blonden Haare von Cecile, die im Wind wehten, und daneben die kräftige Gestalt von Steve. Der dumpfe Schlag eines Hammers drang an sein Ohr und kurz darauf ein wütender Schmerzschrei von Seiten seines männlichen Kollegen. „Verdammt, Cess, mein Daumen! Kannst du nicht ordentlich zielen?!" Anscheinend waren sie gerade dabei, den Zaun zu reparieren. Charlie zögerte einen Moment, trabte dann aber kurzentschlossen auf sie zu.
Als seine Schritte näher kamen, blickte Steve auf. „Ah, da kommt ja unser Held!", grinste er ironisch. „Wie geht´s deinem Kopf, Charlie? Alles wieder klar?" Er hob seinen Hammer und ließ einige angedeutete Schläge auf Charlies Stirn krachen.
Charlie wich grinsend seinen Attacken aus. „Ja, ja, alles wieder im grünen Bereich! Und bei euch beiden? Kommt ihr voran?"
„Mehr oder weniger!", stöhnte Cecile und griff nach einem Nagel aus Steve´s Händen. „So was ist seit Jahren nicht passiert! Unser Schutzzauber hat die Drachen doch bisher immer gut vom Zaun abgehalten, oder?"
„Vielleicht haben wie ´ne Stelle vergessen?", mutmaßte Steve.
Cecile setzte den Nagel an und hämmerte mit ungehaltenen Schlägen den neuen Balken am Pfahl fest. „Das glaube ich nicht!", antwortete sie ärgerlich. „Das hätten wir doch schon längst gemerkt. Ich habe von Anfang an die Meinung der anderen, dass es ein Unfall war, nicht geteilt."
Ungläubig blickten Charlie und Steve einander an. „Kein Unfall?", hakte Steve stirnrunzelnd nach. „Was denn dann? Du willst doch nicht etwa behaupten, dass - ?"
„Doch, genau das behaupte ich!", nickte Cecile. „Nur ein Zauberer könnte meinen Schutzwall durchbrechen. Macht mal Platz!"
Sie schob die beiden Kollegen zur Seite und richtete ihren Zauberstab auf den frisch befestigten Balken. „Claudo dracones!", rief sie. Ein violetter Sprühregen legte sich auf das Holz, umschloss es und wurde auf seiner Oberfläche unsichtbar. Von nun an würde es jeden Drachen abhalten, der sich in seine Nähe wagte.
„Glaubst du wirklich, dass es jemand von uns war?", fragte Charlie skeptisch, als Cecile ihr Werk vollendet hatte.
Mit hochgezogenen Brauen blickte sie ihn an. „Nun, Drachen können nicht zaubern, soviel ich weiß!"
„Aber wer sollte so was tun? Wer sollte einen Drachen aus dem Gehege lassen? Und warum?"
Cecile zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber wenn ich den Witzbold erwische, der sich diesen Scherz erlaubt hat, dann verwandle ich ihn eigenhändig in einen Frosch!"
„Dabei werde ich dir gerne behilflich sein!", stimmte Steve zu und kletterte über den Zaun. Im Schwung flog ihm der Hammer aus der Hand und landete vor den Tatzen eines kleinen, scharlachroten Drachen, der sogleich ein erschrockenes Brüllen ausstieß.
„Pass auf den Chinesischen Feuerball auf!", warnte Cecile und warf ihm einen strengen Blick zu.
Steve näherte sich vorsichtig dem gereizten Drachen und klaubte hastig seinen Hammer auf, bevor er wieder zu seinen Freunden zurückeilte.
„Er frisst ja wieder!", stellte Charlie überrascht fest. „Sagtet ihr nicht, er wäre aufgrund der fehlenden Kamelien in Hungerstreik getreten?"
Cecile nagelte einen neuen Balken am Zaun fest. „Wir glaubten, es wäre der Duftstoff, der ihn anlockt", antwortete sie. „Aber Tal war der Meinung, der Drache wäre nur auf die knallgelbe Blütenfarbe fixiert. Sie hat ihm kurzerhand Löwenzahn untergejubelt, die Farbe noch ein wenig mit dem Zauberstab intensiviert, und der Drache hat es geschluckt – im wahrsten Sinne des Wortes." Sie grinste. „Gar nicht so dumm!"
„Wo ist sie jetzt?", fragte Charlie.
„Wer? Tal?" Cecile schaute sich suchend um und hob die Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht in ihrem Zelt. Eigentlich hat sie ja erst in einer Stunde Feierabend, soviel ich weiß."
„Das gnädige Fräulein Chang arbeitet doch sowieso nur, wann es ihr passt!", fügte Steve mit einem fiesen Grinsen hinzu. „Hat sie uns etwa geholfen, die Sandechse einzufangen? Hat sie uns geholfen, den Zaun zu reparieren? Nein! Hey, Charlie, wo willst du denn hin?"
Charlie, der sich gerade zum Gehen gewandt hatte, drehte sich um. „Na, zu ihr natürlich", antwortete er, als wäre es das Normalste von der Welt.
Vielsagend wechselten Steve und Cecile einen Blick. Es war Charlie nicht entgangen. „Was denn ... ?", fragte er misstrauisch und hob die Arme.
„Naja, die Lotusblüte scheint es dir ganz schön angetan zu haben, was?", grinste Steve. „Okay, ich gebe zu, sie sieht nicht übel aus, aber wenn du mich fragst – sie hat sie doch nicht mehr alle beisammen! Hast du diesen eiskalten Blick gesehen, den sie immer drauf hat? Kalt wie ein Gespenst – hhhuuuuu!", machte er und Cecile ließ erschrocken den Hammer fallen.
„Spinnst du, Steve!", fauchte sie wütend, als sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte.
Auch Charlie fand es nicht besonders lustig, wenn auch aus anderen Gründen. „Hör auf, so über sie zu reden, Steve!", antwortete er ruhig. „Du kennst sie doch gar nicht."
„Und altklug ist sie auch noch!", fuhr Steve unbeeindruckt fort, der Tal offenbar noch immer nicht verziehen hatte, wie sie ihn am Lagerfeuer zurechtgewiesen hatte. „Glaubt wohl, sie wüsste über alles und jeden Bescheid! Denkt, sie hätte die Weisheit für sich gepachtet, was?"
Charlie schüttelte den Kopf. „Okay, vielleicht ist sie ein wenig eigen mit ihren Vorstellungen ... und am Anfang ist sie ein bisschen, nun ja, reserviert gewesen, aber ... ich hab sie kennen gelernt. Nach außen hin ist sie ein wenig kühl, aber ich glaube, unter der harten Schale verbirgt sich ein äußerst weicher Kern!"
„Ach ja?" Steve hob zweifelnd eine Augenbraue.
„Sie hat durchaus Sinn vor Humor!", platzte Charlie heraus. Seine Augen bekamen ein leichtes Funkeln. „Und sobald es um Drachen geht, blüht sie regelrecht auf! Sie ist süß und sie ist sogar verdammt klug. Du hast es eben selbst gesagt!"
Steve betrachtete ihn kopfschüttelnd und hob resignierend die Arme. „Charlie, du bist einfach zu gut für diese Welt!", stellte er fest, und Cecile, die bisher alles schweigend mit angehört hatte, nickte zustimmend.
Zweifelnd blickte Charlie vom einen zum anderen. Bis eben war er nicht sicher gewesen, ob sie ihn nicht einfach nur aufziehen wollten, doch offenbar meinten sie es beide todernst. Und einig schienen sie sich in ihrer Sache auch noch zu sein – was ja nun wirklich selten genug vorkam!
„Ach, ihr beiden wisst einfach nicht, was ihr da redet", antwortete er halb amüsiert, halb ernst. „Ich werde sie jetzt jedenfalls suchen, egal, was ihr davon haltet!"
Grinsend drehte er sich um und ließ seine Freunde am Zaun stehen, die ihm seufzend hinterher sahen.
