10. Das Erwachen
Tals Zelt lag im Schatten des Berges, hinter dem die Sonne versank und den Himmel blauviolett malte. Drinnen musste es schon vollkommen dunkel sein, doch Tal schien kein Licht angezündet zu haben. Ob sie etwa schon schlief? Charlie blieb zögernd vor dem Zelt stehen. Vielleicht war sie ja auch gar nicht da? Doch gerade hatte er sich entschlossen, einfach nachzusehen, als er plötzlich eine Stimme aus dem Zeltinnern vernahm – eine dunkle Frauenstimme war es, scharf und entschlossen. Charlie konnte nicht genau verstehen, was sie sagte, doch nach einer Weile unterbrach sie sich und schwieg einige Sekunden, um dann von neuem zu sprechen. Fast so, als hätte sie der stummen Antwort eines Gesprächspartners gelauscht. Charlie hielt verwirrt inne. War es Tal, die da sprach? Die Stimme hätte gut die ihrige sein können, obgleich er diesen kalten, entschlossenen Ton noch nie bei ihr gehört hatte. Und im selben Moment war ihm, als schiene ein seltsames, mattrotes Licht durch die dünnen Stoffwände des Zelts. Charlie zögerte nicht länger, sondern zog entschlossen den Reißverschluss hoch und spähte misstrauisch durch die Öffnung. Was er sah, ließ ihm den Mund offen stehen.
Tal saß im Schneidersitz und mit kerzengeradem Rücken auf dem Boden und hatte das Kinn gereckt. Direkt ihr gegenüber lag ihre Python. Die Schlange hatte den langen Körper eingerollt und nur das Halsende nach oben gestreckt, so dass ihre Augen und die Tals auf gleicher Höhe waren. Das allein wäre vielleicht noch nichts ungewöhnliches gewesen – doch es waren die Augen der Python, die Charlie vor Schreck erstarren ließen. Ihre Pupillen erstrahlten ihn einem solch stechenden, blendenden Rot, dass er kaum hinsehen konnte, und Tals braune Augen schienen die gleiche, grelle Farbe angenommen zu haben. Ein feiner, rotweißer Nebel hatte die Hexe und die Schlange umhüllt. Charlie war, als flösse er unaufhaltsam aus dem winzigen roten Stein, der an dem Halsband der Schlange baumelte.
„Ich verstehe, mein Gebieter", sagte Tal gerade mit dunkler, schneidender Stimme. „Was soll ich tun, wenn ich die fehlende Zutat beschafft habe?"
Sie schien eine Antwort abzuwarten, denn ihre rötlich funkelnden Augen blickten aufmerksam und konzentriert in die der Schlange. Ihre Worte lösten Charlie aus seiner Starre. Hastig kroch er durch die Zeltöffnung, stürzte auf Tal zu und packte ihre Schultern mit beiden Händen.
„Tal! Was geht hier vor?! Kannst du mich hören? Tal!" Sie reagierte nicht. Verzweifelt griffen Charlies Hände fester zu und schüttelten sie, so dass ihr Kopf vor und zurück schlug und ihre Haare durcheinander wirbelten. Endlich schien sich die Spannung aus ihrem Körper zu lösen. Wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt waren, sank sie kraftlos in sich zusammen. Charlie konnte sich gerade noch rechtzeitig auffangen, ehe sie mit dem Rücken auf den harten Boden kippte.
Tals Augen hatten sich geschlossen, schlugen jedoch einen Moment später wieder auf und blinzelten Charlie dunkel und ein wenig schlaftrunken an.
„Charlie", murmelte sie lächelnd, als sie ihn erkannte. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie vollkommen wach war, doch dann begann ihr Verstand deutlich sichtbar zu arbeiten. Langsam legte sich ihre Stirn in Falten. „Was tust du hier?!"
„Dasselbe wollte ich dich gerade fragen!", erwiderte Charlie, dem der Schreck mitunter alle Farbe aus dem Gesicht getrieben hatte. „Mit wem hast du gesprochen? Wer zur Hölle ist dein Gebieter!? Und was hast du mit ... der fehlenden Zutat gemeint, die du beschaffen sollst?"
Tal sah aus, als verstünde sie kein einziges Wort. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst", sagte sie ruhig, konnte die aufkeimende Furcht jedoch nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen. „Ich habe geschlafen und dann hast du mich geweckt. Genau wie gestern. Mehr weiß ich nicht."
„Du erinnerst dich tatsächlich nicht?!" Charlie blickte fassungslos auf sie hinab. „Du hast mit jemandem gesprochen! Ich habe es laut und deutlich gehört. Du nanntest ihn deinen Gebieter ... und deine Schlange -" sein Blick wanderte zu Serpensia, die den Kopf auf ihr Schwanzende gelegt hatte und sie starr und ohne zu blinzeln beobachtete – „sie hatte rot glühende Augen und ihr ward in einen Nebel gehüllt. Tal, bei aller Tierliebe, aber irgendwas mit dieser Schlange ist nicht normal!"
Tal blickte ihn an. Im selben Moment wurde Charlie klar, dass er die letzten Worte besser nicht aufgesprochen hätte. „Meine Schlange?", wiederholte sie langsam, und die Skepsis war deutlich aus ihren Worten heraus zu hören. „Natürlich ... sie war dir ja von Anfang an ein Dorn im Auge! Wie kommst du nur dazu, dir solch eine absurde Geschichte auszudenken? Etwa nur, um mich dazu zu bringen, sie los zu werden?" Mit funkelnden Augen befreite sie sich hektisch aus seinen Armen, als ob sie irgendetwas Giftiges gestochen hätte. „Dass du so weit gehst, hätte ich nicht von dir gedacht!", fügte sie giftig hinzu.
„Tal, du weißt genau, dass ich mir so eine absurde Geschichte nicht ausdenken würde", protestierte Charlie, doch Tal schien ihm kein Wort zu glauben. Ihre Miene verhärtete sich angesichts seiner Worte nur noch um einen Hauch mehr. Wenn sie vorher schon skeptisch gewesen war, stand ihr das Misstrauen nun offen ins Gesicht geschrieben. „Alles was ich weiß ist, dass irgendjemand hier ein falsches Spiel mit mir treibt!", entgegnete sie, und auf einmal blickten ihn ihre dunklen Augen an, als sähen sie ihn zum ersten Mal. „Wie bist du überhaupt hier reingekommen?", fragte sie forschend. „Ich habe dich überhaupt nicht gehört!"
Doch Charlie achtete kaum auf sie. Seine Gedanken rasten. Er glaubte ihr, dass sie sich wirklich nicht erinnerte, doch gerade das machte die Sache ja so erschreckend! Keinen Augenblick zweifelte er daran, dass seine Augen ihn nicht getrügt hatten, er sah das Bild noch immer klar und deutlich vor sich. Die Schlange ... ! Was hatte Tal ihm noch gleich über sie erzählt? Eine unheilvolle Vorahnung überkam ihn mit einem Male und er fuhr sich hektisch durch´s Haar.
„Die Schlange!", brach es aus ihm heraus. „Oh, ich bin so ein Vollidiot! Da erzählst du mir noch, sie sei für Lucius Malfoy gewesen, und ich rate dir auch noch zu, sie zu behalten! Aber ich hatte halt gedacht, ihr Slytherins würdet alle dieses ... naja, harmlose, wie ihr es nennt, Faible für Schlangen teilen!"
Tal musterte ihn unbeweglich, doch das wütende Funkeln ihrer Mandelaugen erlosch nicht. „Worauf willst du hinaus?", fragte sie langsam, fast bedrohlich.
Charlie holte tief Luft. „Tal, bitte ... es ist wichtig, dass du mir jetzt genau zuhörst! Es besteht seit Jahren das Gerücht, dass dieser Malfoy zu den ... Todessern gehört, den Anhängern von Du-weißt-schon-wem! Und dieser Jemand, den du eben mit Gebieter angeredet hast – was ist, wenn ..." Er stockte, brachte es jedoch nicht über sich, seine schlimmsten Vermutungen auszusprechen. Was ist, wenn der dunkle Lord die Schlange zur Kommunikation mit seinem Todesser verwenden wollte?
Tals Lippen zitterten leicht. Als sie antwortete, klang ihre Stimme jedoch kaum beeindruckt. „Was verzapfst du da bloß für einen Haufen Drachenmist, Charlie!", zischte sie. „Ich, und Lord Voldemord dienen? Du bist derjenige, der hier nicht ganz normal tickt, nicht Serpensia!"
Unwillkürlich war Charlie zusammengezuckt, als sie den Namen des dunklen Lords in aller Gelassenheit ausgesprochen hatte. Ihre scheinbare Ruhe jagte ihm jedoch nur noch mehr Schrecken ein. Er konnte einfach nicht fassen, wie Tal so widerspenstig, so vollkommen ignorant auf alles Fragwürdige reagieren konnte, bloß weil es ihre geliebte Python betraf. Zumindest nachdenken müsste sie doch über seine Worte! Doch ihm war klar, dass er mit seinen wilden, aus Panik zeugenden Spekulationen bei ihr nicht weiterkam. Er holte tief Luft und dämpfte seine Stimme ein wenig. „Tal! ... bitte, ich weiß nicht, was es mit deiner Schlange wirklich auf sich hat. Aber nach dem, was ich gesehen habe, habe ich einfach kein gutes Gefühl bei der Sache. Zunächst habe ich deine Neigung zu diesen Viechern ja lediglich ... naja, halt nicht geteilt, aber ich habe es toleriert. Wirklich! Weil ich dich, mal abgesehen von deinem Schlangenvieh, nämlich verdammt gut leiden kann! Aber jetzt mache ich mir ernsthaft Sorgen um dich!"
„Sorgen!" Tal spuckte das Wort förmlich aus. „Um wen machst du dir Sorgen? Um mich? Ich weiß nicht, was du damit bezweckst, Charlie, aber Serpensia war mir immer eine kluge und treue Beraterin und ich würde keinen Schritt mehr ohne sie machen! Und dass du sie nicht magst, brauchst du mir nicht zu sagen. Du erinnerst mich täglich daran!" Verächtlich schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht, was du im Schilde führst, Charlie", wiederholte sie, „aber wahrscheinlich wäre dir nichts lieber, als wenn ich Serpensia in den Wind schicke!"
„Allerdings!", fuhr Charlie scharf auf, der sich nun, trotz aller Mühe nicht mehr beherrschen konnte. „Pack sie in ein Paket und schick sie diesem verdammten Malfoy zurück! Oder jag sie am besten gleich davon. Tal, wann kapierst du endlich, dass das, was du hier machst, gefährlich ist!"
Tals skeptische Miene gefror zu Eis. Da war es wieder, das Gesicht der Sphinx, so wie es ihm ganz zu Anfang gegenüber gestanden hatte – ausdruckslos und wie versteinert. Doch diesmal schien es ihm beinahe unmöglich, die harte Fassade zu durchbrechen. Als Tal antwortete, klang ihre Stimme klar und deutlich und unerschütterlich wie ein Fels. „Ich werde nichts dergleichen tun", sagte sie stur.
Erschöpft schüttelte Charlie den Kopf. „Vielleicht hatten Steve und Cecile doch Recht", murmelte er undeutlich. „Du bist altklug, dickköpfig und nichts als arrogant!"
Etwas in Tals Miene schien sich bei diesen Worten zu regen. Ihr Mund zuckte kaum merklich und in ihre Augen trat das halb verletzte, halb zornige Funkeln zurück. „Du bist gemein!", antwortete sie. „Du willst mich einfach nicht verstehen! Das ist typisch für dich, eingebildeter Gryffindor! Erst einen auf verliebt machen, aber dann dein wahres Gesicht zeigen ... du bist wie dein Bruder!", sagte sie plötzlich.
Charlie blickte verwirrt hoch. Für einen Moment verdrängte die Unverständnis seinen Zorn.
„Mein Bruder?", fragte er. „Welcher denn, bitteschön? Ron, Fred, George ... doch wohl hoffentlich nicht Percy?!" Sein Mund verzog sich andeutungsweise zu einem Grinsen.
„Bill", antwortete Tal. „Und lass die Witze!"
„Was? Du hattest was mit Bill?" Charlie starrte sie ungläubig an.
„Nein, hatte ich nicht!" Tal wurde ungeduldig, da er einfach nichts schnallte. „Er war wirklich nett, der Idiot, aber kurz vor dem entscheidenden Ballabend ließ er mich abblitzen, weil er schon mit dieser dämlichen Ravenclaw-Kuh verabredet war! Das wird er dir doch alles haarklein berichtet haben, oder etwa nicht?"
Charlie, noch immer verwirrt, schüttelte den Kopf. „Er hat nie ein Wort gesagt!"
„Ach nein?" Einen Moment lang schien Tal irritiert und zögerte. Doch dann sprang sie empört auf. „Na dann ... dann war es ihm wahrscheinlich peinlich, sich überhaupt mit mir angefreundet zu haben, der absonderlichen Slytherin!", mutmaßte sie und ihre Stimme zitterte leicht.
„Tal!" Charlie erhob sich ebenfalls und legte eine Hand auf ihren Arm. „Hör zu, können wir nicht einfach in Ruhe darüber reden? Wie wär´s, wenn ... du dich mal von Mr. Blackstone durchchecken lässt, nur für den Fall, dass ..."
„Ich glaub´s einfach nicht!", giftete sie. „Jetzt behauptest du wohl auch noch, ich wäre verrückt, was?! Was kommt als nächstes – meine Einlieferung ins St. Mungo?"
„Nein, Ma´am, das hast du völlig missverstanden ..."
„Und nenne mich gefälligst nicht Ma´am!", platzte Tal urplötzlich heraus. „Ich weiß nicht, was du daran lustig findest, aber ich finde es einfach nur bescheuert!"
Unschlüssig stand Charlie da. Eigentlich erwartete er, dass sie ihn rausschmiss, doch ein kleiner Teil in ihm hoffte immer noch, dass sie ihre Meinung ändern würde. Die Schlange wegschaffen oder sich wenigstens zu einem Besuch bei Mr. Blackstone überreden lassen könnte. Doch Tals Gesicht blieb kühl und eisern. „Lass mich in Ruhe, Charlie!", zischte sie mit einem zornigen Wink zum Ausgang.
Charlie holte tief Luft. Der verdrängte Ärger holte ihn jäh wieder ein und seine Stimme wurde laut, ohne dass er es beabsichtigte. „Schön! Wenn du unbedingt in dein Unglück rennen willst, bitte! Ich werde dich nicht mehr davon abhalten!" In binnen einer Sekunde war er aus dem Zelt gestampft.
Langsam setzte sich Tal auf den Fußboden und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie spürte die Bewegungen der Python, die lautlos um sie herumglitt und vor ihrem Gesicht Halt machte.
„Was ist los, Sórore?", fragte Serpensia züngelnd. „Worüber habt ihr gestritten?"
Tal hob den Kopf und blinzelte sie an. „Hast du eine Ahnung, wovon er geredet hat, Pansy?", fragte sie zögernd.
Die Schlange schüttelte ihren flachen Kopf. „Ich konnte euch nicht ganz folgen. Eure Diskussion war ziemlich ... menschlich und verwirrend!"
„Ich rede von diesem angeblich roten Licht und dass ich mit jemandem gesprochen haben soll!", erwiderte Tal ungeduldig. „Wie kommt er nur dazu, so etwas zu behaupten?!"
„Ich weiß weder, wovon er gesprochen hat", sagte die Schlange gelassen. „Noch, wie er dazu kommt. Das einzige, was mir auffiel, war, dass er offenbar enorme Schwierigkeiten hatte, seine Gefühle zu kontrollieren. Du bringst ihn regelmäßig zum fluchen."
Ungläubig blickte Tal sie an.
„Menschen", zischte die Schlange, „sind mir immer noch ein Rätsel. Sie sagen so viele Dinge und dennoch sprechen sie oft nicht das aus, was sie wirklich meinen!"
Tal hob skeptisch eine Augenbraue. „Was, bitteschön, willst du mir damit sagen, Pansy?"
„Du zögerst!", stellte die Schlange fest. „Du bist dir nicht so sicher, wie du tust, Sórore. Ich sehe es in deinen Augen. Ein Teil von dir zweifelt daran, ob die Worte dieses Menschen wirklich eine Lüge waren. Habe ich nicht Recht?"
„Er hat gesagt, ich solle dich weg jagen, Pansy!", erwiderte Tal aufgebracht. „Wie kannst du da überhaupt so gelassen bleiben? Nach allen Kränkungen, die du seinetwegen erlitten hast, müsstest du doch eigentlich stockwütend sein."
Geduldig blickte Serpensia zu ihr auf. „Unsereins kennt keine Wut", sagte sie züngelnd. „Ebenso wenig Liebe. Es gibt Menschen, die mögen uns, und Menschen, die mögen uns nicht. Wir respektieren das. Ich verehre und schätze dich als meine Herrin, Sórore. Doch Gefühle würden mich niemals dazu hinreißen, etwas zu tun, was dir schaden könnte."
„Du willst mir also tatsächlich raten, dich in ein Paket verschnürt an diesen Malfoy zurück zu schicken?" Tal war fassungslos.
Die Schlange betrachtete sie mit regungslosem Gesicht. Da war nichts, aber auch gar nichts, was irgendeine Emotion verriet. „Ich rate dir gar nichts, Sórore", stellte Serpensia richtig. „Ich bitte dich nur, genau nachzudenken, bevor du etwas tust. Sei immerfort auf der Hut und setze deinen Verstand ein. So, wie du es von je her getan hast."
Ein sanftes Lächeln flog über Tals Gesicht. „Die Wissenden reden nicht viel, die Redenden wissen nicht viel. Das sehe ich mal wieder an dir, meine Schöne! Du bist wirklich eine Freundin. Meine einzig wahre! Ein Glück, dass wenigstens ich deine weisen Worte hören kann!"
„Verwechsle Wissen nicht mit Weisheit!", antwortete Serpensia ruhig. „Wie gesagt, auch ich verstehe nicht alles, was in den Köpfen von euch Menschen vorgeht!"
Tal lächelte ein wenig geistesabwesend vor sich hin. „So hat wohl jeder seine Stärken und Schwächen, nicht wahr, Pansy ... ? Pansy!"
Als sie aufblickte, klappte ihr Mund augenblicklich zu. Serpensias Augen hatten wieder rot zu glühen begonnen.
