11. Hoffnung und Zweifel

Mit energischen Schritten marschierte Charlie den Pfad zwischen den Zelten entlang, der inzwischen vom silberweißen Schein der aufgehenden Mondsichel erleuchtet wurde. Seine Gedanken zogen wilde Kreise.

Wie kann sie nur so verdammt stur sein!

Er hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptet hatte, Tals absonderliche Schlangenliebe toleriert zu haben. Was hätte er sich auch schon schlimmes dabei denken sollen? Gut, Serpensia war vielleicht nicht das, was man als gewöhnliches Haustier bezeichnet hätte. Aber es gab doch bekanntlich einige Menschen – Magier und Muggel – auf welche diese Reptilien eine eigenartige Faszination ausübten. Charlie erinnerte sich an einen Besuch im Londoner Zoo, als er gerade mal sechs Jahre alt gewesen war. Bill, Percy, seine Eltern, er selbst und eine Menge Muggel hatten sich die Nasen an der Glasscheibe platt gedrückt, hinter der sich die geheimnisvollen, meterlangen Tiere umherschlängelten. Sein Dad war in der Muggel-Welt mal wieder vollkommen aus dem Häuschen geraten. Doch ausnahmsweise schien er mit seiner Aufregung nicht allein gewesen zu sein, denn auch die anderen Zoobesucher hatten das Interesse und den angenehmen Schauder beim Anblick der Schlangen geteilt.

Und war es nicht mit Drachen ganz genauso? Viele seiner Freunde (und Familie) hätten sich keine zehn Meter an einen Ungarischen Hornschwanz herangewagt, während Charlie schon in Hogwarts beschlossen hatte, diese interessanten Tiere später zu erforschen und zu studieren. Tals Worte kamen ihm wieder in den Sinn: Du arbeitest doch mit großen Schlangen und dann sagst du, du bist nicht an sie gewöhnt?"

Aber – verdammt – es hatte einfach keinen Sinn, das Ganze schön zu reden! So gefährlich Drachen auch werden konnten, er hatte noch nie einen von ihnen beobachtet, dessen Augen zu glühen anfingen und einen Zauberer in eine Art Hypnose versetzten! Und außerdem waren Schlangen in der Zaubererwelt nicht ohne Grund gefürchtet und verachtet. Der dunkle Lord persönlich war einer der bekanntesten Schlangenliebhaber überhaupt und das Parsel von je her eine schwarze Kunst gewesen. Bis jetzt hatte Charlie nicht weiter darüber nachgegrübelt, hatte es vielleicht sogar verdrängt. Doch dass Tal über die Fähigkeiten eines Parselmunds verfügte, wurde ihm mit jedem Moment suspekter. Mein Gebieter ... Lucius Malfoy ... und die Schlange – es passte alles so haargenau zusammen.

Weshalb bin ich nicht schon viel früher misstrauisch geworden?, fragte er sich zum wiederholten Male.

Nein, Charlie war in der Tat kein misstrauischer Mensch. Doch noch nie zuvor hatte er sich in irgendjemandem getäuscht. Eigentlich war ihm immer vom ersten Moment an klar gewesen, ob ein Mensch ihm sympathisch war oder nicht. Tal war, offensichtlich zum Ärger von Steve und Cecile, unter die erste Kategorie gefallen ... doch die Bezeichnung Sphinx traf wirklich nur allzu gut auf sie zu, denn sie hatte ihm ununterbrochen nichts als Rätsel aufgegeben! Zunächst war sie so kühl, dann so warmherzig gewesen, dann eigensinnig und trotzig, dann wieder so besorgt um ihn und nun - ...

Und mit einem Mal wurde Charlie klar, dass er selbst der Faszinierte war. Nicht fasziniert von Schlangen, von Drachen oder schwarzer Magie. Nein, das Objekt seiner Faszination war – Tal!

Hatte er deshalb nicht begreifen wollen, in welche Gefahr sie sich selbst und andere mit ihrer widerlichen Schlange brachte? Er war kein Ravenclaw oder Slytherin, aber dumm und naiv war er doch nun auch nicht! Ob Tal ihn wirklich nicht angelogen hatte, als sie sagte, sie könne sich an gar nichts erinnern? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr geriet Charlie ins Zögern. Ihre Verwunderung hatte echt gewirkt, ihr Lächeln ebenso. Aber was war, wenn sie in Wirklichkeit eine Spionin, eine Todesserin war? Der Gedanke versetzte ihm unvermittelt einen schmerzhaften Stich. Was, wenn sie schon längst mit dem dunklen Lord gemeinsame Sache machte und das gesamte Ministerium an der Nase herum führte? Vielleicht hätte er wirklich gut daran getan, auf seine Kollegen zu hören und seinen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen beiseite zu schieben ... oder?

Gedankenverloren kickte Charlie nach einem Stein. Er rollte den mondbeschienenen Sandpfad hinab und landete direkt vor einem Paar pechschwarzer Drachenlederstiefel. Überrascht blickte Charlie auf – und sah direkt in das sonnengebräunte Gesicht von Steve.

„Na, Charlie?", grinste sein Kollege und bückte sich nach dem Stein. Charlie blickte entnervt weg. Amüsiert beobachtete Steve ihn, während er den Stein wie einen Ball von der einen in die andere Hand rollte. „Hat deine Angebetete dich etwa schon wieder rausgeschmissen?", feixte er. „Ich sagte ja, mit ihr sei nicht gut Kirschen essen! Lass mich raten, sie hat dich mit einem Reduktor-Fluch belegt und du bist in hohem Bogen aus ihrem Zelt - "

„Verdammt Steve!", fauchte Charlie zornig. „Hör endlich auf, so über sie zu reden!"

Erschrocken starrte Steve seinen jungen Freund an und stolperte hastig ein paar Schritte rückwärts. Ein paar Atemzüge lang herrschte Stille.

„Um Himmels Willen, Charlie!", brachte Steve schließlich hervor und klang ernsthaft besorgt. „Was ist bloß in dich gefahren? So kenne ich dich überhaupt nicht!"

Charlie ließ den Kopf hängen. „Sorry, tut mir leid. Ich glaube, ich ... verstehe mich selbst nicht so ganz", murmelte er kleinlaut.

„Schwerer Fall von Verliebtheit!", diagnostizierte Steve, war jedoch noch immer ein wenig blass um die Nase. „Herrje, dich hat´s ganz schön erwischt, was?"

Charlie schüttelte den Kopf. „Es ist nicht nur das, Steve. Es ist - "

Mit einem Mal stockte er. Etwas zwischen den Zelten hatte sich bewegt, nur ganz kurz, doch seinen Augen war nicht entgangen, dass es geleuchtet hatte. Ein seltsames, helles Leuchten. Doch nicht silbern wie der Mond, sondern eher wie die Farbe der aufgehenden Sonne - rot. Schlagartig wurde er kreidebleich.

Als Steve seinem Blick irritiert folgte, war es schon wieder verschwunden. „Charlie?", fragte er mit zerfurchter Stirn, doch dieser winkte hastig ab.

„Entschuldige mich, Steve!", war das Einzige, was Steve noch zu hören bekam, bevor sein Kollege in der Dunkelheit verschwand.

Planlos schlich Charlie am Drachenzaun entlang, den Zauberstab vorsorglich in der Hand. Er war sich nicht im Klaren darüber, was er überhaupt vor hatte. Doch seit seiner letzten Begegnung mit Tal hatte ihn eine dunkle Vorahnung gepackt und mit jedem Schritt, den er tat, wurde sie immer stärker. Keinen Moment hatte er darüber nachgedacht, seine Kollegen oder Mr. McDougal über sie zu informieren. Doch ebenso wenig hätte er das rote Leuchten in der Dunkelheit ignorieren können, das ihn nur allzu gut an das Leuchten der Schlangenaugen und des Steins um ihren Hals erinnerte. Charlie zögerte einen Moment und blickte sich verstohlen um. Alles um ihn herum war ruhig, das gesamte Camp schien zu schlafen, und so ging er schließlich etwas zügiger weiter. Es war nicht schwierig, dem roten Licht in der Dunkelheit zu folgen. Drei schwebende Punkte waren es – nein, fünf! Doch sie waren nicht alle zugleich sichtbar. Immer wieder erloschen sie und tauchten ein paar Meter weiter entfernt wieder auf, wie Augen, dessen Träger sich immerfort hektisch nach Verfolgern umblickten.

Charlie blieb stehen, ertastete in der Dunkelheit den Zaun und kletterte über ihn hinweg. Nun war er nur noch etwa fünfzig Meter von den schwebenden Punkten entfernt. Sie mussten angehalten haben. Regungslos wartete er einige Augenblicke, doch schon bald setzten sich die Punkte wieder in Bewegung, ein wenig langsamer jetzt, und er hastete ihnen nach und beschleunigte seinen Schritt. Er wusste noch immer nicht, was er tun würde, sollte er sie eingeholt haben. Doch irgendein Gefühl zwang ihn dazu, ihr zu folgen. Er musste es einfach tun. Das Gefühl sagte ihm, dass Tal geradezu im Begriff war, sich selbst in Gefahr zu bringen. Ob nun wissentlich oder unwissentlich – noch immer hoffte er letzteres – sie würde in ihr Unglück rennen, würde er nichts unternehmen. Ja, er hatte damit getönt, ebendies nicht mehr zu tun. Doch es waren nur Worte gewesen! Sein Herz hatte ihm im gleichen Moment etwas anderes gesagt, und je weiter er ging, desto richtiger schien es ihm, auf dessen Worte zu vertrauen.

Sie ist in Gefahr und du musst ihr helfen!

Mit einem Mal trat er auf etwas Klebriges und im selben Augenblick war er auch schon ausgerutscht und der Länge nach hingeschlagen. Unter seinem Körper knackte und splitterte es. Erschrocken blickte er auf – die rotleuchtenden Punkte verschwanden gerade hinter der nächsten Felskuppe. Mit klopfendem Herzen wartete er einige Atemzüge lang, doch anscheinend hatten sie von seinem Krach nichts gehört, denn sie kehrten nicht zurück. Charlie rappelte sich hastig auf. Hin und her gerissen zwischen Eile und Neugierde hielt er in der Bewegung inne und hob schließlich den Zauberstab.

„Lumos!"

Im schwachen Schein des Lichts, das er auf seine Füße richtete, bot sich ihm ein seltsames Bild. Allem Anschein nach war er geradewegs in ein Drachennest hineingelaufen. Doch es sah nicht so aus, wie es normalerweise hätte aussehen sollen. Zwei der hellgrauen Eier waren noch intakt. Die anderen, oder das, was von ihnen übrig war, schwammen als winzige, zerbrochene Schalenstücke in ihrer pechschwarzen Dotterflüssigkeit, die sich rund um das Nest ergoss.

Was in aller Welt ist hier passiert?

Als glaubte er, die Antwort vor sich in der Dunkelheit zu finden, richtete Charlie den leuchtenden Zauberstab vor sich – mit dem Resultat, dass er ihn vor Schreck fast fallen gelassen hätte. Keine zwei Meter von seinen Füßen entfernt lag das Lindwurmweibchen. Doch ihre Augen waren fest geschlossen und ihr mächtiger Kopf ruhte auf den Vorderbeinen. Das Tier schien tief und fest zu Schlummern. Noch nicht mal der Lärm, den er veranstaltet hatte, schien es aufgeweckt zu haben. Charlie, der sich von seinem Schrecken erholt hatte, kniff forschend die Augen zusammen. Sollte der Drache etwa vollkommen durchgedreht sein? Sollte er seine eigenen Eier zertrampelt haben, um augenblicklich danach in Tiefschlaf zu fallen? Das war schwer zu glauben. Ebenso wie die Tatsache, dass ein Drache den Schutzwall rund um den Zaun durchbrochen haben sollte. Nein, hier waren Zauber am Werk, und Charlie begann langsam, immer klarer zu sehen. Abrupt hob er den Kopf. Das rotleuchtenden Punkte hatten sich inzwischen um Einiges entfernt, und er würde sich beeilen müssen, wenn er sie noch einholen wollte.