12. Die Schlangenherrin

Im glühenden Schein seines Zauberstabes hastete Charlie über den staubigen Felsboden. Hätte er das Licht nicht entzündet, wäre er zweifelsohne noch ein weiteres Mal hingeschlagen, doch so übersprang er vorsichtig die Steine, Pflanzen und Unebenheiten des Felsens, die seinen Weg kreuzten. Er wollte jedes nur denkbare Geräusch vermeiden. Auf eine weitere hitzige Diskussion mit Tal konnte er gut und gerne verzichten, und je später sie auf ihn aufmerksam wurde, desto besser! Erst einmal wollte er herausfinden, weshalb sie sich kurz vor Mitternacht in die Berge hinaus schlich ...

Charlie bog um einen schroff aufragenden Fels, und noch während er weiter an seinen Überlegungen feilte, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Vor ihm, inmitten einer kleinen Mulde, saß Tal. Charlie war sich sofort sicher, dass sie es war, obgleich ein umherwirbelnder Nebel sie umhüllt hatte, der ihre Gestalt nur undeutlich erkennen ließ. Der Nebel schien zwei unterschiedliche Quellen zu haben. Zum einen war es der rotstechende Dunst, der dem gleichfarbigen Stein entsprang. Es war derselbe Nebel, den Charlie bereits in Tals Zelt gesehen hatte – oder zumindest geglaubt hatte, ihn gesehen zu haben, doch jetzt war er sich dessen vollkommen sicher. Tal hatte sich ihre Schlange wie einen Schal um den Hals geschlungen und schien den roten Nebel regelrecht einzuatmen, so dicht war er ihren leicht geöffneten Lippen. Die zweite Nebelquelle war bei näherer Betrachtung eigentlich gar kein Nebel. Er war schwarzer Rauch. Tal kniete vor einem lichterloh brennenden Feuer, über dem ein großer, leicht zerbeulter Kessel hing. Unwillkürlich tauchte vor Charlies innerem Auge ein Bild auf: Tal saß in Hogwarts vor ihrem Kessel und braute unter dem strengen Blick von Professor Snape gelangweilt und in aller Ruhe einen Zaubertrank zusammen. Doch das Bild verpuffte so schnell wie es aufgetaucht war. Dies hier war nicht mehr die Tal von damals. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten wie gebannt in den Kessel, in dem eine kochende, dunkle Flüssigkeit schwappte. Und nun rührte sie auch nicht mehr gelangweilt darin herum. Ihre Augen hatten den aufgeregten und ehrgeizigen Blick eines Genies, das gerade kurz vor seinem Durchbruch stand. Und sie waren leuchtend rot. Ebenso rot wie die der Schlange, und sie schienen Charlie geradewegs zu durchbohren, als sie Sekunden später aufblickte und ihn ansah.

Charlie öffnete den Mund und wollte etwas sagen – doch dann besann er sich anders. Tal blickte ihn an und doch auf merkwürdige Art auch wieder nicht. Ihr Blick war seltsam leer. Es war fast, als würde sie ihn gar nicht erkennen. Doch als sie ihrerseits anfing zu sprechen, klang ihre Stimme unerwartet entschlossen.

„Verschwinde, Zauberer!", sagte sie hitzig. „Das hier geht dich nichts an. Du behinderst mich bei der Ausführung meines Plans!"

Charlie klappte unschlüssig den Mund auf und zu. „Tal?", fragte er zögernd, doch sie reagierte nicht. In der Tat sah sie überhaupt nicht mehr aus wie Tal. Je länger er sie anstarrte, umso deutlicher wurde es ihm. Anstelle ihres geblümten Rocks war sie von Kopf bis Fuß in schwarz gekleidet und das gleichfarbige Haar wehte ihr lang, glatt und strähnig um die Schultern. Ihre sahneweiße Haut leuchtete im Mondlicht und schien noch blasser und weißer als sonst. Doch das war nichts im Vergleich zu ihren Augen. Heller als zwei rote Sterne leuchteten sie in der nebelumwobenen Nacht und bei ihrem Anblick lief es Charlie eiskalt den Rücken hinunter.

„Du stehst ja immer noch da!", riss Tals scharfe Stimme ihn aus seinen Gedanken. „Sagte ich nicht, dass du gehen sollst? Verschwinde!"

Unwillkürlich zuckte Charlie zusammen. In der Dunkelheit erkannte er, dass sie ihren Zauberstab gezückt und sich erhoben hatte. Rasch griff er nach seinem eigenen und hielt ihn weit von sich gestreckt. Wären Tals Augen nicht gewesen, die deutlich inmitten des rot-schwarzen Nebels glühten, hätte er mehr gefühlt als gesehen, dass sie langsam auf ihn zugeschlichen kam. Er holte tief Luft. „Tal!", versuchte er es noch einmal.

Diesmal ging sie auf seine Worte ein. „Nicht Tal!", zischte sie leise. Am Klang ihrer Stimme konnte er erahnen, dass sie lächeln musste. „Tal ist eine Versagerin. Ein Nichts! Ich bin die Schlangenherrin. Ich bin es, die vom großen Lord auserwählt wurde, seinen Geist zu tragen. Schon bald werden mein Körper und sein Geist verschmelzen und wie werden mächtiger herrschen als je zuvor! Wir werden die Zaubererwelt beherrschen, und danach nehmen wir uns der Muggel-Welt an. Wir werden alles sein, was man nur sein kann!"

„Tal, was ist nur mit dir passiert?" Charlie spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, doch seine Stimme gehorchte ihm zum Glück nach wie vor. „Tal – Tal, schick diese Schlange weg!", brüllte er sie an. „Sie ist es, die dich ... die dich nicht mehr klar denken lässt!"

„Wenn hier einer geht, dann du!", entgegnete sie. Auf einmal klang ihre Stimme nicht mehr, als ob sie lächeln würde. Es war die vollkommene Entschlossenheit und der blanke Hass, der aus ihr sprach. „Ich werde es dir nicht noch einmal sagen!", zischte sie bedrohlich. „Los, was stehst du da so wie versteinert! Na schön, du lässt mir keine Wahl - reductio!"

Der Zauberstab in ihrer Hand schnellte hoch. Charlie, der mit ihrem Angriff nicht gerechnet hatte, taumelte hastig zurück, doch es war bereits zu spät. Der Fluch traf ihn mitten in die Brust. Es war, als würde er von einer unsichtbaren Faust geschlagen, doch mit solcher Kraft, dass er prompt einige Meter zurück geschleudert wurde, ehe er schmerzhaft auf dem harten Felsen aufschlug. Tal hatte ihn kaum beobachtet. Als Charlie hochblickte und sich mühsam wieder aufrappelte, saß sie bereits wieder vor ihrem Kessel und rührte darin herum.

„Einhornblut, Lindwurmei und Schlangengift", murmelte sie konzentriert. „Dazu das Blut meiner Wenigkeit, und mein Herr wird stark genug sein, um meinen Körper einzunehmen!"

Charlie verzog fassungslos das Gesicht, als sie ein Messer aus der Tasche zog und sich ohne zu zögern in den Arm stach. Dunkelrot tropfte das Blut in den Kessel.

„Tal!", rief er zu ihr hinüber. Ihr Kopf fuhr hoch und in Sekundenschnelle war ihr Zauberstab wieder unheilvoll auf ihn gerichtet.

„Keinen Schritt näher!", warnte sie.

Seufzend blieb Charlie wie angewurzelt stehen. Anscheinend hatte er wirklich keine Chanche, Tal von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie wirkte ganz anders, als vorhin im Zelt – noch entschlossener, noch fremder und – schauriger Weise – um Einiges klarer! Die einzige Möglichkeit bestand darin, sie irgendwie abzulenken. Solange, bis ihm irgendetwas besseres einfallen würde.

„Warst du es etwa, die die Sandechse auf uns gehetzt hat?", fragte er, obwohl er glaubte, die Antwort bereits zu kennen.

Um Tals Mund herum spielte ein hauchdünnes Lächeln. Jetzt, wo das Licht des Feuers auf ihr Gesicht fiel, erkannte er es ganz deutlich.

„Das war nichts!", antwortete sie beinahe bescheiden. „Der Schutzzauber um euren Zaun war so leicht zu durchbrechen – sogar für Tal! Viel schwieriger erschien mir, mich unbemerkt davon zu schleichen. Doch ihr ward alle so versessen darauf, euren kleinen Drachen einzufangen, dass sich keiner mehr um mich geschert hat!"

Sie lachte ein triumphierendes, schrilles Lachen, das Charlie eine Gänsehaut auf die Arme trieb.

„Aber du bist zurück gekommen, nicht wahr?", entgegnete Charlie. Ihr Lachen erstickte im Nu.

„Tal ist schwach!" zischte sie und schüttelte abfällig den Kopf. „Ihre Gefühle sind Schuld daran. Doch die Schlangenherrin lässt sich nicht von Gefühlen leiten. Nicht mehr. Genauso wie ihre Dienerin, Serpensia!"

Vorsichtig tat Charlie einen Schritt auf sie zu. „Ich kenne Tal", sagte er langsam. „Sie wäre klug genug, sich nicht mit den dunklen Mächten einzulassen."

Tal blickte auf. „Bleib, wo du bist!", schrie sie alarmiert. „Reductio!"

Doch diesmal war Charlie auf ihren Angriff vorbereitet. „Expelliarmus!", brüllte er im selben Moment, als ihr Zauberstab sich auf ihn richtete. Zischende Funken erhellten die neblige Nacht um sie herum. Tals Zauberstab flog aus ihren Händen und fiel klirrend ein paar Meter neben ihr zu Boden. Der Fluch, von seiner Bahn abgebracht, verschwand funkensprühend in der Dunkelheit.

Charlie griff seinen Zauberstab fester. „Bleib, wo du bist!", mahnte er und richtete ihn auf Tal. Sie schien zu gehorchen, holte tief Luft und blieb mit hängenden Armen stehen. Einen Atemzug lang starrte sie ihn finster an. Doch dann plötzlich, ohne Vorwarnung, hatte sie sich in einem raubkatzengleichen Sprung auf ihn gestürzt. Noch ehe Charlie reagieren konnte, lag er flach auf dem Rücken – Tals zierliche Gestalt über ihm, deren schmale Finger sich kräftig wie ein Schraubstock um seine Kehle schnürten.

„Tal ...", presste Charlie hervor, doch er bekam bereits kaum noch Luft. Er sah Tals rotglühende Augen über sich, zornsprühend und entschlossen, aber schon bald verschwammen sie vor seinem Gesicht wie in einem Nebel. Der Zauberstab entglitt seinen Händen, und vergeblich machte er Anstalten, die Hexe fortzustoßen. Charlie war alles andere als ein Schwächling, doch Tals Griff zeugte auf einmal von einer unheimlichen, ja beinah übermenschlichen Kraft. Panisch griffen seine Hände blindlings um sich. Er spürte Tals Haar, den Stoff ihres Gewands, die Haut der Schlange, die sich um den Hals ihrer Herrin geschlungen hatte. Und auf einmal hielt er etwas Kaltes, Festes in den Händen. Ohne nachzudenken, schloss er die Faust fest darum und zerrte mit all seiner verbliebenen Kraft daran. Ein leises Scheppern und Rollen tönte durch die Dunkelheit. Charlie spürte, wie sich Tals Griff urplötzlich lockerte und seine Lungen zogen erleichtert die kühle Nachtluft ein. Langsam zog der Nebel über ihn hinweg, Konturen und Farben bildeten sich wieder vor seinen Augen. Als er wieder vollkommen zur Besinnung gekommen war, sah er, dass Tal aufgestanden war. Sie hielt seinen Zauberstab in den Händen, der sich nun in seiner tödlichen Macht gegen ihn selbst richtete.

„Der Rubin!", sagte Tal und blickte irritiert auf den roten Stein, der nach wie vor glühend und rauchversprühend wenige Meter neben ihr zum Stehen gekommen war. Mit einem überlegenen Lächeln wanderte ihr Blick zu Charlie zurück. „Doch das wird dir auch nichts nützen, Zauberer!", rief sie triumphierend. „Du glaubst ernsthaft, du könntest die Verbindung zu mir und meinem Herrn brechen, indem du den Rubin zerstörst? Da muss ich dich enttäuschen! Nicht der härteste Fels, nicht der stärkste Zauber kann einen Rubin zerstören. Nicht mal du kannst es, Zauberer!"

„Tal!" Charlie holte noch einmal tief Luft. „Komm zur Vernunft! Nicht ich bin dein Feind, sondern der dunkle Lord! Du bist nicht du selbst!"

„Lord Voldemord wird erneut herrschen!", wiederholte sie überzeugt, ganz so, als hätte sie seine Worte kaum wahrgenommen. „Und du bist eine lästige Klette!"

Charlie blickte sie an, dann den Zauberstab. „Wenn ich so lästig bin", rief er herausfordernd, „wieso tötest du mich nicht einfach?!"

Sie reagierte nicht sofort. Zögernd hielt sie den Zauberstab ausgestreckt, wobei es fast so aussah, als würde ihre Hand ganz leicht zittern. Als würde sie sich selbst darüber ärgern, schüttelte sie stolz das Haar in den Nacken.

„Es wäre dumm, dich zu töten! Deine Kameraden würden dich vermissen und misstrauisch werden. Ich werde einfach dein Gedächtnis verändern und fortfahren!"

„Wenn Du-weißt-schon-wer wieder an der Macht ist", entgegnete Charlie, „würde es keinen großen Unterschied machen, ob eine Gruppe Drachenforscher hinter dir her ist oder nicht! Du wirst die gesamte Zaubererwelt gegen dich haben!"

Wieder zögerte sie. Charlie, der seine Chanche gekommen sah, sprang auf und versuchte mit aller Kraft, ihr den Zauberstab wieder zu entreißen. Mit Händen und Füßen setzte Tal sich zur Wehr. Ihre Augen funkelten wie pures Feuer. 

„Was tust du da!", schrie sie gellend. „Reductio! Stupor!"

Wie ein Feuerwerk von Blitzen schossen ihre ausgestoßenen Flüche in die schwarze Nacht hinein. Gerade glaubte Charlie, den Zauberstab endlich sicher in den Händen zu haben, doch im selben Moment traf Tals nackter Fuß ihn in die Brust. Der Zauberstab flog durch die Luft. Tals Hand schoss empor und fing ihn hastig auf, während Charlie sich erneut flach auf dem harten Felsboden wiederfand.

Mit einem Schritt stand Tal über ihm und richtete die tödliche Waffe mitten auf sein Herz. Ihr dunkler Umhang, an dem der Wind riss, flatterte wie eine Fahne von ihren Schultern, und auch ihr Haar wurde von den Böen unheimlich aufgebauscht. In ihrem Blick lag nichts als wilde, zornige Entschlossenheit.

„Avada Kedavra!", sagte sie mit funkelnden Augen.