13. Das Feuer des Drachen

Dieser Zauberer wird unsere Pläne durchkreuzen!

Die Worte überrollten Tals Gedanken wie eine mächtige Felslawine.

Er muss nicht sterben, dachte sie irritiert. Es genügt, ihn unschädlich zu machen.

Töte ihn!

Tal fühlte die Wut, den Ehrgeiz, das Streben nach Macht, die sich mit ihrer eigenen vermischte. Die Enttäuschung so vieler Jahre und die einmalige Gelegenheit, endlich für ihre Mühen belohnt zu werden. Macht! Gab es denn etwas Süßeres, Lohnenderes, Größeres als Macht?

Nein!, sagte ihr Kopf, und dennoch wollte ihre Hand nicht aufhören zu zittern. Ihre Lippen öffneten sich langsam, doch die kalte Stimme, die aus ihr sprach, war bedeutend entschlossener.

„Avada Kedavra!"

Wie von selbst verließen die Worte ihren Mund. Und in der selben Sekunde vernahm sie ein ohrenbetäubendes Gebrüll. Der Schreck fuhr in ihre Glieder. Schon sah sie das giftgrüne Licht, sah die tödlichen Blitze, die ihr Zauberstab spie. Doch die Irritation angesichts der unbekannten Gefahr in ihrem Rücken legten sich über ihre Mordlust. Sie wandte den Kopf. Ihre Hand fuhr hoch, und der Fluch verfehlte sein Ziel um wenige Zentimeter.

Tal stand stocksteif da, sie fühlte, wie die Angst all ihre Glieder erstarren ließ. Wie gebannt starrte sie in zwei zornige Drachenaugen, in denen sich das rote Feuer ihrer eigenen widerspiegelte. Das riesige Tier starrte sie einen Moment an, wandte dann den Kopf und blickte auf den dampfenden Kessel. Schon erspähten seine Augen das, wonach sie gesucht hatten - die Eierschalen, die rund um das Gebräu verstreut lagen. Zornig legte der Drache den Kopf in den Nacken und spie unter erneutem Gebrüll eine bläulichweiße Stichflamme. Das Licht Feuers erleuchtete seine kirschfarbenen Barthaare und seinen langen, schlanken Körper und endlich begriff Tal, was vor sich ging. Es war das Lindwurmweibchen, das aus seinem Tiefschlaf erwacht war – auf der Suche nach seinen Eiern.

Der Lindwurm beäugte den Kessel ausgiebig, schnüffelte mit seinen Nüstern an dem dunklen Gebräu und kickte mit den Pranken gegen die zerbrochenen Eierschalen. Schließlich schien er festgestellt zu haben, dass all seine Eier unwiederbringlich zerstört waren. Mit hasserfüllten Augen wandte er den Kopf und blickte die Nestdiebin an.

Tal stand unbeweglich. Sie sah den gigantischen Drachenkörper, der geduckt auf sie zugeschlichen kam, bereit, zum Sprung anzusetzen, sobald er nah genug herangekommen war. Wieder spie der Drache Feuer, und Tal spürte die Hitze der Luft, die das Feuer verursachte. Doch noch immer konnte sie sich nicht rühren.

Selbstverständlich, ihr Gebieter hatte ihr gesagt, wie sie mit dem Zauberer fertig werden musste. Und den Plan, wie sie den schlafenden Drachen übertölpeln sollte, hatte sie zu ihrem eigenen Stolz ganz allein ersonnen. Doch auf den Angriff eines wachen und wutschnaubenden Lindwurms war sie nicht vorbereitet. Die Planlosigkeit trieb ihre Furcht in noch höhere Dimensionen.

Was hat Steve gesagt? Ziel auf sein Auge! Wenn du einen Drachen besiegen willst, dann musst du auf seine schwächste Stelle zielen! Los doch, Tal, ziel auf sein Auge ...

„Stupor!", rief sie und hob den Zauberstab. Brüllend wich der Drache ihrem Fluch aus, doch selbst wenn er still gestanden hätte, hätte Tals zitternde Hand jeden zielsicheren Treffer unmöglich gemacht. Inzwischen war der Drache bis auf wenige Meter herangekommen. Tals spürte, wie ihre Panik sie überrollte. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, aber zum Nachdenken blieb ihr ohnehin keine Zeit mehr. Die Ohnmacht hüllte sie ein, ließ jeden Muskel ihres Körpers erstarrten. Sie spürte, wie ihr jemand den Zauberstab aus der Hand nahm, sah, dass sich eine große Gestalt schützend vor sie stellte und die Waffe gegen den Drachen erhob. Doch noch im selben Moment spürte sie die Hitze der Flammen, als der Drache erneut Feuer spie.

Zwei kräftige Hände ergriffen ihren Körper und rissen ihn zu Boden, so dass die tödlichen Flammen über sie hinwegstoben. Doch zugleich geschah etwas seltsames. Tal fühlte es, noch bevor ihre Augen erblickten, was die Ursache dafür war. Es war, als würde irgendetwas von ihr abfallen, etwas Schweres, das sich über ihren Verstand gelegt hatte. Zugleich wurde sie von einer Vielzahl von Gefühlen und Erinnerungen überschwemmt, so gewaltsam und überwältigend, dass Tränen in ihr aufstiegen. Sie erinnerte sich, wie sie die Lindwurmeier hatte stehlen wollten, und an Charlies Schrei, der sie in die Realität zurückgeholt hatte. Es war wie damals. Nur stärker.

Tal riss die Augen auf. Sie wollte es sehen, obgleich sich bereits eine bleierne Müdigkeit über ihren Körper legte. Nur einen Meter vor ihren Füßen bedeckte eine leuchtend rote Masse den Felsboden. Je länger Tal sie ansah, desto mehr zerfloss sie vor ihren Augen, bedeckt von züngelnden, blauweißen Flammen, die schließlich kleiner wurden und erloschen. „Die Sonne ist die höchste Energiequelle, die uns bekannt ist ... „, murmelte sie, und dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Als Tal erwachte, wusste sie nicht sofort, wo sie sich befand. Sie erblickte den wolkigen Nachthimmel über sich, an dem vereinzelt einige Sterne glitzerten, doch ansonsten war alles um sie herum in Dunkelheit gehüllt. Eine Weile lag sie reglos da und starrte in die Nacht hinein. Ein seltsames Gefühl der Ruhe hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie fühlte sich jeglicher Erinnerung beraubt, doch zum ersten Mal machte es ihr keine Angst. Es war, als schwebte sie noch immer in einem süßen Traum, dessen Ende nicht in Sicht war. Ihr wurde plötzlich klar, dass sie sich noch nie im Leben so frei und erlöst gefühlt hatte.

„Tal?", sagte auf einmal eine dunkle Stimme neben ihr.

Erschrocken fuhr sie hoch und blickte zur Seite – und spürte augenblicklich, wie ihr der Schmerz in die Stirn fuhr. Direkt vor sich sah sie die grünen Augen des Kelten. Sie wirkten müde, besorgt und irgendwie irritiert, hatten ihr sanftes Glitzern jedoch noch immer nicht verloren.

„Charlie!", murmelte sie geistesabwesend, nachdem sie ihn eine Weile lang betrachtet hatte. Er lächelte kurz, als sie seinen Namen nannte, wurde jedoch gleich darauf wieder ernst. Tal blickte ihn an und dann an sich herunter. Erst jetzt stellte sie fest, dass nicht nur ihr Kopf, sondern auch ihre Gliedmaßen einiges abbekommen hatten. Vorsichtig betastete sie die Schürfwunden an ihren Armen und Beinen.

„Was ist mit mir passiert?", fragte sie langsam.

Charlie holte tief Luft. „Ist ´ne lange Geschichte. Also, wenn du deine Verletzungen meinst ... die hast du dir zugezogen, als ich uns vorm Feuer des Drachen gerettet hab."

Erschrocken blickte sie ihn an. Bis eben war ihr noch nicht klar gewesen, was überhaupt passiert war. Das Gefühl der Befreitheit hatte ihr keine Veranlassung zur Furcht gegeben und sie für´s erste alles andere vergessen lassen. Doch jetzt spürte sie, wie die Angst in ihr zurückkehrte.

„Der ... Drache?", fragte sie alarmiert. „Wo ist er?"

„Dort hinten." Charlie deutete knapp mit dem Finger in die Dunkelheit, doch Tal konnte nichts als eine große, schemenhafte Silhouette vor dem Nachthimmel erkennen. „Er schläft", fügte Charlie dumpf hinzu.

Tal musterte ihn verwirrt. „Er schläft?"

„Ich habe ihn in Tiefschlaf versetzt. Weißt du ... den Trick hat mir jemand beigebracht."

Er blickte sie an, wobei ein Lächeln über sein Gesicht huschte, doch dann verdunkelte sich seine Miene erneut. „Tal, bist du ... ich meine ... bist du okay?", fragte er zögernd.

Tal gab keine Antwort. Zu viele Gefühle und Erinnerungen strömten mit einem Mal auf sie ein, doch sie hatte Mühe, sie richtig einzuordnen. Der Drache hatte irgendetwas in ihrem Gedächtnis wachgerüttelt. Sie erinnerte sich an ihre zitternden Hände, an die Angst, die ihr die Kehle zuschnürte. Doch was war nur davor passiert? Wie war sie überhaupt hierher gekommen?

Wieder schaute sie Charlie an, der ihren Blick aus erschöpften, ratlosen Augen erwiderte. Doch irgend eine Art von Misstrauen lag darin. Mit einem Mal fühlte sie sich einer großen Schuld bewusst, ohne recht zu wissen, woher sie kam.

„Du hast dich auch verletzt", stellte sie schließlich fest.

Charlie nickte und zuckte die Schultern. „Ist nicht so schlimm. Wer Drachen erforscht, sollte Verletzungen gewohnt sein."

„Du hast rote Flecken am Hals", beharrte sie. „Sieht aus, als ob dich jemand gewürgt hätte. Und überhaupt ... du siehst furchtbar aus!"

Ungläubig starrte Charlie sie an. Seine Stirn legte sich in Falten, so als sei er nicht sicher, ob sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Doch Tal starrte unverwandt zurück. Schließlich schüttelte er den Kopf und fing leise an zu lachen. „Du hast recht ... es hat mich jemand gewürgt. Das war eine besonders sture Würgeschlange ... aber auch diesmal konnte sie mich nicht klein kriegen."

Tal klappte den Mund auf und zu. Langsam glitt ihr Blick über sein blasses Gesicht, die verschwitzten Haare, den Schmutz auf seinem Umhang, hinüber zur schlafenden Silhouette des Drachen und schließlich zu dem zerbeulten Kessel, der nur wenige Meter vor ihren Füßen umgekippt in einer dunklen Flüssigkeit, umgeben von Eierschalen lag. Und auf einmal erinnerte sie sich an alles. Angefangen von ihrem Besuch in der Nokturngasse, in welcher sie das Einhornblut beschafft hatte, bis hin zu Charlies ungläubigem, verzweifeltem Gesicht, als sie den tödlichen Fluch gegen ihn aussprach. Und im selben Moment schossen ihr Tränen in die Augen.

Charlie hatte sie beobachtet. Die Veränderung in ihrem Gesicht war ihm nicht entgangen. Zögernd legte er eine Hand auf ihre Schulter, doch Tal stieß sie abrupt weg.

„Lass das!", schluchzte sie und vergrub den Kopf zwischen ihren Knien. „Ich war es, habe ich Recht? Ich bin dafür verantwortlich! Ich wollte Lord Voldemord zur Macht verhelfen, ich habe dieses Elixier gebraut und ... Gott, Charlie, ich wollte dich umbringen!"

Charlie betrachtete sie, nicht recht wissend, was er darauf erwidern sollte. Tals Schultern zuckten. Er hörte ihr gedämpftes Schluchzen und begriff, wie niederschmetternd die Wahrheit für sie sein musste. So sehr er auch versucht hatte, sie davon zu überzeugen, was sie im Begriff war, zu tun – erst jetzt, wo der Stein zerstört war, erkannte sie es selbst. Diese Erkenntnis musste hart zu schlucken sein. Langsam streckte die Hand aus und schob ihr sanft das Haar aus dem Gesicht.

„Du hast mich aber nicht umgebracht, Ma´am", sagte er leise. „Das solltest du nicht vergessen."

Tals Kopf fuhr empört hoch. „Ich hätte es getan!", erwiderte sie, und die Tränen kullerten über ihre weißen Wangen. „Ich hätte es getan, wäre dieser Drache nicht aufgetaucht, hätte ich nicht solche Angst gehabt ..." Auf einmal stockte sie. Charlie blickte in ihre Mandelaugen, die in auf einmal vollkommen ungläubig ansahen. „Du hast mich gerettet. Warum?"

„Ich hab den Rubin nicht zerstört", antwortete Charlie mit dem Hauch eines Lächelns. „Das Feuer, du weißt schon ... das war mal wieder Apophis. Nicht ich."

Tal schüttelte den Kopf.

„Kein Feuer ist so heiß ist wie das des Lindwurms", fuhr Charlie fort. „Dass es so heiß ist, um einen Rubin zum Schmelzen zu bringen, habe ich allerdings nicht gewusst ..."

„Ich rede nicht von dem Rubin!", unterbrach ihn Tal. Ihre Augen funkelten verzweifelt inmitten ihrer Tränen. „Du hast gewusst, in welche Gefahr ich uns alle bringen wollte! Und trotzdem hast du mich gerettet. Vor dem Dunklen Lord, vor Apophis ... Warum? Wenn andere mich verdächtigen, mich absonderlich finden, dann haben sie mehr als Recht! Nach allem, was ich getan habe ... ich hätte den Tod verdient!"

Charlie schnappte nach Luft. „Ma´am ... so was darfst du nicht sagen", antwortete er schließlich langsam. „Du hast unter dem Einfluss von Du-weißt-schon-wem gestanden. Sein Zauber hat dich zu alldem gebracht, du ... warst nicht du selbst!"

Doch Tal schien ihn kaum zu hören. „Ich hatte keine Ahnung, was für finstere Triebe ich in mir habe. Als du sagtest, ich würde Lord Voldemord dienen ... ich habe dir kein Wort geglaubt! Und dennoch habe ich all das getan und noch viel mehr ..."

Seufzend legte Charlie einen Arm um ihre schmalen Schultern, und ohne auf Tals heftige Proteste zu achten, zog er sie fest an sich. Schließlich gab sie nach und ließ ihren Kopf erschöpft auf seine Brust sinken. „Weißt du, Ma´am", hörte sie Charlie sagen, „ich hab das alles nicht nur für dich gemacht. Ein bisschen Egoismus war auch dabei ... ich brauche dich, Ma´am – ich hab dich doch von Anfang an gemocht!"

Irritiert blickte Tal ihn an. „Was redest du da bloß für einen Mist, Charlie!", erwiderte sie mit zitternder Stimme. „Du hast etwas Besseres verdient als eine machtbesessene Slytherin ... Ich wollte dich umbringen, schon vergessen? Ich bin gefährlich, und wenn du klug wärst, würdest du einen weiten Bogen um mich machen!"

Charlie musste grinsen. „Okay, nur ... du vergisst da etwas. Ich bin ein Gryffindor. Ich habe vor nichts Angst – nicht mal vor dir, Schlange!"

„Dein waghalsiger Mut wird nochmal dein Tod sein!", antwortete Tal. Sie meinte es vollkommen ernst.

Lächelnd schüttelte Charlie den Kopf; seine linke Hand schob sich sanft unter ihr Kinn. „Das glaube ich nicht."

Skeptisch blickte Tal ihn an. Seine Augen sagten ihr, dass auch er es vollkommen ernst meinte, doch konnte sie seine Zuversicht teilen? Noch immer konnte sie nicht begreifen, was geschehen war. Sie verstand sich selbst nicht. Der Gedanke, was passiert wäre, hätte Charlie sie nicht gerettet, war ihr beinahe unerträglich. Und doch ließen seine Worte Zuversicht in ihr wachsen. Sie fühlte die Schuld schwer auf ihren Schultern lasten, aber gleichzeitig war ein großer Durst, ein unbändiger Ehrgeiz von ihr gefallen. Charlie liebte sie, wie sie war. Und sie liebte ihn.

Gerade wollte sie seinen Händen nachgeben und den Kopf in den Nacken legen. Doch dann sah sie das Lodern in seinen Augen, spürte ihr eigenes Herz, das wie wild zu schlagen begonnen hatte, und sie hielt inne.

„Charlie?"

„Ja, Ma´am?"

„Zünde kein Feuer an, das du nicht wieder löschen kannst!"

Charlie blickte sie verblüfft an, doch dann musste er lachen. „Zu spät!", antwortete er, nahm ihr Gesicht in die Hände und gab ihr einen langen, leidenschaftlichen Kuss.