14. Der Himmel klärt sich
Drei Monate waren verstrichen, als das kleine britische Flugzeug seinem Heimathafen Heathrow entgegen segelte. Es war ein kalter, klarer Herbstmorgen. Der Himmel war strahlend blau, nur ab und zu durchschnitt die Maschine einige weiße Wattewolken.
Tal saß neben dem Piloten im Cockpit, Serpensia hatte sich auf ihrem Schoß eingekringelt. Gedankenverloren lehnte sie den Kopf an die Fensterscheibe und starrte in den Himmel. Sie fühlte sich merkwürdig. Eine Mischung aus Freude und Bedauern erfüllte sie, während sie an ihre vergangene Zeit in Rumänien dachte, die nun vorüber war. Zweifellos würde sie im Zaubereiministerium ein berauschender Empfang erwarten. Amos Diggory hatte wirklich allen Grund, um stolz auf sie zu sein. Sie hatte ihren Job hervorragend gemeistert, und Mr. McDougal war derart zufrieden mit ihrer Arbeit gewesen, dass er sie am Ende gar nicht mehr hatte gehen lassen wollen. Was hätte er wohl dazu gesagt, hätte er erfahren, dass seine junge Mitarbeiterin eine Art von Todesserin gewesen war? Tal mochte sich die Folgen lieber nicht ausmalen. Doch Charlie hatte ihr versprochen, die ganze Geschichte für sich zu behalten, und sie vertraute darauf. Nun saß sie also im Flugzeug, mit der Aussicht auf eine wohlverdiente Beförderung. Der Beförderung, nach der sie so lange getrachtet hatte. Sie konnte endlich zeigen, was in ihr steckte, und dennoch wurde ihre Freude von Wehmut getrübt. Mit jedem Kilometer, den die Maschine flog, trug sie Tal dichter ins graue, verregnete London – und weiter weg von Charlie.
Die Stimme ihres Piloten riss Tal aus den Gedanken. „Schön, Sie wieder einmal fliegen zu dürfen, Miss Chang!", bemerkte er vergnügt. Rasch warf er ihr einen freundlichen, triumphierenden Blick zu und zwinkerte. „Sehen Sie – ich habe mir ihren Namen gemerkt!"
Tal wandte den Kopf und betrachtete den alten, weißhaarigen Mann an ihrer Seite. Ein Lächeln erhellte ihr ernstes Gesicht. „Sie haben ein gutes Gedächtnis, Mister", lobte sie schmunzelnd.
Der Pilot lachte. „Und?", fragte er nach einer Pause. „Wie war ihre Dokumentation? Hatten Sie Erfolg?"
„Ja!", antwortete sie strahlend. „Mein Chef in London ist regelrecht begeistert von mir! Stellen Sie sich vor, sobald ich wieder zurück bin, will er mich zu seiner persönlichen Assistentin und Beraterin machen!"
„Nun, wenn das so ist, kann man anscheinend wirklich von Erfolg sprechen!", erwiderte ihr Begleiter beeindruckt.
Tal holte tief Luft. „Ja, das denke ich auch. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten hat sich die Sache ganz gut entwickelt.
„Anfangsschwierigkeiten? Sie meinen, es gab Schwierigkeiten mit den Luchsen? Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert!"
Tal brauchte einen Moment, ehe sie kapiert hatte, wovon er sprach. Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Oh nein, die Luchse waren das kleinste Problem!", antwortete sie nachdenklich. „Die Schwierigkeiten, die wir hatten, waren weitaus größer. Nicht wahr, Pansy?"
Erwartungsvoll blickte sie auf die Schlange hinab, die bewegungslos auf ihren Knien lag. Ihr war, als hätte sie ein leises Zischen gehört. Ein Zischen, dem sie keinerlei Worte entnehmen konnte. Tal unterdrückte ein Seufzen.
„Ein wirklich außergewöhnliches Haustier, Ihre Python", lächelte der Pilot. „Aber glauben Sie wirklich, dass die Schlange Sie versteht?"
Tal blickte zu Boden. „Nein", murmelte sie traurig. Mit der Zerstörung des Rubins waren auch ihre Fähigleiten als Parselmund verschwunden. Allmählich begann Tal daran zu zweifeln, ob sie vor ihrer Begegnung mit Serpensia überhaupt da gewesen waren. Vielleicht war der Einfluss des Dunklen Lords so stark gewesen, dass sie bereits dessen Fähigkeit, mit Schlangen zu sprechen, übernommen hatte? Tal wusste es nicht. Doch der Gedanke war ihr noch immer unangenehm, so dass sie ihn schnell wieder vertrieb.
„Ach, nehmen Sie es nicht so schwer!", sagte ihr Begleiter tröstend, jedoch mit einem amüsierten Unterton in der Stimme. „Schauen Sie nur, was für eine hervorragende Sicht wir haben! Wir befinden uns direkt über dem ungarischen Gebirge – sehen Sie, diesen hohen Gipfel dort? Man nennt ihn den Kékes, er ist über tausend Meter hoch!"
Interessiert spähte Tal aus dem Fenster, was ihr Pilot mit zufriedener Genugtuung registrierte. „Das Wetter ist weitaus besser als bei ihrem Hinflug, nicht wahr, Miss Chang?", lächelte er. „Ich kann mich noch an den dichten Nebel und die Turbulenzen erinnern ... aber solch eine klare Sicht entschädigt einen doch für so manches, nicht wahr?"
Tal musterte ihn nachdenklich.. „Ja", stimmte sie zu, „eine Weile lang ist es wirklich ziemlich neblig gewesen." Langsam wandte sie den Kopf und blickte aus dem Frontfenster. Die Sonnenstrahlen verfingen sich in den Wolken, doch dahinter lag nichts als der weite, blaue Horizont. Tal lächelte, lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Ich bin froh, dass der Himmel wieder klar ist", fügte sie in Gedanken hinzu.
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ENDE
© 2003 Sierra
