Kapitel 1 - Verloren in der Fremde

Verloren stand Haruka Tenoh in dem Empfangssaal der großen Villa, in die man sie gebracht hatte, nicht im Geringsten daran interessiert sich um zu blicken oder auch nur einen Hauch von Bewunderung für das prachtvolle, alte Gemäuer aufzubringen. Das knabenhafte Mädchen mit den kurzen. blonden Fransen fühlte gar nichts. Kein wenig Angst, was nun aus ihr würde, oder Neugierde auf die Menschen, welche sich nun um die Waise kümmern würden, keine Trauer mehr, nur Hass....Hass für die, welche ihr den Vater genommen hatten. Und unbändige Wut auf das Schicksal, die ganze Welt. Warum? Warum konnten die sie nicht gleich mit erledigen? Was sollte sie noch hier? In dieser seltsamen, fremden Pflegefamilie?!?

Ein Hausmädchen in viel zu altmodischer Uniform kam und führte Haruka eine breite Treppe hinauf. Hilfsbereit hatte sie versucht dem Kind ihr Gepäck abzunehmen, das seltsamerweise nur aus einer einzigen Reisetasche bestand. Doch mit eisigem Blick brachte die Grünäugige sie von ihrem Vorhaben ab, indem sie ruckartig die Hand zurückzog und die Griffe der Tasche so fest umklammerte, dass die Knochen ihrer Finger weiß hervortraten. Unmerklich schüttelte die Angestellte den Kopf und verzog das Gesicht zu einem abschätzenden Stirnrunzeln. Niemand wusste, was dieses seltsame Kind hier sollte, und wo es auf einmal her kam.

Zur selben Zeit in der Polizeizentrale Abteilung für Mordfälle.

"Was haben wir über das Opfer?" "Hiroshi Tenoh - Angesehener Herzchirurg. Tat sich besonders hervor durch seine Aktivitäten in der Genforschung. Frau starb 1999 an Brustkrebs. Hinterlässt 8-Jährige Tochter." "Sonst nichts? Keine Hinweise auf Täter und Tatmotiv?" Irritiert runzelte Detective Kaketo Shinichi. die Stirn. "Wir sind schon an seinen Akten dran. Alles nur eine Frage der Zeit" entgegnete Inspector Satoshi Ishikawa mit geschäftiger Miene. "Zeugen?" "Negativ! Einzige Zeugin, Tochter Haruka macht den Mund nicht auf, steht wohl unter Schock. Wir haben sie schon in Obhut eines Psychologen gegeben. Natürlich ist sie auch stark gefährdet. Aus Sicht des, oder der Täter muss sie eine Tickende Zeitbombe sein. Wir haben sie im Zuge des Zeugen - Schutz - Programms in eine Pflegefamilie auf dem Land gegeben. Top Secret. Keiner weiß Ort und Namen." "Wunderbar Ishikawa. sie arbeiten, wie immer schnell und gründlich." Entgegnete der Detective mittleren Alters mit zufriedenem Lächeln, zupfte seine Krawatte zurecht und verschwand dann ohne Weiteres in seinem Büro.

Gehorsam unterwürfig klopfte die Angestellte, des hohen Hauses an der großen Holztür direkt am oben Fuß der Treppe, deren schier unzähligen Stufen sie soeben hinter sich gelassen hatten. Auf ein brummiges "Herein" hin öffnete sie sie mit knarrendem Geräusch. "Sir? Ihr....Pflegekind ist angekommen, möchten sie es jetzt in Augenschein nehmen?" Fragte das unscheinbare Mädchen zögernd in zurückhaltendem Ton, und schob Haruka nach einem unzufriedenen "Wenn es sein muss, ich hab noch zu arbeiten." ohne ein weiteres Wort in die große Bibliothek hinein, die sich nun vor ihnen auftat. Mit kühlem, trüben Blick schritt das blonde Mädchen auf den sperrigen, alten Schreibtisch zu, der mitten im Raum stand. "Komm näher Junge!" brummte der ältere Herr, der sich dahinter gewichtig aufbäumte. Widerwillig gehorchte Haruka, ohne das Missverständnis aufzuklären. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Ihr war es gleichgültig. "Hör zu" sagte der Fremde in ehrfurchtgebietend donnerndem Tonfall. "Ich habe mich bereit erklärt, Dir Obdach zu gewähren. Das war lediglich, weil ich noch jemanden etwas schuldig war. Ich bin sehr beschäftigt und kann keine Störungen dulden! Hast Du verstanden?" Haruka schwieg aber nickte mit abweisend geschürzten Lippen. Also fuhr der Hausherr fort: "Halte dich von mir fern. Für alles Weitere ist jetzt Dein Kindermädchen verantwortlich und die anderen Hausangestellten. Sie werden dir weitere Instruktionen geben. Also, tu was immer ein Junge in Deinem Alter zu tun hat, aber tu es nicht in meiner Nähe!" Mit diesen Worten beendete er seinen Monolog und läutete eine kleine Glocke, deren Klang das unverzügliche Erscheinen des Hausmädchens bewirkte, welches Hektisch herein geeilt kam und die Blonde aus dem Raum scheuchte. Sie brachte sie in einen Raum im westlichen Flügel des Hauses und stellte ihr einen kühlen, altmodischen Raum als ihr Zimmer vor. "Wir haben noch nicht viel für dich besorgt. Es kam alles so überraschend. Auf Spielsachen wirst du also bis auf Weiteres verzichten müssen. Aber dort im Schrank findest du Spielkleidung und Anzüge, die dir passen müssten." Gezielt deutete die dunkel gekleidete auf einen hölzernen Kleiderschrank. "Dein Essen wird dir immer gebracht. Iss jetzt und schlafe dann, morgen wirst du alles Weitere von Deiner Kinderfrau erfahren." Ohne ein weiteres Abschiedswort setzte das Mädchen zum Gehen an, um dann abrupt inne zu halten. "Ach ja!" Dina, wie sie sich selbst vorgestellt hatte, drehte sich auf dem Absatz herum und fügte hinzu. "Ehe ich es vergesse. Höre jetzt genau zu Kleiner: Du darfst überall hin. Mit Ausnahme des Ostflügels. Der ist verboten." "Wieso?" Erwiderte Haruka mit teilnahmsloser, abfälliger Stimme. Verwundert hob Dina eine Augenbraue, vor Überraschung, das schon stumm gewähnte Kind nun doch sprechen zu hören. "Ganz einfach." Warf sie mit kaum merklich spitzem Unterton ein. "Es gibt hier ja wohl genug Platz zum Spielen. Also musst du Deine Freche Nase ja nicht überall hineinstecken." Sie betone ihre, recht unzulängliche Begründung mit einem abschließenden Nicken und verließ nun endgültig den Raum. Allein blieb Haruka zurück, legte sich aufs Bett so wie sie war und viel in einen unendlich erschöpften, traumlosen Schlaf. Ein einsames, kleines Mädchen, dass soeben beschlossen hatte für alle anderen ein Junge zu bleiben....