Kapitel 2 - "Was verbergen die hier?"

"Nein!!! Bitte! Vater! Nein! Lauf weg!..." Hallte es gellend durch Harukas Zimmer. Schweißgebadet wachte Sie von ihren eigenen verzweifelten Schreien auf. Zwei Wochen war das verbitterte Mädchen nun bereits hier und war in jeder Nacht von quälenden Träumen geweckt worden. Haruka hatte sich noch längst nicht mit ihrem Schicksal abgefunden, geschweige denn, sich in diesem Haus, umgeben von anonymen Fremden, eingelebt. Ihre Tage bestanden aus Sitzungen bei Whanumi Shitowa, dem seltsamen Kauz von Analytiker, der ihr dabei helfen sollte, das Erlebte zu verarbeiten. Bisher hatte sie beharrlich geschwiegen. Verzweifelt probierte er sämtliche typischen Übungen aus und zeigte ihr Unmengen von Tintenkleksen. "Sag mir, was siehst du hier?" Fragte er dann, für gewöhnlich, in gespielt geduldigem Ton. "Kornflakes mit Milchpampe!" Antwortete Haruka in lässigem Tonfall. Ohne eine Miene zu verziehen hielt er ihr das nächste Bild vor die Nase. "Und dieses hier?" "Ein Hundehaufen" Entgegnete das Mädchen stur. So ging das Stunden, um Stunden. Sie kamen nicht wirklich weiter und Whanumi Shitowa versuchte mühsam, sich nicht anmerken zu lasen, dass er an dem Knaben schier zu verzweifeln schien. Den Rest des Tages brachte Haruka mit ihrer Kinderfrau zu, die ihr auch Privatunterricht in den nötigen Schulfächern gab. Die diplomierte Sozialpädagogin Merl Kinshima hatte ein strenges, verkniffenes Gesicht, welches den tief im Innern verborgenen, weichen Kern, voller Gutmütigkeit verbarg. Ihre langen, grauen Haare pflegte sie streng am Hinterkopf aufzutürmen, und ihre Kleidung schien immer gleich altbacken und pedantisch korrekt gebügelt zu sein. Smalltalk lag der gradlinigen Lehrerin nicht, was ganz in Harukas Sinne war. So musste sie wenigstens keine unliebsamen Fragen beantworten, oder gar mehr reden als das Allernötigste. Ihre Freizeit verbrachte das verschlossene Mädchen damit, im Haus umher zu stromern. Den Westflügel hatte sie sich schon bereits komplett erschlossen. Lange Gänge mit alten Bildern verziert und Galerie mit weiteren sehr schönen Gemälden....wer die wohl gemalt haben mochte? Als Haruka eines Tages ihre Kinderfrau danach fragte, hielt die sich sehr bedeckt und sagte nur, die seien von der Tochter Takoshi Kaiohs, des Hausherren. Seltsam. Er hatte eine Tochter? Wieso hatte sie die dann noch nie zu Gesicht bekommen? Sie bekam keine weiteren Antworten, also schob die nun inzwischen doch etwas Neugierige, die Gedanken daran zur Seite. Auch wenn es gut war, dass sie nach und nach wieder Interesse für Dinge zu hegen begann. Neugierde ist auch eine Form von erwachender Lebendigkeit. Sie rettete ein gebrochenes Herz davor aus zu dorren... Ein weiterer Raum, den sie im Westflügel fand, war ein riesenhaftes Musikzimmer. Mit aufgerissenen Augen starrte das, für ihr Alter recht hochgewachsene, dünne Mädchen zwischen den erstaunlich zahlreichen Instrumenten umher. Zwei kostbare Konzertflügel standen da mitten im Raum. Mehrere offenbar teure Violinen zierten Vitrinen, und auch sonst gab es vieles, dem ein Virtuose wunderschöne Klänge entlocken würde können. Aber nie hörte Haruka auch nur einen Ton. Warum wirkten all diese wertvollen Stücke, als wären sie mit dem Bann eines 100 jährigen, tiefen Schlafes belegt? Auch auf die Frage danach bekam die Achtjährige nur unzureichende Antwort. Das unbefriedigende Resultat der stammelnden Erklärungen, der sonst so souveränen Pädagogin lautete: "Ach Kind! Was interessiert dich das? Das waren der Schwiegersohn und die Tochter des Hausherren... Sie haben darauf gespielt. Und nun Schluss damit! Wir haben zu lernen!" Das wurde ja immer besser! Dieser vergnatzte Greis hatte doch tatsächlich Familie. Unvorstellbar, dass ein so unfreundlicher Mensch mal eine Frau gehabt haben sollte, die ihm noch dazu ein Kind geschenkt hatte. Und wo zum Kuckuck steckten die? Waren sie ausgezogen? Hm, das musste es sein. Lag ja auch nahe. Wer wollte schon freiwillig in dieser verkühlten Atmosphäre dieser Spukschlossartigen Gemächer leben? Ha! Sie musste das nun jedenfalls. Ob sie jemals bereit sein würde, das Beste daraus zu machen? Im Moment hielt sie dies zumindest nicht wirklich für ein Leben, sondern eher für dahin vegetieren. Es gab nichts, was ihrem Leben irgendeinen Sinn zu geben schien. Die Frage ob und wie lange sie so leben wollte und konnte, verdrängte das für sein Alter viel zu nachdenkliche Mädchen geflissentlich.

Solche, und andere Gedanken kreisten in Harukas kleinen Kopf, als sie eines Nachts wach in ihrem Bett lag. Die Grübelei verselbstständigte sich so sehr, dass nicht daran zu denken war Schlaf zu finden. Es war eine gespenstisch neblige Nacht. Vor ihrem Fenster rauschten die Blätter in den Bäumen. Ihre Stämme bogen sich im tosen des heulenden Windes. Die Vorläufer von Gewitter, dachte Haruka bei sich, als sie plötzlich hochschrak und mucksmäuschenstill hielt, um genauer hören zu können. Da war doch eben noch etwas anderes gewesen. Das war kein Wind! Wieder lauschte sie. - nichts.... Doch, da war es wieder! Ein kreischendes Jammern, kaum hörbar im überschneidenden Duett des Wettergetöses. Spitze Schreie, die anschwollen und wieder verklangen. Was in drei Teufels Namen war das? Was ging hier vor? Hatte das mit dem verbotenen Westflügel zu tun?