Kapitel 1

Bande

Ein Schatten rauschte am Fenster vorbei. Logan fuhr mit einem tiefen Grollen in seiner Kehle aus dem Bett und sah sich desorientiert um. Sein Körper war mit Schweiß bedeckt, seine Hände zitterten und er musste sie für einen Moment auf die weiche Matratze stützen, um sie zur Ruhe zu bringen.

Sein unsteter Blick huschte zum Fenster, vor dem er die Schatten von Blättern tanzen sah. Ansonsten war in dem trüben nächtlichen Licht nicht zu erkennen. Er musste geträumt haben. Dennoch waren all seine Sinne gespannt, ein Raubtier, das Beute gewittert hatte. Ein Blick auf den Wecker. Es war vier Uhr am Morgen. Eine Woche war seit Jeans Tod vergangen und dies war der erste Schlaf, den er sich seither gegönnt hatte.

Vielleicht war er überreizt. Doch er hätte schwören können, dass dort draußen etwas - oder jemand - war.

Er sprang aus dem Bett, schüttelte mit einem Mal alle Müdigkeit ab. Auf nackten Füßen schlich er zur Tür und durch den Korridor, sein Gehör auf jedes ungewöhnliche Geräusch konzentriert, die Augen in die Dunkelheit gebohrt wie die Dolche, die unter seiner Haut schlummerten. Er spürte, wie sich seine Muskeln anspannten, sich, getrieben von einem Urinstinkt, auf einen Kampf vorbereiteten.

Die Treppe knarrte leicht, als er in das Erdgeschoss hinunterschlich. Am Fuß der Stufen verharrte er, nahm eine Witterung auf. Hatte er es doch gewusst! Ein leichter, erdiger Geruch lag in der Luft, angenehm, aber in seiner Unbekanntheit eine Bedrohung.

Er folgte der Fährte durch die Räume und gelangte schließlich zu der verschlossenen Tür, hinter der das Büro des Professors lag. Stille umgab ihn, als er angestrengt auf die wertvolle Holztäfelung der Tür starrte und etwas wahrzunehmen versuchte. Der Geruch war nun sehr stark und in seinen Fingerknöcheln baute sich eine unglaubliche Spannung auf, Vorbote des Hervorschießens der Klingen.

'Logan, so neugierig?' Er wäre fast vornüber gefallen, als die Pforte lautlos aufschwang und die freundliche Stimme Xaviers in seinem Kopf spottete. Wie ein ertappter Schüler fügte er sich in sein Schicksal und trat ein.

Das Büro war sparsam, aber erlesen eingerichtet, mit turmhohen Regalen, gefüllt mit Büchern in allen Sprachen und wertvollen Kunstgegenständen. Der Professor saß an einem kleinen Tisch, vor ihm eine dampfende Kanne Tee und zwei Tassen. Sein Gast hatte sich aus seinem Sessel erhoben und blickte Logan entgegen, die Arme verschränkt, die Augen schmal vor Misstrauen.

Die Frau trug nachlässiges Schwarz, abgewetzte Jeans, Kampfstiefel und einen halblangen Ledermantel, der sicher schon besser Tage gesehen hatte. Sie war groß und dünn, fast ausgemergelt. Die grünen Augen lagen tief in den Höhlen, und um ihren Mund zeigte sich eine harte Linie, die von Kummer und Wut sprach. Es war etwas Vertrautes an ihr, das Logan nicht näher bestimmen konnte.

"Logan", sagte Xavier und winkte ihn heran. "Da Du schon einmal hier bist, darf ich Dir eine alte Freundin vorstellen, die für ein paar Tage zu Besuch ist." Die Fremde entspannte sich ein wenig, doch ihr Blick war weiterhin wachsam. Sie steckte ihm nicht die Hand hin, sondern nickte knapp.

"Katherine Grey", sagte sie mit brüchiger Stimme und nach einem kurzen Zögern: "Jean war meine Schwester."

***

Kate beobachtete, wie sich das Gesicht das Mannes - Logan - veränderte. Für einen Moment las sie Schmerz in seinen dunklen Augen, sah seinen Atem stocken. Er musste Jean gut gekannt haben.

"Ich wusste nicht, dass sie eine Schwester dieses Namens hatte", sagte er schließlich langsam und maß sie mit Blicken, in denen nicht viel Freundlichkeit lag.

Kate seufzte. Eigentlich hatte sie es nicht nötig, sich vor diesem Mann zu rechtfertigen. Sie war eine Tag und eine Nacht lang geflogen und war zum Umfallen erschöpft. Sofort nach jenem seltsamen Schmerz in ihrer Brust, der sich angefühlt hatte, als habe man einen Teil von ihr herausgerissen, hatte sie sich auf den Weg gemacht, ahnend, was geschehen war.

"Halbschwester", korrigierte sie. "Wir haben erst vor einigen Jahren voneinander erfahren, als ich hier eingeschult wurde. Wir haben einen gemeinsamen Vater."

Böse Erinnerungen an ihre Schulzeit durchfuhren sie, Erinnerungen an Schmerzen, Hass und Wut. All die schöne Zeit, bevor sie das Institut verfrüht verlassen hatte, verblasste im Angesicht der düsteren Bilder.

Nur Jeans lächelndes Gesicht war ihr stets ungetrübt in Erinnerung geblieben und umso mehr fühlte sie sich, als sei ein Teil ihres Selbst verlorengegangen. Auch wenn sie in den vergangenen Jahren nur wenig Kontakt gehabt hatten, so hatte Kate doch stets das Gefühl gehabt, bei Jean ein Zuhause finden zu können, wenn sie es benötigte.

"Du siehst also", durchbrach Xavier die unangenehme Stille und goss sich Tee nach. "Ich bin nicht in Gefahr. Du kannst also wieder beruhigt schlafen gehen."

Logan hob im Angesicht des Hinauswurfs kurz eine markante Augenbraue, dann nickte er und zog sich zurück. Kate maß seine kraftvolle Gestalt mit einem langen Blick, bevor sich die Tür schloss. Er war auf raue Weise attraktiv - und gefährlich. Kein Mann der vielen Worte.

"Ein unfreundlicher Wachhund", sagte sie, als sie sich endlich wieder in den Sessel fallen ließ. Ihre Schultern schmerzten von der ungewohnte Anstrengung des Tages.

"Eher ein Wolf", erklärte Xavier mit einem amüsierten Funkeln in seinen Augen. "Mit stählernen Krallen und dem Verhalten eines arbeitslosen Truckers. Er ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber dennoch ein wichtiger Teil des Teams."

"Also haben Sie Ihren Traum von der Privatarmee erfüllt?" Kate bemühte sich nicht, ihren sarkastischen Tonfall abzumildern. "Eine Gruppe rechtschaffender Mutanten, die zur Rettung der menschlichen Welt heraneilt!" Xavier seufzte.

"Es tut mir leid, dass Du so bitter bist, Katherine. Ich verstehe, dass viele Dinge, die geschehen sind-."

Kate winkte schroff ab.

"Geschenkt, Professor. Ich bin nicht hier, um darüber zu diskutieren, wie wir zu den Menschen stehen. Ich möchte einfach nur ein paar Tage mit denen verbringen, die Jean wichtig waren." Sie erhob sich abrupt, plötzlich verschämt über ihre Art, ihn anzufahren. Er hatte stets das Beste für sie gewollt, hatte sie getröstet und ihr beigestanden. Und nun dankte sie es ihm auf diese Weise. "Wenn Sie nichts dagegen haben, Professor, dann möchte ich mich jetzt zurückziehen. Morgen wird sicher ein besserer Tag sein."

"Aber natürlich." Xavier reichte ihr seine Hand, die sie kurz drückte. Ein wenig Trost flutete in ihren Körper und die vertraute Berührung brachte sie zum Lächeln. "Das rote Zimmer ist frei für Dich. Bis morgen."

Sie schlüpfte aus dem Büro. Vor der Tür blieb sie einen Moment stehen und atmete tief durch. Ihr Blick blieb an den vertrauten Wänden hängen. Aus dem Fernsehzimmer drangen noch Licht und leise Stimmen. Sie beschloss, nachzusehen, wer sich zu dieser nachtschlafenden Zeit noch an diesem Ort herumtrieb.

***

Logan konnte noch immer nicht schlafen. Katherine Greys Geruch lag ihm noch in der Nase und hielt sich mehr als hartnäckig.

Er ging in die Küche und entdeckte noch ein paar Reste Hühnchen vom Mittagessen, die er hungrig verschlang. In dem Moment, in dem er den Teller wegstellen wollte, hörte er amüsiertes Lachen aus dem Fernsehraum. Grummelnd machte er sich auf den Weg, um die dortigen Schüler zur Ruhe zu mahnen, doch es war eine ganz andere Gesellschaft als die Erwartete, die er auf den Sofas vorfand.

Kurt Wagner hockte auf einem der Sofas und kicherte. Ein Geräusch, das Logan überraschte. Der Nightcrawler, ein Mutant mit dunkler Haut, der an einen Kobold erinnerte, war eigentlich ein ruhiger und nachdenklicher Mann. Ihm gegenüber saß Xaviers später Besuch, die Beine lässig auf den Fernsehrtisch gelegt. Sie hatte den Zopf ihrer dunkelbraunen Haare gelöst und wirkte entspannter als zuvor. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, das ihn frappierend an Jean erinnerte.

Sie hob den Kopf, als er nähertrat.

"Mr. Logan", sagte sie recht kühl und Logan konnte zum ersten Mal in ihren Mundwinkeln die Spitzen überlanger Eckzähne erkennen. Was immer sie für ein Mutant war, sie schien mit dem Nightcrawler einige Gemeinsamkeiten zu haben. "Sie scheinen auch ein nachtaktives Wesen zu sein."

Die ungezwungene Stimmung war abrupt vergangen und es ärgerte Logan ein wenig, dass er ausgeschlossen wurde. Aber was erwartete er auch. Kurt schenkte ihm ein zähnefletschendes Lächeln, das bedrohlicher wirkte, als es eigentlich gemeint war.

"Wir wollten Dich nicht stören, Logan." Er wies auf den Fernsehschirm, auf dem eine alte Folge der Batman-Zeichentrickserie flimmerte. "Wir habe nur etwas ferngesehen. Setz Dich doch zu uns."

"Nein danke", grummelte Logan. Kates taxierender Blick störte ihn gewaltig und er wollte sich schon umdrehen und wieder ins Bett gehen, als eine weitere Person durch den Flur kam. Kate sprang vom Sofa und lief Scott entgegen, der sie für einen Moment verdutzt anstarrte und dann die Arme um sie schloss.

Sie flüsterte etwas, das Logan nicht verstehen konnte. Kurt erhob sich vom Sofa, schaltete den Fernseher aus und verflüchtigte sich diskret in einer Wolke schwarzen Rauchs. Logan stand immer noch wie angewurzelt am selben Ort und beobachtete, wie Kate leise und liebevoll auf Scott einredete. Schließlich drückte er sich an den noch immer in einer Umarmung gefangenen Mutanten vorbei. Er bemerkte Tränen in Kates grünen Augen und als er die knarrende Stufen zum Obergeschoss hinaufstieg, kam er sich verflucht einsam vor.

Scott konnte seine Trauer mit jemandem teilen, der ihm offensichtlich nahe stand. Logan konnte es nicht. Nicht mit Rogue, die einfach noch zu jung war und nicht mit einem der andere X-Men. Mit mehr Schwung als nötig warf er die Zimmertür hinter sich zu.