Kapitel 4
Verletzungen
Die blauen Flecken an ihrem Hals waren nicht zu übersehen, als Kate am nächsten Morgen vor dem Spiegel stand. In weiser Voraussicht war sie am vergangenen Abend in die Stadt gefahren und hatte sich etwas Neues zum Anziehen gekauft. Eine neue Blue Jeans, die ihr vor Augen geführt hatte, wie viel Gewicht sie die letzten Wochen gekostet hatten und einen Rollkragenpullover, der die meisten der hässlichen Flecken zumindest halbwegs vor neugierigen Augen schützen würde.
Stirnrunzelnd betrachtete sie die Ringe unter ihren Augen, noch trübe von der ersten ruhigen Nacht seit langem. In ihrem Leben lief definitiv etwas falsch. Vielleicht war es ihr Leben selbst. Sie warf ihrem Spiegelbild ein schräges Grinsen zu, drapierte ihre langen Haare um ihren Hals und machte sich auf die Suche nach der Quelle des durchdringenden Kaffeegeruchs, der sie geweckt hatte.
In der Küche saß eine Schülerin noch beim Frühstück, ein vielleicht 17 Jahre altes Mädchen mit einer auffälligen weißen Strähne in dunklen Haar und langen Handschuhen.
"Guten Morgen", grüßte Kate, goss sich einen Kaffee ein, schüttete eine Menge Zucker hinein und setzte sich an den Tresen. Das Mädchen sah auf und lächelte. Sie war auf eine Beschützerinstinkt weckende Weise hübsch und wirkte zerbrechlich. "Ich bin Rogue. Oder auch Marie."
"Rogue klingt gar nicht schlecht!" Kate erwiderte das Lächeln und betrachtete die kurze Unterhaltung bereits als abgeschlossen, als Rogue zögerlich sagte:
"Er wollte das bestimmt nicht!" Kate runzelte die Stirn und unbewusst fuhr ihre Hand zu ihrem verrutschten Kragen. Sie wusste eine Antwort, sondern hörte sich an, was ihr Gegenüber zu sagen hatte. "Manchmal ist er ziemlich unbeherrscht, aber er würde keinen seiner Freunde willentlich verletzen."
"Woher weißt Du von der Sache?"
Marie zuckte die Achseln und grinste.
"Ihr hätte Euch nicht direkt unter einem Klassenfenster schlagen sollen. Das war der Höhepunkt des gestrigen Tages. Es gibt wohl keinen in der Schule, der nicht Bescheid weiß. Manche haben gewettet, aber da Logan sowieso immer gewinnt, wird es langsam langweilig." Kate wurde sich bei dem träumerischen Blick in Maries Augen bewusst, dass Jean wohl nicht die einzige Frau in der Schule gewesen war, die auf Logans Gassenkötercharme stand. Gelinde amüsiert schüttete sie den Kaffee hinunter und gönnte sich gleich noch eine zweite Tasse. "Dass Du Jeans Schwester bist, weiß inzwischen auch jeder", fügte Rogue in nebensächlichem Tonfall hinzu.
"Das sollte mich wohl nicht überraschen!" Kate konnte nicht wirklich böse sein. "Ich war hier auch einmal Schülerin und habe wohl vergessen, wie vorzüglich die Buschtrommeln hier arbeiten."
"Wirklich, Du warst mal hier?" Marie beugte sich neugierig über den Tresen. "Wie lange ist das her? Und was bist Du für ein Mutant?"
"Eine Dame spricht niemals über ihr Alter, aber ich verließ die Schule in einem Jahr, in dem Reagan Präsident war und die ersten Mutantengesetze unterzeichnete." Sie zögerte, einer Fremden etwas über ihre Mutation zu erzählen. Aber eigentlich war egal, da sie doch alle im metaphorischen Boot saßen. "Ich -." Sie verstummt abrupt, als sie aus der Halle bekannte Stimmen hörte. "Marie, wir müssen das ein andermal fortsetzen."
Und bevor das Mädchen noch protestieren konnte, hatte Kate die Küche verlassen.
***
Logan schraubte verbissen an Scotts Motorrad herum, das er inzwischen als seines definiert hatte und warf schließlich entnervt den Schraubenschlüssel in die Werkzeugbox. Seit dem Gespräch in Xaviers Büro konnte er sich auf nichts konzentrieren, was ihm sonst so viel Spaß machte. Die halbe Nacht hatte er im Trainingsraum verbracht, um in körperlicher Anstrengung Ablenkung zu finden, doch der Plan war nicht aufgegangen.
Vor Scott und dem Professor seine Gefühle darzulegen, dieser verfluchte Seelenstriptease, das war wohl das Schlimmste gewesen, was er jemals gemacht hatte. Er hatte natürlich nichts von dem Kuss erzählt. Das musste er mit sich selbst ausmachen.
Schritte näherten sich, dann wurde die Tür zur Garage aufgeschoben. Scott trat ein, eine Woge eisiger Luft wogte mit ihm in den großen Raum. Draußen regnete es seit Tagesanfang und es sah auch nicht danach aus, als ob sich das in den nächsten Stunden ändern würde.
"Hey", sagte Scott. "War klar, dass ich Dich hier finde."
Logan blickte kurz auf und versuchte herauszufinden, was der Andere vorhatte, doch Scott zeigte ein beneidenswertes Pokerface, als er sich an eine Säule lehnte und Logan ruhig ansah.
"Wo sollte ich schon sein?", sagte Logan zwischen zusammengebissenen Zähnen und stand auf, um Scott auf gleicher Höhe zu begegnen. Der grinste kurz und humorlos.
"Hast Du Kate gesehen?", wollte er wissen und ließ sehr klar durchblicke, dass dies nicht die einzige Frage war, die er Logan stelle wollte. Doch aus irgendeinem Grund machte er keine Anstalten, auch nur ein Wort über Jean und vor allem das Gespräch in Xaviers Büro zu verlieren. Logan war dafür gleichzeitig dankbar, doch die Spannung, die ich erfüllte, konnte ihm nicht genommen werden. Diese Sache würde immer zwischen ihnen stehen und es war fraglich, ob sie sich nicht noch einmal derart gewaltsam entlande würde wie am Tag zuvor.
"Nein", antwortete er nach kurzem Schweigen. "Wieso, wird sie vermisst? Oder denkst Du, ich halte sie hier gefangen?"
"Witzig, Logan. Jeans Eltern waren heute Vormittag hier und seitdem hat sie keiner mehr gesehen." Bedauern schwang in Scotts Stimme mit. "Wenn Du sie siehst, kannst Du ihr sagen, dass sie weg sind."
"Haben wohl ihre Probleme miteinander gehabt?", erkundigte sich Logan, der sich irgendwie nicht vorstellen konnte, dass Kate sich vor irgendjemandem verkroch. Scott stutzte für einen Moment und schien abzuwägen, ob er ihm etwas derart Persönliches erzählen sollte. Schließlich nickte er knapp.
"John Grey hat, nachdem der Professor ihm damals mitteilte, dass er offensichtlich noch eine Tochter hat, sofort die Verantwortung übernommen und Kate anerkannt. Seine Frau konnte es ihm nie verzeihen und setzte alles daran, dass die beiden Mädchen keine Freundinnen wurden, doch sie scheiterte. Seit Kate die Schule verlassen hat, haben sie sich nicht mehr gesehen."
"Hmm, ", meinte Logan lediglich, hockte sich wieder neben die Maschine und griff zum Schraubenschlüssel. "Werd's ihr sagen, wenn ich sie sehe." Ihm war nicht entgangen, dass ihm Scott trotz seines Zögerns eine wichtige Erinnerung aus seinem Leben erzählt und gleichzeitig ein Stück von Kates Geschichte enthüllt hatte. Auch, wenn sie wohl niemals Freunde werden würde, schien es ihnen trotz der Ereignisse der letzten Tage gelungen zu sein, eine, wenn auch noch so kleine Basis des Vertrauens aufrechtzuerhalten.
Ein kleiner Anfang. Der ihm eigentlich nichts bedeuten sollte, es aber doch tat. Er hatte gesehen, wie sehr Scott gelitten hatte und so etwas wünschte Logan keinem Menschen. Seine Gedanken glitten in Xaviers Büro zurück, zu Scotts Worten über seine Eifersucht und Zorn, seinen Schmerz und sein Misstrauen. Und zu seinem eigene Geständnis, wie viel Jean ihm bedeutet hatte. Vielleicht war es das Beste gewesen, dass ihnen hatte passieren können.
Nachdenklich sah er Scott hinterher, der die Garage verließ und widmete sich dann wieder der Schrauberei, die ihm dieses Mal leichter von der Hand ging.
***
"Ist Dir eigentlich klar, dass alle nach Dir suchen?" Kate löste den Blick von den Dachschindeln unter ihren Füßen und blickte zur Seite. Rogue kletterte gerade aus einem der vorspringenden Dachfenster, setzte aber keinen Fuß auf die steil abfallenden Schindeln, sondern verharrte auf dem breiten Sims, die Arme um sich geschlungen, da es noch immer regnete. "Ziemlich nass hier oben!"
"Rogue, wenn Du runterfällst, wird Xavier mein Gehirn rösten. Bleib da um Gottes Willen stehen!" Besorgnis riss Kate aus ihren Gedanken. Sie erhob sich, streckte ihre steifen Glieder und erkannte an Rogues fassungslosem Blick, dass sie wirklich all ihre Glieder gestreckt hatte.
Seufzend konzentrierte sie sich und spürte, wie sich ihre Flügel langsam zurückbildeten und schließlich zwischen ihren Schulterblättern verschwanden, dann ging sie vorsichtig zu Rogues hinüber auf den Sims.
"Ist Dir nicht kalt?", fragte Marie missbilligend, als sie unter Kates freundschaftlichem Stupsen zurück auf den Dachboden kletterte. "Du bist klatschnass."
"Das macht nichts", sagte Kate lächelnd und wartet auf den Moment, in dem Marie mit der Frage hinausplatze.
"Weil Du eine Fledermaus bist?"
"Nein, weil ich Regen liebe", lachte Kate und freute sich über Maries verdutztes Gesicht. "Tatsächlich habe aufgrund meiner Mutation eine stark veränderte Temperaturwahrnehmung, aber hauptsächlich sitze ich hier oben, weil ich den Ausblick liebe. Als junges Mädchen habe ich das oft getan. Und wenn ich einmal ausrutschte, war das wirklich kein Drama."
Marie setzte sich auf eine der Umzugskisten, die in dem vollgepackten Raum herumstand und wirkte in Erwartung einer spannenden Geschichte wie ein Kätzchen vor einer Schale Sahne.
"Kannst Du mit den Dingern fliegen?", wollte sie wissen und verschränkte interessiert die behandschuhten Finger. Kates Blick wurde dadurch auf ihre Hände gelenkt und sie nahm sich vor, das Mädchen zu fragen, warum sie sie trug. Sie mochte Rogue wirklich gern, aber irgendwie war es seltsam, nur über sie selbst zu sprechen. Und vor allem auf diese Frage eine Antwort zu geben, die zu den Schwersten ihres Lebens gehörte.
"Früher konnte ich es einmal, aber inzwischen bin ich, sagen wir, aus der Übung", antwortete sie und hoffte mit ihrem Tonfall jegliches Nachbohren zu verhindern. Doch Marie schien gar nicht bemerkt zu haben, dass sie ihr auswich.
"Wow", meinte sie beeindruckt. "Das ist trotzdem echt freaky!"
Kate zuckte leicht zusammen. Jedes mal, wenn jemand das Wort in den Mund nahm, erinnerte sie sich an jene Nacht vor fast fünfzehn Jahren, in denen die Bewohner der nahen Stadt ausgezogen waren, um den "Freaks" in Xaviers Schule zu zeigen, was sie von Außeneutern hielten.
"Rogue?" Aus dem Inneren des Hauses schallte eine Jungenstimme zu ihnen hoch und Marie hüpfte von ihrer Kiste.
"Das ist Bobby, mein Freund. Er wird immer verrückt, wenn ich ihm nicht sage, wohin ich gehe."
"Genau die richtige Taktik", gab Kate zurück, von der Erinnerung niedergeschlagen und es dennoch zu verbergen suchend. "Geh schon, so lange quälen solltest Du ihn nicht."
Rogue zwinkerte verschwörerisch und war im nächsten Moment aus der Tür. Kate blieb noch eine Weile auf den staubigen Speicher stehen und sah sich um. Das Dachgeschoss war bei jenem Überfall der Städter abgebrannt und obwohl sich Xavier bemüht hatte, alles wiederaufbauen zu lassen, war es ihm doch nicht gelungen, alles wieder zu reparieren, was damals zerstört worden war.
Verletzungen
Die blauen Flecken an ihrem Hals waren nicht zu übersehen, als Kate am nächsten Morgen vor dem Spiegel stand. In weiser Voraussicht war sie am vergangenen Abend in die Stadt gefahren und hatte sich etwas Neues zum Anziehen gekauft. Eine neue Blue Jeans, die ihr vor Augen geführt hatte, wie viel Gewicht sie die letzten Wochen gekostet hatten und einen Rollkragenpullover, der die meisten der hässlichen Flecken zumindest halbwegs vor neugierigen Augen schützen würde.
Stirnrunzelnd betrachtete sie die Ringe unter ihren Augen, noch trübe von der ersten ruhigen Nacht seit langem. In ihrem Leben lief definitiv etwas falsch. Vielleicht war es ihr Leben selbst. Sie warf ihrem Spiegelbild ein schräges Grinsen zu, drapierte ihre langen Haare um ihren Hals und machte sich auf die Suche nach der Quelle des durchdringenden Kaffeegeruchs, der sie geweckt hatte.
In der Küche saß eine Schülerin noch beim Frühstück, ein vielleicht 17 Jahre altes Mädchen mit einer auffälligen weißen Strähne in dunklen Haar und langen Handschuhen.
"Guten Morgen", grüßte Kate, goss sich einen Kaffee ein, schüttete eine Menge Zucker hinein und setzte sich an den Tresen. Das Mädchen sah auf und lächelte. Sie war auf eine Beschützerinstinkt weckende Weise hübsch und wirkte zerbrechlich. "Ich bin Rogue. Oder auch Marie."
"Rogue klingt gar nicht schlecht!" Kate erwiderte das Lächeln und betrachtete die kurze Unterhaltung bereits als abgeschlossen, als Rogue zögerlich sagte:
"Er wollte das bestimmt nicht!" Kate runzelte die Stirn und unbewusst fuhr ihre Hand zu ihrem verrutschten Kragen. Sie wusste eine Antwort, sondern hörte sich an, was ihr Gegenüber zu sagen hatte. "Manchmal ist er ziemlich unbeherrscht, aber er würde keinen seiner Freunde willentlich verletzen."
"Woher weißt Du von der Sache?"
Marie zuckte die Achseln und grinste.
"Ihr hätte Euch nicht direkt unter einem Klassenfenster schlagen sollen. Das war der Höhepunkt des gestrigen Tages. Es gibt wohl keinen in der Schule, der nicht Bescheid weiß. Manche haben gewettet, aber da Logan sowieso immer gewinnt, wird es langsam langweilig." Kate wurde sich bei dem träumerischen Blick in Maries Augen bewusst, dass Jean wohl nicht die einzige Frau in der Schule gewesen war, die auf Logans Gassenkötercharme stand. Gelinde amüsiert schüttete sie den Kaffee hinunter und gönnte sich gleich noch eine zweite Tasse. "Dass Du Jeans Schwester bist, weiß inzwischen auch jeder", fügte Rogue in nebensächlichem Tonfall hinzu.
"Das sollte mich wohl nicht überraschen!" Kate konnte nicht wirklich böse sein. "Ich war hier auch einmal Schülerin und habe wohl vergessen, wie vorzüglich die Buschtrommeln hier arbeiten."
"Wirklich, Du warst mal hier?" Marie beugte sich neugierig über den Tresen. "Wie lange ist das her? Und was bist Du für ein Mutant?"
"Eine Dame spricht niemals über ihr Alter, aber ich verließ die Schule in einem Jahr, in dem Reagan Präsident war und die ersten Mutantengesetze unterzeichnete." Sie zögerte, einer Fremden etwas über ihre Mutation zu erzählen. Aber eigentlich war egal, da sie doch alle im metaphorischen Boot saßen. "Ich -." Sie verstummt abrupt, als sie aus der Halle bekannte Stimmen hörte. "Marie, wir müssen das ein andermal fortsetzen."
Und bevor das Mädchen noch protestieren konnte, hatte Kate die Küche verlassen.
***
Logan schraubte verbissen an Scotts Motorrad herum, das er inzwischen als seines definiert hatte und warf schließlich entnervt den Schraubenschlüssel in die Werkzeugbox. Seit dem Gespräch in Xaviers Büro konnte er sich auf nichts konzentrieren, was ihm sonst so viel Spaß machte. Die halbe Nacht hatte er im Trainingsraum verbracht, um in körperlicher Anstrengung Ablenkung zu finden, doch der Plan war nicht aufgegangen.
Vor Scott und dem Professor seine Gefühle darzulegen, dieser verfluchte Seelenstriptease, das war wohl das Schlimmste gewesen, was er jemals gemacht hatte. Er hatte natürlich nichts von dem Kuss erzählt. Das musste er mit sich selbst ausmachen.
Schritte näherten sich, dann wurde die Tür zur Garage aufgeschoben. Scott trat ein, eine Woge eisiger Luft wogte mit ihm in den großen Raum. Draußen regnete es seit Tagesanfang und es sah auch nicht danach aus, als ob sich das in den nächsten Stunden ändern würde.
"Hey", sagte Scott. "War klar, dass ich Dich hier finde."
Logan blickte kurz auf und versuchte herauszufinden, was der Andere vorhatte, doch Scott zeigte ein beneidenswertes Pokerface, als er sich an eine Säule lehnte und Logan ruhig ansah.
"Wo sollte ich schon sein?", sagte Logan zwischen zusammengebissenen Zähnen und stand auf, um Scott auf gleicher Höhe zu begegnen. Der grinste kurz und humorlos.
"Hast Du Kate gesehen?", wollte er wissen und ließ sehr klar durchblicke, dass dies nicht die einzige Frage war, die er Logan stelle wollte. Doch aus irgendeinem Grund machte er keine Anstalten, auch nur ein Wort über Jean und vor allem das Gespräch in Xaviers Büro zu verlieren. Logan war dafür gleichzeitig dankbar, doch die Spannung, die ich erfüllte, konnte ihm nicht genommen werden. Diese Sache würde immer zwischen ihnen stehen und es war fraglich, ob sie sich nicht noch einmal derart gewaltsam entlande würde wie am Tag zuvor.
"Nein", antwortete er nach kurzem Schweigen. "Wieso, wird sie vermisst? Oder denkst Du, ich halte sie hier gefangen?"
"Witzig, Logan. Jeans Eltern waren heute Vormittag hier und seitdem hat sie keiner mehr gesehen." Bedauern schwang in Scotts Stimme mit. "Wenn Du sie siehst, kannst Du ihr sagen, dass sie weg sind."
"Haben wohl ihre Probleme miteinander gehabt?", erkundigte sich Logan, der sich irgendwie nicht vorstellen konnte, dass Kate sich vor irgendjemandem verkroch. Scott stutzte für einen Moment und schien abzuwägen, ob er ihm etwas derart Persönliches erzählen sollte. Schließlich nickte er knapp.
"John Grey hat, nachdem der Professor ihm damals mitteilte, dass er offensichtlich noch eine Tochter hat, sofort die Verantwortung übernommen und Kate anerkannt. Seine Frau konnte es ihm nie verzeihen und setzte alles daran, dass die beiden Mädchen keine Freundinnen wurden, doch sie scheiterte. Seit Kate die Schule verlassen hat, haben sie sich nicht mehr gesehen."
"Hmm, ", meinte Logan lediglich, hockte sich wieder neben die Maschine und griff zum Schraubenschlüssel. "Werd's ihr sagen, wenn ich sie sehe." Ihm war nicht entgangen, dass ihm Scott trotz seines Zögerns eine wichtige Erinnerung aus seinem Leben erzählt und gleichzeitig ein Stück von Kates Geschichte enthüllt hatte. Auch, wenn sie wohl niemals Freunde werden würde, schien es ihnen trotz der Ereignisse der letzten Tage gelungen zu sein, eine, wenn auch noch so kleine Basis des Vertrauens aufrechtzuerhalten.
Ein kleiner Anfang. Der ihm eigentlich nichts bedeuten sollte, es aber doch tat. Er hatte gesehen, wie sehr Scott gelitten hatte und so etwas wünschte Logan keinem Menschen. Seine Gedanken glitten in Xaviers Büro zurück, zu Scotts Worten über seine Eifersucht und Zorn, seinen Schmerz und sein Misstrauen. Und zu seinem eigene Geständnis, wie viel Jean ihm bedeutet hatte. Vielleicht war es das Beste gewesen, dass ihnen hatte passieren können.
Nachdenklich sah er Scott hinterher, der die Garage verließ und widmete sich dann wieder der Schrauberei, die ihm dieses Mal leichter von der Hand ging.
***
"Ist Dir eigentlich klar, dass alle nach Dir suchen?" Kate löste den Blick von den Dachschindeln unter ihren Füßen und blickte zur Seite. Rogue kletterte gerade aus einem der vorspringenden Dachfenster, setzte aber keinen Fuß auf die steil abfallenden Schindeln, sondern verharrte auf dem breiten Sims, die Arme um sich geschlungen, da es noch immer regnete. "Ziemlich nass hier oben!"
"Rogue, wenn Du runterfällst, wird Xavier mein Gehirn rösten. Bleib da um Gottes Willen stehen!" Besorgnis riss Kate aus ihren Gedanken. Sie erhob sich, streckte ihre steifen Glieder und erkannte an Rogues fassungslosem Blick, dass sie wirklich all ihre Glieder gestreckt hatte.
Seufzend konzentrierte sie sich und spürte, wie sich ihre Flügel langsam zurückbildeten und schließlich zwischen ihren Schulterblättern verschwanden, dann ging sie vorsichtig zu Rogues hinüber auf den Sims.
"Ist Dir nicht kalt?", fragte Marie missbilligend, als sie unter Kates freundschaftlichem Stupsen zurück auf den Dachboden kletterte. "Du bist klatschnass."
"Das macht nichts", sagte Kate lächelnd und wartet auf den Moment, in dem Marie mit der Frage hinausplatze.
"Weil Du eine Fledermaus bist?"
"Nein, weil ich Regen liebe", lachte Kate und freute sich über Maries verdutztes Gesicht. "Tatsächlich habe aufgrund meiner Mutation eine stark veränderte Temperaturwahrnehmung, aber hauptsächlich sitze ich hier oben, weil ich den Ausblick liebe. Als junges Mädchen habe ich das oft getan. Und wenn ich einmal ausrutschte, war das wirklich kein Drama."
Marie setzte sich auf eine der Umzugskisten, die in dem vollgepackten Raum herumstand und wirkte in Erwartung einer spannenden Geschichte wie ein Kätzchen vor einer Schale Sahne.
"Kannst Du mit den Dingern fliegen?", wollte sie wissen und verschränkte interessiert die behandschuhten Finger. Kates Blick wurde dadurch auf ihre Hände gelenkt und sie nahm sich vor, das Mädchen zu fragen, warum sie sie trug. Sie mochte Rogue wirklich gern, aber irgendwie war es seltsam, nur über sie selbst zu sprechen. Und vor allem auf diese Frage eine Antwort zu geben, die zu den Schwersten ihres Lebens gehörte.
"Früher konnte ich es einmal, aber inzwischen bin ich, sagen wir, aus der Übung", antwortete sie und hoffte mit ihrem Tonfall jegliches Nachbohren zu verhindern. Doch Marie schien gar nicht bemerkt zu haben, dass sie ihr auswich.
"Wow", meinte sie beeindruckt. "Das ist trotzdem echt freaky!"
Kate zuckte leicht zusammen. Jedes mal, wenn jemand das Wort in den Mund nahm, erinnerte sie sich an jene Nacht vor fast fünfzehn Jahren, in denen die Bewohner der nahen Stadt ausgezogen waren, um den "Freaks" in Xaviers Schule zu zeigen, was sie von Außeneutern hielten.
"Rogue?" Aus dem Inneren des Hauses schallte eine Jungenstimme zu ihnen hoch und Marie hüpfte von ihrer Kiste.
"Das ist Bobby, mein Freund. Er wird immer verrückt, wenn ich ihm nicht sage, wohin ich gehe."
"Genau die richtige Taktik", gab Kate zurück, von der Erinnerung niedergeschlagen und es dennoch zu verbergen suchend. "Geh schon, so lange quälen solltest Du ihn nicht."
Rogue zwinkerte verschwörerisch und war im nächsten Moment aus der Tür. Kate blieb noch eine Weile auf den staubigen Speicher stehen und sah sich um. Das Dachgeschoss war bei jenem Überfall der Städter abgebrannt und obwohl sich Xavier bemüht hatte, alles wiederaufbauen zu lassen, war es ihm doch nicht gelungen, alles wieder zu reparieren, was damals zerstört worden war.
