Kapitel 5

Bilder aus dem Gestern

Die Welt war voller dröhnender Farben und Aromen, als Kate ins Bewusstsein zurückkehrte. Irgendwo im hintersten Winkel ihres Bewusstseins lauerte der Schmerz, doch sie ließ ihn nicht zu. Stattdessen kämpfte sie sich zurück, versuchte, ihren pulsierenden Kopf dazu zu zwingen, sich zu beruhigen und nicht von den auf sie einströmenden Eindrücken überwältigt zu werden.

Sie fühlte sich merkwürdig leicht und benötigte einige Zeit, bis sie erkannte, dass es nicht ihre Füße waren, die für sie gingen. Starke Arme hielten sie umfangen und dass es Logan war, der sie trug, das wusste sie sofort. Sein Geruch war unverwechselbar. Mit einem Seufzen barg sie ihre Wange an seiner Brust. Was immer auch passiert war, sie fühlte sich seltsam genug, um den Moment nicht zu hinterfragen.

Ein metallischer Geschmack in ihrem Mund verwunderte sie. Blut? Warum blutete sie?

"Was ist denn los?", murmelte sie und hatte das Gefühl, gerade eine Betäubungsspritze in den Mund bekommen zu haben, so sehr nuschelte sie.

"Es wird alles gut", klang Scotts Stimme von irgendwo her. "Keine Angst!"

Absolut lächerlich. Sie hatte niemals Angst. Vor keinem Menschen oder Mutanten. Zu viel war geschehen, als dass sie sich von den Gefahren, die das Leben mit sich brachte, aus dem Gleichgewicht bringen lassen würde.

Ihr Blick klärte sich, als sie spürte, wie sie auf etwas Weiches gelegt wurde. Sie erkannte ihr Bett und ihr Zimmer. Für einen Moment sah sie Logans unrasiertes Gesicht, das über ihr verharrte. Als er erkannte, dass sie vollends erwacht war, schenkte er ihr ein schiefes Lächeln, das seltsam beruhigend wirkte. Immer, wenn sie ihn schon in eine Kategorie Mann ablegen wollte, gelang es ihm, sie erneut zu überraschen. Dieses Mal geschah es, indem er ihr kurz durchs Haar strich, bevor er sich entfernte.

Scott erschien stattdessen neben ihr und setzte sich auf die Kante des Bettes. Er ergriff ihre Hand und drückte sie.

"Mach nicht so ein Gesicht!", murmelte sie beschwichtigend, noch immer nicht genau wissend, warum alle so verflucht besorgt um sie waren. "Ich bin einfach nur ein bisschen müde."

"Der Arzt ist schon unterwegs." Professor Xaviers Stimme erklang. Kate versuchte, den Kopf so weit zu drehen, dass sie ihn sehen konnte, doch es misslang. Seine Anwesenheit überzeugte sie davon, dass wirklich etwas Schlimmes vorgefallen sein musste.

Und dann fiel es ihr wieder ein und gleichzeitig mit der Erinnerung begann sie den Schmerz zu spüren. Ihr Kopf hämmerte, sie spürte getrocknetes Blut und die Schwellungen, die sich überall auf ihrem Gesicht und Körper bildeten. Ihre rechte Seite, in die sie die Tritte getroffen hatten, brannte wie Feuer. Vermutlich waren einige Rippen gebrochen.

Sie rollte sich aus einem alten Reflex mit allergrößter Anstrengung genau zu dieser Seite und dann so weit zusammen wie sie konnte. Die Schmerzen verebbten ein wenig, doch der Kampf, der in ihr tobte, war noch lange nicht entschieden.

Der alte Hass hatte sie erfasst, der ohnmächtige Zorn auf die Menschen, die bereits einmal ihr Leben zerstört hatten. Und nun war es erneut geschehen. Mit blinden Augen starrte sie auf die scharlachrote Tagesdecke, auf der sich einige dunklere Flecken gesammelt hatten. Ihr Blut.

Sie erinnerte sich an das Gefühl, blutend im Regen zu liegen, allein. Dies hier war so ähnlich und doch so anders. Dieses Mal waren sie bei ihr. Scott, der damals alles getan hatte um Jean zu retten und die Schule zu warnen und damit eine Entscheidung getroffen hatte die sie ihm nicht übel nehmen konnte. Der Professor, der trotz aller Geschehnisse wie ihr eigener Vater handelte. Und auch Logan blieb, ein neuer Freund, der trotz ihrer kleinen Reibereien nicht gezögert hatte, für sie zu kämpfen.

Seltsam getröstet, schloss sie die Augen.

***

Warten war so ziemlich das Letzte, was Logan gebrauchen konnte. Er stand mit Scott vor Kates Zimmer und war fest davon überzeugt, dass ein wenig Schlaf nicht schaden konnte. Allerdings stand ihm jene Loyalität im Weg, die er für andere Mutanten empfand.

Leise knurrend knetete er seine Fingerknöchel, als sich die Tür öffnete und der Arzt herauskam. Sachte zog er die Tür hinter sich zu und zuckte kurz zurück, als er Logan erblickte. Der Mann, ein Mitfünfziger, dessen Augen unter der goldgerändteren Brille müde blickten, war aus der Stadt und konnte dem Misstrauen gegenüber den Bewohnern der Schule wohl auch nicht ganz aus dem Weg gehen.

"Meine Herren", sagte er höflich und wollte sich an ihnen vorbeidrängen, doch es war Scott, der ihn aufhielt, indem er ihm bestimmt die Hand auf die Schulter legte.

"Wie geht es ihr?"

"Den Umständen entsprechend", sagte der Mediziner und richtete sich ein Stück weiter auf, so dass Scotts Hand abrutschte. "Bei einem Menschen würde ich sagen eine Woche Ruhe. Aber ich bin nun mal kein Spezialist für Mutanten!"

"Und, was geschieht jetzt?", erkundigte sich Logan beißend, die Angst des Mannes förmlich schmecken könnend. "Kehren sie jetzt in die Stadt zurück und schließen sich den Leuten an, die mit gezückten Mistgabeln auf die Schule marschieren und "Tod den Mutanten" rufen?"

Der Arzt schaffte es, empört auszusehen und funkelte Logan an.

"Manchmal glaube ich, dass Ihr genauso viele Vorurteile uns gegenüber habt wie wir!" Würdevoll ging er den Flur entlang, seine Schritte von den edlen Teppichen gedämpft. Logan fehlten die Worte. Scott hob schweigend die Augenbrauen, um die Worte des Mannes noch einmal zu unterstreichen. "Ihr könnt übrigens von Glück sagen, dass der Barkeeper für Euch ausgesagt hat. Ob nun Mutant oder nicht, ich flicke ungern Unruhestifter zusammen."

Logan wollte dem Arzt, dessen letzte Worte durch den Gang hallten, hinterher, doch er bezähmte seinen Impuls, als Kurt zu ihnen stieß. Die Kunde über den Vorfall hatte sich anscheinend schnell herumgesprochen.

"Ich werde für sie beten!", sagte der dämonisch anmutende Mutant mit der Seele eines Lamms. "Ich nehme an, ähm, Ihr wollt Euch nicht anschließen?"

"Beten hat noch nie zu irgendetwas geführt", gab Logan zurück. Kurt lächelte sanft, nicht im Mindesten beleidigt durch die Antwort.

"Vielleicht reicht es auch schon, sich dadurch getröstet zu fühlen."

Sich jeden weiteren Kommentars enthebend, stapfte Logan über den Korridor davon. In der Brusttasche seines Hemdes nach einer Zigarre fischend, beschloss er, noch ein wenig in die Garage zu gehen.

***

Kate erwachte. Durch das Fenster drangen trübe Sonnenstrahlen und erhellten ihr Zimmer gerade genug, um ihr keine Kopfschmerzen zu bereiten.

Im Gegensatz zum vergangenen Abend erinnerte sie sich an alles, doch in diesem Moment, in dem sie an die holzgetäfelte Decke starrte, empfand sie nicht mehr denselben Schmerz oder auch die heillose Wut wie zuvor. Sie war erschöpft. Ausgebrannt.

Das Türschloss klickte und Kate hob vorsichtig den Kopf. Als sie erkannte, dass es Marie war, die sich soeben ins Zimmer geschlichen hatte, seufzte sie und stemmte sich mit den Armen hoch, so dass sie sich gegen das Rückenteil des Bettes lehnen konnte.

Marie lächelte schüchtern.

"Ich wollte Dich nicht stören!"

"So wie es aussieht, ist es sowieso zu spät." Kate verlieh ihrer rauen Stimme einen amüsierten klang, um die Wirkung ihrer Worte abzuschwächen. Dennoch wurde Marie sichtlich verlegen. Sie setzte sic auf einen Sessel neben dem Bett und schien nicht zu wissen, w sie ihre Hände lassen sollte. "Was ist los, Schurkin?", erkundigte sich Kate und tastet nach den Verbänden an ihren Rippen. Irgendwer hatte ihr ein fremdes Nachthemd angezogen, in dem sie sich fühlt wie eine alte Jungfer. Dennoch, das Gefühl, sicher in der Schule im Bett zu liegen und sich um nichts kümmern zu müssen, war beruhigend. "Zieh nicht so ein Gesicht!"

"Ich hätte Dich gestern nicht einfach so stehen lassen sollen!", platzte Marie heraus. "Es ging Dir nicht gut und ich bin einfach zu Bobby gegangen."

Überrascht winkte Kate ab und verzog das Gesicht in einer Grimasse des Schmerzes.

"Mach Dir keine Gedanken. Mir ging es ganz gut, bis diese Idioten mich zusammengeschlagen haben." Marie verschränkte die behandschuhten Finger und um sie vom Thema abzulenken, erkundigte sich Kate. "Warum trägst Du die Dinger eigentlich?"

Rogue erstarrte für einen Moment und schien mit sich zu ringen, was sie antworten sollte. Dann gab sie sich einen sichtbaren Ruck.

"Wenn ich einen Menschen berühre, absorbiere ich seine Körperkräfte. Wenn es ein Mutant ist, ist das für mich ziemlich vorteilhaft - für den anderen allerdings nicht." Ein dunkler Schatten huschte über Rogues hübsches Gesicht und sie biss sich auf die Unterlippe. "Ich kann es nicht kontrollieren. Das ist -. Es gibt nur wenige Menschen, die es wagen, mich zu berühren."

Für einen Moment vergaß Kate ihre eigenen Probleme, ihre schlecht laufende Bar und die Tatsache, dass ihr Partner mit zwei Mutantenkindern allein in New Orleans festsaß. Vor ihr saß sie selbst, wie sie vor vielen Jahren gewesen war.

Wütend auf die Welt, die sie nicht akzeptieren wollte, gehemmt aufgrund ihrer Mutation, traurig und unentschlossen, obwohl ihr die schule genügend Halt bieten konnte. Bei ihr war damals alles schiefgelaufen. Sie hoffte für Marie, dass es nicht so kommen würde.

"Glaub mir", sagte sie und fragte sich, wann sie das letzte Mal versucht hatte, jemandem mit Rat und nicht mit Geld oder falschen Papieren zu helfen. Sie war nicht gut in diesen Dingen und sie wusste es. "Die Dinge verändern sich mit der Zeit. Wichtig ist nur, dass Du den Glauben nicht verlierst, das alles gut wird. Du darfst nicht zulassen, dass-." Es klopfte. Kate seufzte. Was hatte sie sagen wollen? Dass Rogue nicht dieselben Fehler mache sollte wie sie? Dass es dann kein Zurück mehr gab? "Herein!"

Die Tür schwang auf und Logan erschien, wie immer das ganze Zimmer mit seiner wilden Aura erfüllend. Maries Blick wurde weich, was Kate nun schon zum zweiten Mal registrierte. Die Kleine war offensichtlich in den Wolf verliebt. Aber wenn man alten Volkssagen glaubte, war dies keine gute Kombination. Vor allem, wenn man den väterlichen Ausdruck in Logans Gesicht berücksichtigte, den Marie nicht wahrzunehmen schien.

"Ororo suchte Dich. Wenn Du schon Mathe schwänzt, tu es geschickt!" Marie warf Kate einen entschuldigenden Blick zu und eilte aus dem Raum. Logan verharrte in der Tür und blickte zu Kate. "Wie geht es Dir?"

"Gut", antwortete sie einsilbig, auch wenn ihr ein Dank für seine Hilfe auf der Zunge lag.

"Gut", erwiderte er und ging. Kate ließ sich in die Kissen zurückfallen und widmete sich wieder der Zimmerdecke. Sie fragte sich, warum es ihr derart gut gefallen hatte, in Logans Armen zu liegen. Denn alles in allem war er ein ziemlich unleidlicher Kerl.