Kapitel 8

Aus dem Nest gefallen

Kates Gedanken schlugen Purzelbäume, als sie aus Logans Zimmer rannte und fast in Ororo hineingelaufen wäre. Deren sorgfältig gezupfte Augenbrauen schossen in die Höhe, als sie Kates flammende Gesichtsfarbe erkannte und sich ihre eigenen Gedanken über die mehr als offensichtliche Situation machte. Doch sie ersparte sich einen Kommentar und ging über den Flur weiter, als sei nichts geschehen.

Aufatmend rannte Kate die Treppe hinunter und sah sich dann Bobby gegenüber. Entnervt fragte sie sich, ob sie nach diesem Vorfall mit Logan jedem Bewohner des Hauses begegnen musste. Maries Freund, ein ansehnlicher Jugendlicher mit einem hinreißenden Lächeln, stand etwas verloren vor der Küche.

"Ist Marie hier vorbeigekommen?", erkundigte sich Kate und sah schuldbewusst, wie er zusammenzuckte.

"Sie ist in den Garten und wollte mich nicht dabeihaben", murmelte er. "Vielleicht solltest Du als Frau-."

Mehr hörte Kate nicht mehr, als sie ihm kurz aufmunternd auf die Schulter klopfte und sich in die Richtung aufmachte, in der sie Marie vermutete. Sie eilte durch die Bibliothek und stieß mit Wucht die Gartentüren auf, die klirrend auf der Hauswand auftrafen.

Zum ersten Mal seit Tagen regnete es nicht. In dem riesigen Park zwitscherten Vögel und ein kühler Wind rauschte in den silbernen Blättern der uralten Bäume. Trotz dieser Hintergeräusche konnte Kate ohne Probleme das leise Schluchzen wahrnehmen, das sie schließlich an ihr Ziel führte.

Marie saß auf einer Bank mit Blick auf das Herrenhaus, beschirmt durch starke Äste einiger Eichen. Die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, starrte sie mit tränenüberströmtem Gesicht ins Leere und reagierte erst, als Kate leise herantrat. Ihr nasser Blick hob sich kurz und Kate erwartete eine stumme Anklage, doch nichts dergleichen. Marie sah sie einfach nur an.

Kurzentschlossen setzte sich Kate zu Marie auf die Bank und legte einen Arm um den Teenager, der sich spontan an sie lehnte.

"Tut mir leid, Marie, wirklich", sagt Kate leise. Die Angesprochene schluchzte kurz auf. "Das eben hätte nie passieren dürfen. Was immer Du gesehen ha, es ist kein Grund, so zu weinen. Ich -."

Maries Schultern zuckten, als sie, immer wieder unterbrochen von Gefühlsaufwallungen, hervorstieß:

"Es ist doch nicht schlimm, dass Logan Dich geküsst hat. Irgendwann musste das passieren." Kate wunderte sich und nestelte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, das sie Marie in die Hand drückte. Ein Schnauben erklang. Dann klang Marie wieder etwas besser, wenn nicht sogar trotzig. "Ich fühle mich schlecht, weil mir Logan mehr bedeutet als Bobby - denke ich."

"Oh", war alles, was Kate zunächst einfiel. "Marie, ich weiß nicht, was ich Dir dazu sagen soll."

Schweigend zerrupfte Marie jetzt das Taschentuch mit ihren stoffumspannten Fingern. Sie schien es kaum zu wagen, den Blick zu heben und Kate in die Augen zu sehen.

"Küsst er gut?" Kate fiel bei der Frage fast rückwärts von der Bank. Alles hatte sie erwartet, Selbstvorwürfe, Wut, Zweifel an ihrer Beziehung - doch nicht das. Wie es aussah, war Maries Liebe zu Logan wirklich ernster, als alle Beteiligten annahmen. Und sie schien anscheinend keinen Rat haben zu wollen, denn sonst, darüber war sich Kate im Klaren, hätte Marie sie gefragt.

"Logan?", entfuhr es Kate. Sie zwang ihre Gedanken zu dem Moment zurück, in dem Logan sie an die Wand gedrückt und geküsst hatte. Gegen ihre Willen schoss ihr erneut das Blut in die Wangen. "Es war ganz in Ordnung", log sie. Es war verdammt gut gewesen, wenn auch unwillkommen. "Ich weiß nicht, ob es Dir hilft, aber ich werde heute Abend abreisen, Rogue. Ohne Logan." Nach dem, was geschehen war, konnte sie ihn unmöglich an ihrer Seite dulden. Auch wenn er ihr eine große Unterstützung gewesen wäre. In New Orleans gab es niemanden, an den sie sich noch wenden konnte. Sie würde es eben allein schaffen müssen.

Marie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und sah endlich wieder hoch.

"Es tut mir leid, dass es für Dich so gekommen ist", sagte sie und stand auf. Ihre Trauer schien wie weggewischt und Kate konnte die perfekte Maske erkennen, die Marie sich durch ihren Liebeskummer geschaffen hatte. "Lass uns wieder reingehen. Bobby wird sich schon wundern, was wir hier machen."

Über den feuchten Rasen folgte Kate widerspruchslos und heftete ihren nachdenklichen Blick auf Maries schmalen Rücken. Ihre Zeit in der Schule ging dem Ende zu und sie musste sich sehr beherrschen, um sich nicht zu viele Gedanken zu machen, was mit den Schülern und Lehrern passieren würde. Kates Gesichtszüge verhärteten sich. Am Ende wurde sie noch sentimental und das konnte sie nicht gebrauchen bei dem, was ihr bevorstand.

***

Storms Miene, als sie in Logans Tür erschien, schien deutliche Hinweise auf ihre Mutantenfähigkeit zu geben. Fast erwartete er, sie würde ihn mit ein paar Blitzen beschießen, doch satt dessen lehnte sie ihre schmalen Schultern in den Rahmen und erkundigte sich mit einer honigsüßen Stimme:

"Und, hat sie Dich auch um den Finger gewickelt?" Logan wollte irgendeine intelligente Antwort formulieren, doch im Moment lag sein größtes Bemühen darin, die verschränkten Hände vor seinen Schritt zu halten und nicht unangenehm aufzufallen. "Oder was war das gerade? Marie ist weinend an mir vorbeigelaufen!"

Logan mochte Storm sehr gerne und begann sich zu fragen, was zwischen den beiden Mutantinnen vorgefallen war, dass Storm derart schlecht von Kate dachte. Dann allerdings fühlte er sich versucht, den Gedanken wieder zu verwerfen, da Kate nach ihrem kleinen Zusammenstoß sicher bald nur noch Geschichte war.

"Nicht von Bedeutung!" Seine Blut floss wieder in alle anderen Körperteile zurück und so konnte er eine lockere Haltung annehmen und wie zufällig ein paar schritte vortrat. Das hatte den gewünschten Effekt - Storm löste sich von der Tür und wich in den Korridor zurück. Sie hatte verstanden, dass er nicht mehr zum Thema beitragen würde. Ihm knapp zunickend, ging sie davon.

Logan fuhr sich mit den Händen durch das dichte Haar und stand für einen Moment einfach nur da. Er zitterte immer noch leicht von unterdrückten Emotionen, als er die Tür schloss, um erneut allein zu sein.

Er hatte erwartet, dass Kate zu küssen nur den Drang seines Körpers befriedigen würde. Doch dem war nicht so. Die Erinnerung an Jeans sanfte Lippen, die nicht vor ihm zurückgewichen waren, würde verdrängt von dem, was er bei Kate gefühlt hatte.

Wütend begann er, im Zimmer auf und ab zu gehen. Der bittere Geschmack des Verrats hatte sich in ihm verbreitet, wie ein ätzendes Gift, das ihm durch Mark und Bein zu gehen schien. Anfangs war es nur Lust gewesen, die er empfunden hatte, wenn er mit Kate zusammen war. Er hatte sie schlicht und einfach flachlegen wollen, nichts Edles, nichts Erhabenes. Aber ebenso wie er bislang nur ihren Körper gewollt hatte, gierte er nun nach mehr. Er wollte Kate. Mit Haut und Haar. Zum Teufel, er kannte jeden Zug ihres traurigen Gesichts besser als die Kurve ihrer Brüste.

Vielleicht war es ganz gut, dass sie nun gehen würde, dass er sich ihr aufgedrängt hatte. Sie würden sich nicht wiedersehen.

Sein Atem ging wieder langsamer mit der Zeit und letztendlich beschloss er, sich nicht weiter zu verkriechen. Schuldbewusst dachte er an Marie, die er vollkommen über sein dumpfes Brüten vergessen hatte. Er musste sie suchen und ihr erklären - nun, ihm würde schon einfallen, wie er ihr die Sache begreiflich machen konnte.

In dem Moment, in dem er nach dem Türknauf greifen wollte, rauschte ein schwarzer Schatten an seinem Fenster vorbei, derselbe Schatten, der ihn vor einigen Nächten aus dem Schlaf gerissen hatte. Er rannte zum Fenster, riss er auf und spähte hinaus.

Ein schwarzer Schatten zog elegant über den Himmel, getragen von den schwarzen Flügeln einer Fledermaus, die die Figur auf den Böen des Windes immer weiter forttrug. Logan erstarrte für einen Moment, als er zu begreifen begann, wen er dort sah. Bislang hatte er Kate immer nur am Boden gesehen und das nicht nur im bildlichen Sinne. Während ihres Aufenthaltes hatte sie stets bedrückt gewirkt, das Gewicht ihrer Verantwortung auf den Schultern. Und nun flog sie in den Himmel.

Logan starrte ihr nach, bis die Bäume sie verdeckten. Sie war fort.

***

Kates Reise dauerte mehr als einen Tag und die meiste Zeit ließ sie sich vom Wind treiben, machte sich zum Spielzeug der Natur, die sie bisher immer wohlbehalten an ihr Ziel gebracht hatte. Sie liebte es zu fliegen, auch wenn es nicht mehr dasselbe kraftvolle Dahingleiten ihrer Jugend war. Jede Bewegung ihrer Flügel schmerzte sie ein wenig, so, als wolle ihr Körper sie daran erinnern, dass sie einfach nicht mehr Dieselbe war wie damals.

Wie hatte es das Narbengesicht formuliert? Sie hatten ihr den Teufel ausgetrieben und ihr das genommen, was sie in ihren menschlichen Augen zu einem Monster machte.

Der zweite Abend seit ihrer Abreise dunkelte, als die den Geruch der Sümpfe witterte und es dauerte nicht lang, bis der träge Strom des Mississippi vor ihren Auge erschien.

Sie würde bald wieder zuhause sein. Zwar war es ein lautes, dreckiges Heim, doch viel mehr ein Hort der Zuflucht, als der sich die Schule wieder einmal herausgestellt hatte. Die flirrenden Lichter der Stadt betrachtend, fühlte Kate, wie sich eine Welle von Trauer ihrer bemächtigte. Die Zeit der Ruhe war vorbei. Nun würde sie kämpfen müssen, um das, was sie liebte, zu beschützen.

Das French Quarter zog unter ihr vorbei, jenes geschichtsträchtige Viertel, in dem sich der Jazz, die Vodootradition und zahllose Touristenschwärme zu einem unwiderstehlichen Chaos vermischten. Sie mochte diese Stadt, in der jeder das sein konnte, was er war - außer einem Mutant. Kates Gesicht wurde zu einer grimmigen Maske.

Sie landete in einer Gasse im alten Industrieviertel, das einige mehr oder minder gute Bars und auch den Straßenstrich beherbergte. Die Nacht war lau und erfüllt von vielen fröhlichen Stimmen Betrunkener, die die eine oder andere Dienstleistung in Anspruch zu nehmen gedachten.

Ihre Flügel verwuchsen wieder mit ihrem Rücken, als Kate den Schatten verließ und auf die Straße trat. In ihrer abgerissenen Kleidung nicht weiter auffällig und daher unbehelligt, lief sie einige Meter und ging dann die Stufen zu einer Eisentür hinunter, die den Eingang zu einem alten Backsteingebäude bildete.

Die massive Pforte schwang auf und die Atmosphäre einer Bar wogte auf sie zu wie eine gewaltige Welle des Amüsements.

Der eckige, rauchgeschwängerte Raum mit dem abgedunkelten Licht wurde von einer riesigen Theke dominiert, hinter der ein massiver Mann mit fuchsroten Haaren den Ausschank machte. Die Barhocker waren gut besetzt und auch die in verschwiegenen Nischen untergebrachten Tische waren gefüllt. In einer Ecke wurde Darts gespielt, in einer anderen Tischfußball. Glas splitterte, ein Streit brach los. Die Stone Temple Pilots röhrten aus den versteckt angebrachten Boxen.

Kate drängte sich durch die Menge und erntete den einen oder anderen anzüglichen Blick, den sie geflissen übersah. An der Theke drängte sie sich zwischen zwei grell geschminkte "Damen" und grinste den Barkeeper an, den Ellbogen lässig auf die klebrige Theke gestützt.

"Hallo, Stone. Da bin ich wieder!"