Kapitel 1. Das Findelkind
Es war eine Zeit lange nach dem Ende der Großen Dunkelheit, die Sauron über die freien Völker Mittelerdes gebracht hatte. Eine Zeit, in der sich niemand dessen bewusst war, was noch kommen würde, wenn das Böse im Osten wieder erwachte.
Es traf sich, dass Amrod und Artanis aus dem Waldlandreich einmal mehr auf Wanderschaft waren. Vieles hatten sie schon gesehen. Bei den Pferdeherren und den Menschen Gondors waren sie schon gewesen. Sie hatten die weiße Stadt Minas Tirith gesehen, und waren im Fangorn Wald gewandert.
Diesen Tages hatten sie den Weg nach Bruchtal eingeschlagen. Sie kamen an der Stadt Bree vorbei und folgten den Straßen ostwärts.
Artanis war es schließlich, die im Dickicht abseits ihres Pfades ein Geräusch vernahm, das sie anhalten und lauschen ließ. Nein, sie hatte sich nicht geirrt, es war tatsächlich das Schreien eines kleinen Kindes.
„Amrod, hast du das gehört?" sie wandte sich an ihren Gefährten. Er nickte bestätigend, „Wir sollten nach sehen, ob mit dem Kleinen alles in Ordnung ist, ehe wir unseren Weg fortsetzen."
Und das taten sie. Aber was sie fanden war kein Kind. Zwischen den Büschen lagen die Leichen zweier Hobbits. Ein Mann und eine Frau. Wie es aussah, waren sie von Orks angegriffen und getötet worden. Artanis stieß schließlich auf das Kind, das sich, in eine braune Decke gewickelt, im Schutz einiger Büsche befand. Wahrscheinlich hatten seine Eltern es dort versteckt, um es vor den Orks zu schützen, und bei dem Versuch die Angreifer davon abzulenken, waren sie gestorben.
Das Kind weinte jämmerlich. Ganz klein war es, nur wenige Wochen alt. Und ein Mädchen, um genau zu sein.
Es war spät am Tag geworden und Amrod drängte zum Aufbruch, denn sie hatten noch zwei Wegstunden vor sich, ehe die Nacht herein brach. „Wir können das Kind doch nicht einfach hier in der Wildnis zurück lassen. Das käme einem Todesurteil gleich."
„Nein, Artanis, das werden wir nicht. Wir nehmen es mit nach Imladris. Lord Elrond weiß bestimmt Rat.
Die Elbe nahm das kleine Mädchen auf den Arm. Als es ihre Körperwärme wahr nahm, verstummte es und sein kleiner Mund suchte nach der Milchquelle. Das einzige Problem dabei war, dass es dort keine Milch gab.
Artanis sah besorgt hinüber zu Amrod, „Schau, sie braucht dringend Nahrung."
„Wir haben nur Wasser und Lembas. Sie wird warten müssen bis wir abends in Imladris ankommen."
„Dann sollten wir uns beeilen."
Da sie mit dem Kind langsamer als gewöhnlich voran kamen, dauerte es länger als zwei Stunden bis sie Bruchtal erreichten. Es war bereits ganz dunkel.
Elronds Augenbraue wanderte in die Höhe, als er Amrod erblickte. „Ihr kommt spät."
„Auf unserem Weg geschah etwas Unvorhergesehenes."
Der dunkelhaarige Elb wollte eine Frage dazu an sein Gegenüber richten, doch da erschien Artanis, und als er das Kind in ihrem Arm sah, blickte er verwundert zwischen ihr und Amrod hin und her.
„Mir war nicht bewusst, dass Ihr Nachwuchs habt."
„Das ist auch nicht der Fall", der andere Elb setzte einen leicht amüsierten Gesichtsausdruck auf, „Die Kleine ist ein Findelkind aus dem Volk der Halblinge. Wir fanden sie in der Wildnis. Ihre Eltern wurden von Orks getötet. Sie wäre dort umgekommen, deshalb nahmen wir sie mit."
„Und was gedenkt Ihr nun zu tun?"
„Das wissen wir leider nicht, Lord Elrond. Wir hofften Ihr könntet uns einen Rat geben."
„Am besten wäre es wohl, wenn Ihr sie zu ihrem Volk zurück bringt."
„Sie hat doch dort niemanden, der für sie sorgt", Artanis trat neben Amrod.
Dieser hob beschwichtigend die Hand, „Wir sollten erst einmal darüber schlafen. Morgen werden wir dann weiter sehen."
Damit gab sie sich zufrieden.
Am nächsten Tag hatten Amrod und Artanis tatsächlich eine Entscheidung getroffen.
„Zu welchem Entschluss seid Ihr nun gekommen?", Elrond musterte die beiden, sowie das Kind, das in Artanis' Armen schlief.
Amrod suchte geeignete Worte, „Wir werden sie behalten und an Kindes statt groß ziehen."
Am Gesichtsausdruck des Elbenfürsten war zu erkennen, dass er dies nicht erwartet hatte, „Habt Ihr alles genau bedacht? Dieses Kind ist ein Hobbit, aber Ihr seid Elben."
Jetzt ergriff Artanis das Wort, „Wir haben es uns genau überlegt. Es ist die richtige Entscheidung."
„Das wird sich erst noch zeigen", gab Elrond zur Antwort.
Das Kind kuschelte sich in die Arme seine neuen Mutter und gab ein zufriedenes Seufzen von sich.
Ein sanftes Lächeln fand den Weg in Elronds Gesicht. Nur zu gut erinnerte er sich daran, als der das erste Mal seine Tochter in den Armen gehalten hatte. „Hat sie denn schon einen Namen?"
„Ihre Augen sind klar wie die Sterne, Mirawen soll sie heißen", Artanis sah das schlafende Mädchen liebevoll an.
So kam es, dass an diesem Tag im frühen Herbst Mirawen ein neues Zuhause fand. Noch war sie zu klein um das Glück zu verstehen, dass ihr zuteil geworden war. Aber mit der Zeit würde sie begreifen.
