Kapitel 2. Morgen in Bruchtal
Einmal mehr war es Herbst geworden. Die Blätter begannen sich rotgolden zu färben. An diesem Morgen wurde die Ruhe über Bruchtal jäh von Kinderstimmen unterbrochen. Zwei identisch aussehende Elbenburschen von etwa hundertvierzig Jahren stürmten aus einem der Häuser hinaus und den Weg Richtung Bruinen hinunter. Dicht hinter ihnen lief ein achtjähriges Hobbitmädchen. Die Zwillinge waren jedoch ihrer längeren Beine wegen im Vorteil und ließen ihre Verfolgerin alsbald hinter sich zurück.
„Gebt das sofort wieder her!" schrie Mirawen den Burschen hinterher, bei denen es sich um niemand anderen als Elronds Söhne Elladan und Elrohir handelte.
„Fang uns, wenn du kannst!" rief Elladan und warf das hölzerne Pferdchen, das die beiden aus Mirawens Zimmer entwendet hatten, seinem Bruder zu, der sofort eine andere Richtung einschlug.
Das Mädchen folgte diesem sofort. Elrohir rannte über die Brücke und blieb in deren Mitte stehen. Schnell hatte Mirawen ihn erreicht, doch er hob das Pferd so weit in die Höhe, dass sie es nicht erreichen konnte.
„Gib auf, das erwischst du nie, du halbe Portion!" meinte Elladan aus dem Hintergrund.
Ein hinterhältiges Grinsen stahl sich auf Mirawens Gesicht, „Schau mal, da ist Elrond auf der Veranda. Und er sieht ziemlich böse aus."
„Wo?" Elrohir drehte sich sofort in die entsprechende Richtung, was ihr Gelegenheit gab seinen Arm hinunter zu ziehen und das Pferdchen an sich zu nehmen. Als er bemerkte, dass er herein gelegt worden war, wollte er nach ihr greifen, doch er stolperte über ihr ausgestrecktes Bein und flog geradewegs in den Bruinen.
Fluchend und prustend tauchte er gleich darauf wieder auf. Mirawen und Elladan beobachteten sein unfreiwilliges Bad lachend von der Brücke aus.
„Elladan, Elrohir, wo seid ihr?" Dieses Mal war es wirklich Elrond, der etwas verärgert aus dem Haus trat. Mirawen grinste triumphierend, während Elladan schluckte und in Richtung seines Vaters ging. Ein triefend nasser Elrohir folgte ihm.
Elrond hielt die Scherben einer ehemals schönen Vase in die Höhe. „Was soll das? Habe ich euch nicht untersagt im Haus herum zu tollen?" donnerte er.
Die Brüder setzten einen betont unschuldigen Blick auf, doch Elrond kannte seine Söhne gut genug um genau zu wissen was ein solches Verhalten zu bedeuten hatte.
Mirawen wartete bis die drei im Haus verschwunden waren und lief dann ebenfalls zurück über die Brücke. Ihr Ziel war jedoch der Pferdestall. Wie erwartet, traf sie dort Arwen, Elronds an die zweihundertvierzig jährige Tochter an, die ihre Schimmelstute Nimloth striegelte.
„Guten Morgen", sagte sie.
„Hallo Mirawen. Ich habe Vater rufen gehört. Haben meine werten Herren Brüder wieder etwas angestellt?"
Das Hobbitmädchen berichtete, was eben draußen vorgefallen war. Bei Elrohirs Fall in den Fluss lachte Arwen auf, „Also das hätte ich nur zu gerne gesehen. Geschieht dem nur recht." Dann ließ sie Nimloth aus der Box. „Hast du Lust eine Runde mit zu reiten, Mirawen?"
Und wie sie die hatte. Arwen half ihr auf den Rücken des Pferdes und saß dann selbst vor ihr auf.
Sie ritten ein Stück den Bruinen entlang, bis zu einem kleinen Wasserfall kamen, in dessen Nähe ein Apfelbaum mit weit ausladenden Ästen stand. Dort ließen sie Nimloth ein wenig grasen. Arwen kletterte geschickt den Baum empor, bis sie eine Stelle erreichte, von der aus sie Äpfel pflücken konnte.
Mirawen beobachtete jede ihrer Bewegungen. Gerne würde sie auch so klettern können, aber für ihre Größe lagen die Äste zu weit auseinander.
„Vater würde toben, wenn er mich hier oben entdeckte", meinte Arwen aus dem Geäst, „Er macht sich ständig Sorgen um mich." Sie ließ drei Äpfel hinunter fallen und machte sich dann an den Abstieg.
Dann setzten sie sich unter den Baum ins Gras und begannen ihre Äpfel zu essen. Der dritte war für Nimloth bestimmt. Einige Zeit lang lauschten sie einfach nur dem Plätschern des Wassers und dem Singen der Vögel.
Als sie etwas später zurück nach Hause kamen, trafen sie vor Elronds Haus Artanis und Arwens Mutter Celebrian an, die in ein lebhaftes Gespräch vertieft waren.
Die beiden wollten Nimloth an ihnen vorbei in den Stall führen, doch Artanis winkte Mirawen zu sich.
„Was ist denn, nana*?" fragte diese.
„Die Sache ist die. Amrod und ich wollten nächste Woche ins Waldlandreich aufbrechen. Du wirst so lange bei Elrond und Celebrian wohnen. Keine Sorge, wir werden nicht lange weg sein."
Mirawen musterte ihre Mutter eindringlich, „Ich möchte aber lieber mit euch mitgehen. Bitte, darf ich?"
Artanis schmunzelte, „Tut mir leid, das geht nicht. Wir werden den Weg über den Pass des Caradhras nehmen. Das ist im Moment noch zu schwierig für dich. Aber in ein paar Jahren darfst du mit. Versprochen."
Das leuchtete Mirawen ein und sie nickte, „Aber vergiss nicht, du hast es versprochen."
* nana = Mami (von naneth = Mutter)
