Kapitel 8. Erwachsen werden ist schwer
Auf das vergangene schlimme Jahresende folgte ein umso schönerer Sommer.
Mirawen und Arwen ritten oft zusammen aus, schwammen im Fluss oder saßen einfach nur redend im Gras unter dem Apfelbaum.
Doch die Zeit brachte Veränderungen. Mirawen spürte, dass das Leben wohl nie wieder so sein würde, wie es einmal war. Sie wuchs heran.
Achtzehn, neunzehn, zwanzig. Die Jahre gingen vorbei. Und Mirawen begann zu begreifen, was es bedeutete sterblich zu sein. Sie war jetzt fast einundzwanzig, während Arwen, Elladan und Elrohir kaum älter geworden waren. Was die beiden Jungen aber nicht daran hinderte, das Hobbitmädchen, wenngleich es zu einer jungen Frau heran gewachsen war, weiterhin zu necken. Mirawen ging zwar immer noch auf deren Späße ein, aber so wie früher war es nicht mehr. Die Sommer der Schlammschlachten am Flussufer und Wettrennen über das weiche Gras gehörten der Vergangenheit an.
Mirawen dachte oft darüber nach, was die Zukunft wohl bringen würde. Und wenn sie ganz ehrlich war, fürchtete sie sich ein wenig davor. Denn tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie nicht hierher nach Imladris gehörte. Sie war keine Elbe, nie gewesen, sondern nur ein kleiner Hobbit.
Es traf sich, dass Mirawen eines Abends im Spätsommer am Ufer des Bruinen entlang ging. Über ihr leuchteten die Sterne. Etwas weiter vorne vernahm sie das Rauschen des kleinen Wasserfalls, in dessen Nähe der Apfelbaum stand.
Langsam trat sie auf den Baum zu. In seinem Geäst konnte sie hier und da noch ein verschrumpeltes Äpfelchen erkennen. Vorsichtig begann sie hinauf zu klettern. Die Äste waren für ihre Größe zwar noch immer reichlich weit voneinander entfernt, aber gegenüber früher war sie doch ein beträchtliches Stück gewachsen. Dennoch kam sie nur langsam voran und es dauerte eine Weile bis sie einen halbwegs bequemen Sitzplatz erreicht hatte.
Während sie so dort oben hockte und in den nächtlichen Himmel starrte, schweiften ihre Gedanken wieder zu der brennenden Frage ab, die sie in letzter Zeit nicht mehr losgelassen hatte.
Wie sah ihre Zukunft aus?
Und sie dachte an Artanis und Amrod, die zur Zeit in ihrer Heimat, dem Düsterwald, weilten. Vor dem nächsten Frühjahr würden sie nicht zurück kehren. In der letzten Zeit vor deren Aufbruch hatten sich Mirawen und ihre Adoptiveltern auseinander gelebt. Im vergangenen Winter hatte Artanis einen Sohn geboren, der jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Jedoch hatte sie Mirawen mehrmals versichert, dass sie sich immer an sie wenden konnte, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte.
Mirawen dachte zurück zum Geburtstag des Jungen. Damals hatte sie es kaum erwarten können, ihn endlich zu sehen.
„Komm und begrüße deinen kleinen Bruder Galdor", hatte Artanis zu ihr gesagt, als sie das Zimmer betreten hatte.
Aber er war nicht ihr Bruder. Sie war nicht Artanis' Tochter. Galdor würde ein kleines Kind sein, so lange sie lebte.
„Hallo Mirawen. Was machst du denn dort oben?" drang plötzlich eine vertraute Stimme in ihre Gedanken und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Vor Schreck richtete sich ruckartig auf und verlor dabei den Halt auf dem Ast. Mit einem Schrei fiel sie, hilflos mit den Armen rudernd in den Fluss.
Als die prustend wieder an die Oberfläche kam, erkannte sie, dass es Arwen war, die dort am Ufer stand und ziemlich erschrocken darüber, was sie ausgelöst hatte, schien. Schnell schwamm sie zurück zum Ufer und ließ sich dort ins weiche Gras sinken.
„Du hast mich zu Tode erschreckt, weißt du das?", sie bedachte Arwen mit einem missbilligenden Blick.
„Es tut mir leid, das wollte ich nicht", antwortete das Elbenmädchen sichtlich zerknirscht.
Bei ihrem Gesichtsausdruck konnte sich Mirawen ein Grinsen nicht verkneifen, „Schon gut. Macht ja nichts." Sie konnte ihrer Freundin einfach nicht böse sein, „Aber was wolltest du eigentlich hier?"
„Ich habe gesehen, wie du über die Brücke gegangen bist. Du weißt aber schon, dass mein Vater dir verboten hat, nachts Imladris zu verlassen. Und so lange deine Eltern nicht da sind, hat er schließlich die Verantwortung für dich."
„Und was ist mit dir? Soweit ich weiß, hat er seiner Tochter das genauso verboten", sie grinste verschmitzt.
Arwen setzte eine geschockte Miene auf, „Du verrätst mich doch nicht, oder?"
„Von mir erfährt er kein Wort."
„Danke. Aber jetzt sag mir doch endlich, was du um diese Zeit hier willst?"
Mirawen musterte ihr Gegenüber, „Nun ja, ich wollte ein wenig allein sein."
„Bist du jetzt fertig mit Nachdenken?"
„Ich denke schon, wieso?"
„Dann könnten wir doch eine Partie Schach spielen", sie grinste schelmisch, „Und dieses Mal werde ich dich schlagen."
„Ach ja? Das will ich sehen!"
Wie auf Kommando stürmten die beiden los und lieferten sich ein Wettrennen zurück nach Hause.
