Kapitel 9. Verwirrungen
Ein weiteres Mal war es Sommer geworden. Der vierunddreißigste in Mirawens Leben. Seit etwas über einem Jahr war sie volljährig. Gegenüber früher hatte sie sich sehr verändert. Aus dem aufgeweckten Hobbitmädchen war eine stille und nachdenkliche Frau geworden.
Wie so oft ging sie an diesem Nachmittag am Ufer des Bruinen entlang. Sie mochte es, wie das Gras unter ihren Füßen kitzelte. Und sie mochte es dem Gesang der Vögel, die in den Büschen hockten, zu lauschen.
Schließlich erreichte sie den kleinen Wasserfall. Der Apfelbaum daneben trug auch dieses Jahr herrliche goldgelbe Früchte. Dieses Mal jedoch ging sie noch ein wenig weiter. Der Bruinen ergoss sich hier in ein breiteres Becken. An dieser Stelle schimmerte das klare Wasser türkis.
Sie krempelte ihre Hose hoch bis über die Knie und watete langsam in den Fluss. Aber sie hütete sich davor zu weit hinein zu gehen, denn in der Mitte war das Becken so tief, dass es ihr bis zur Brust reichte. Und momentan verspürte sie keinerlei Lust ein Vollbad zu nehmen.
Das Wasser war kühl, aber nicht zu kalt. Es fühlte sich so gut an, wie es um ihre Beine floss.
Schließlich kehrte sie zum Ufer zurück und legte sich ins Gras, um ein wenig die warme Sonne zu genießen. Sie schloss die Augen und ließ ihre Gedanken treiben.
Wie lange sie so da lag, wusste sie nicht. Irgendwann wurde sie sich plötzlich einer Präsenz bewusst. Es befand sich noch jemand hier. Als sie die Augen aufschlug, blickte sie in Elronds Gesicht.
Der Elb musste lächeln, als er ihre etwas desorientierte Miene bemerkte. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken", sagte er.
„Nicht deine Schuld. Ich muss wohl eingenickt sein", sie musterte Elrond, „Gehst du denn oft hier spazieren?"
Für einen Moment schien er unendlich weit weg zu sein, bevor er zu einer Antwort ansetzte, „Früher mal. Das war Celebrians Lieblingsplatz, musst du wissen. Aber seit sie tot ist, bin ich diesen Weg kaum mehr gegangen. Die Erinnerung tat zu weh."
Mirawen nickte langsam, „Verzeih mir bitte, ich wollte nicht zu neugierig sein."
Er lächelte, „Ist schon gut. Es ist zwanzig Jahre her und das Leben geht weiter. Bis ich Celebrian wieder in die Arme schließen kann, wird es noch eine lange Zeit dauern. Und Arwen hat recht, ich kann nicht ewig Trübsal blasen."
„Das hat sie in der Tat", stellte Mirawen fest, „Als Tuor vor jetzt fast zehn Jahren gestorben ist, sagte mir Artanis, dass es keinen Sinn macht Verlorenem hinterher zu trauern. Mal sollte sich eher auf das konzentrieren, was man noch hat."
Der Elb nickte nachdenklich, erwiderte aber nichts.
Eine Weile saßen die beiden stumm nebeneinander im Gras. Jeder ging seinen eigenen Gedanken nach.
Elrond war es, der schließlich das Wort ergriff. „Zum wiederholten Mal habe ich mich gefragt, ob ich mich je wieder verlieben könnte, wenn ich es wollte", überlegte er laut.
„Du wirst es wissen, wenn du die Richtige triffst", Mirawen grinste in sich hinein. Was redete sie da eigentlich? Sie, die noch nie richtig verliebt gewesen war. Na gut, das war vielleicht ein wenig untertrieben. Es gab da einen jungen Mann, der verdammt gut aussah. Aber der hatte natürlich nur Augen für die Frauen seines eigenen Volkes. Kein Wunder, welcher Elbenmann interessierte sich schon für eine Hobbitfrau?
„Liebe ist unlogisch", murmelte Elrond gedankenverloren, „Man kann sich auch in den Falschen verlieben. Und meistens merkt man es erst, wenn es zu spät ist."
Mirawen lächelte wissend, „Es gibt da jemanden, habe ich recht?"
Er seufzte hörbar, „Vielleicht."
Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und sah ihn an, „Ist was?"
„Hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, wie hübsch du bist?"
„Du findest mich hübsch?" Mirawen spürte, dass sie rot wurde.
Er wurde wieder nachdenklich, „Hübsch ist nicht ganz das richtige Wort... entzückend, ja das ist es."
Da sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte, schwieg sie.
Einige Zeit sagte keiner etwas. Elrond starrte ins Wasser und Mirawen zeigte großes Interesse an ihren Zehen.
Schließlich ergriff er sanft mit einer Hand ihr Gesicht und drehte sie zu sich. Sie sah stumm zu ihm auf. Langsam näherten sie sich einander, bis er sie vorsichtig küsste, abwartend was sie tun würde. Doch sie stieß ihn nicht weg, sondern begann den Kuss zaghaft zu erwidern.
„ada!"
Die beiden wurden abrupt durch eine laute Stimme unterbrochen und wandten sich zugleich um. Hinter ihnen stand Arwen. Das Elbenmädchen blickte verständnislos zwischen ihrem Vater und ihrer besten Freundin hin und her.
Mirawen wollte etwas sagen, doch sie wollte überhaupt nicht zuhören. Arwen drehte sich um, schwang sich auf den Rücken ihrer Stute Nimloth, die neben ihr stand, und preschte im vollen Galopp davon.
„Warte...", rief sie ihr hinterher.
Elrond hob die Hand, „Lass sie. Die beruhigt sich schon wieder."
„Was hat sie bloß?", Mirawen schüttelte verwundert den Kopf.
„Für sie bist du immer noch das kleine Hobbitmädchen, das für jeden Spaß zu haben war. Sie wollte ganz einfach nicht bemerken, dass du inzwischen erwachsen geworden bist", er hielt inne, „Uns jetzt so zu sehen, hat ihr ziemlich unsanft die Realität vor Augen geführt."
„Wenn das so ist, werde ich ein Wörtchen mit ihr reden. Und zwar jetzt gleich." Sie erhob sich und trat den Rückweg nach Imladris an.
„Ich komme mit", Elrond folgte ihr.
Wie erwartet traf sie Arwen im Pferdestall an. Sie striegelte ihre weiße Stute.
„Hallo", begann Mirawen.
„Was willst du?"
„Ich denke wir haben da einiges zu besprechen."
„Hat ada das gesagt?" Sie unterbrach ihre Tätigkeit nicht einen Moment.
„Nein hat er nicht", Mirawen überlegte kurz, suchte nach den richtigen Worten.
Arwen unterbrach sie, „Wie lange geht das schon mit euch?"
„Uns? Es gibt kein uns!"
„Was war das dann?"
„Wir sind uns dort draußen zufällig über den Weg gelaufen und haben begonnen uns zu unterhalten..."
„Das sah aber nicht nach einer Unterhaltung aus!"
„Er sagte mir, dass er mich hübsch findet. Weißt du, das hat mir vorher noch nie ein Mann gesagt. Irgendwie führte dann eines zum anderen. Ich weiß selbst nicht, was da über mich gekommen ist. Und er genauso wenig, nehme ich an."
Arwen musterte ihre Freundin, schien nicht so recht zu wissen, was sie darauf erwidern sollte.
„Und Arwen. Ich bin nicht mehr das kleine Hobbitmädchen, das ich einmal war. Seit einem Jahr bin ich volljährig."
Das Elbenmädchen umarmte die Hobbitfrau aus einer plötzlichen Eingebung heraus, „Jetzt rede doch keinen Unsinn. Für mich wirst du immer die kleine Mirawen bleiben. Auch wenn du eine Frau geworden bist."
Diese lächelte, „Du bist also nicht mehr böse?"
„Ich und dir böse sein. Wie könnte ich?" Arwen lächelte, „Es war nur so ungewöhnlich, so seltsam. ada und du. Ich war total überrascht, und wusste echt nicht, was ich davon halten, oder wie ich reagieren sollte."
„Nun ja, das ist verständlich. Draußen wartet übrigens dein Vater. Ich denke er möchte auch noch ein paar Dinge mit dir besprechen." Damit entfernte sie sich aus dem Stall. Bei der Tür traf sie auf Elrond, der dort gewartet hatte bis die beiden ihr Gespräch beendet hatten.
In dieser Nacht lag Mirawen lange wach und dachte nach. Über Elronds Worte, den Kuss und ihre Unterhaltung mit Arwen. Unbewusst griff sie nach dem silbernen Anhänger, den sie um den Hals trug und drehte ihn zwischen den Fingern. Die Form eines Vogels mit ausgebreiteten Schwingen war nicht zu verkennen.
Da wusste sie was sie zu tun hatte.
