Kapitel 10. Die Suche beginnt
Nur ein paar Tage später war Mirawen reisefertig. Sie hatte alle passenden Landkarten, die sie gefunden hatte, studiert, und sich schließlich für eine davon entschieden. Diese hatte sie gemeinsam mit Proviant, Kleidung, und was man noch so für eine Reise benötigte, in ihrem Rucksack verstaut.
Arwen hatte mehrere Male erfolglos versucht ihre Freundin zum Bleiben zu überreden, da sie der Meinung war, dass es ohne sie arg langweilig sein würde.
Es war noch früh am Morgen, als Mirawen ihre Sachen zusammen packte um auf zu brechen. Draußen vor dem Haus traf sie auf Arwen.
„Und du willst wirklich weggehen?" fragte diese.
Die Hobbitfrau lächelte, „Gib es auf. Für mich ist es jetzt an der Zeit einmal mein eigenes Volk kennen zu lernen. Außerdem komme ich ja wieder."
„Und was mache ich so lange ohne dich?"
„Dir wird schon etwas einfallen, da bin ich sicher."
„Schöne Freundin bist du", erwiderte sie grinsend, „Wenn du weg bist, bin ich das einzige Ziel für die Streiche meiner werten Herren Brüder."
„Mit den beiden Stinkern, wie du immer sagst, wirst du doch wohl alleine fertig", konterte Mirawen ebenfalls lachend.
Arwen nickte bestätigend und umarmte ihre Freundin zum Abschied.
Die Reise ins Auenland dauerte gut drei Wochen. Mirawen hielt sich stets auf den Straßen und vermied es in der Dämmerung zu gehen. Nachts durchstreiften Orks die Wälder.
Inzwischen war sie mehr als zwanzig Tage unterwegs gewesen, und hatte längst die Grenzen des Auenlandes überquert. Doch dieses Mal hatte sie sich verschätzt. Es begann bereits dunkel zu werden und es war weit und breit kein geeignetes Nachtlager in Sicht. Also musste sie die Nacht wohl oder übel wieder einmal auf einem Baum verbringen. Aber es blieb kaum Zeit um einen zu finden, der sich für ihre Zwecke eignete. Denn sie war nicht allein.
In der Dunkelheit wurden Schritte hörbar. Zweige knackten und leise Stimmen erklangen.
Yrch! Und sie waren nahe.
Mirawen rannte blitzschnell los. Hinter ihr brachen einige Orks aus dem Gestrüpp, setzen ihr nach. Anscheinend hatten sie noch nicht zu Abend gegessen.
Plötzlich ertönte irgendwo in den Büschen ein Geräusch. Aber auch die Orks hatten es gehört und sahen sich gehetzt um. Dann stürzten sie auf den Verursacher zu.
Jemand griff nach Mirawens Arm. Sie wirbelte herum, in Erwartung sich einem Ork gegenüber zu sehen. Doch vor ihr stand ein Hobbit.
Er bedeutete ihr still zu sein und ihm zu folgen. Erleichtert tat sie wie geheißen. Der Fremde kannte sich hier offenbar aus. Sie verließen die Straße, schlugen sich durch die Wildnis.
Bald ereichten sie die Ufer eines Flusses. Das musste der Baranduin sein, dachte Mirawen verwundert. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass sie sich überhaupt in dessen Nähe befand.
Das Ufer war hier recht steil und sehr felsig. Ihr Retter begann an einer bestimmten Stelle nach unten zu klettern. Zunächst zögerte Mirawen. Es ging ziemlich tief hinunter.
Als der Hobbit das bemerkte, grinste er aufmunternd und hielt ihr seine Hand hin. „Vertrau mir. Ich kenne mich hier gut aus." Er blickte zurück in die Richtung aus der sie gekommen waren. „Die Orks. Sie kommen!"
In Anbetracht dessen überwand sich Mirawen sehr schnell. Die beiden liefen ein kleines Stück im Wasser, bis sie eine Art Durchschlupf in den Felsen erreichten. Von oben war er kaum zu sehen.
„Pass auf deinen Kopf auf", meinte der Hobbit, während er damit begann durch die Öffnung hindurch zu kriechen. Mirawen folgte ihm.
Die Höhle dahinter war größer, als es von draußen den Anschein hatte. Es war genug Platz um aufrecht sitzen zu können.
„Hier finden uns die Orks nie. Und selbst wenn, der Eingang ist viel zu klein für sie."
Erst jetzt hatte Mirawen Gelegenheit ihren Retter genauer zu betrachten. Er hatte hellbraunes, und wie es für einen Hobbit üblich war, sehr lockiges Haar, und musste ungefähr im gleichen Alter wie sie selbst sein.
„Hallo übrigens", sagte er, „Ich bin Milo."
„Mein Name ist Mirawen."
„Das ist aber ein recht ungewöhnlicher Name. Klingt elbisch", stellte er fest.
Sie nickte, „Klingt nicht nur so. Es ist ein elbischer Name."
„Und wie kommst du dazu?"
„Ich bin in Bruchtal aufgewachsen. Bei den Elben."
Sein Gesicht hellte sich auf, „Au toll. Ich hatte leider noch nie Gelegenheit Elben zu sehen. Und was führt dich in diese Gegend? Bruchtal ist weit weg."
„Nun. Ich schätze es war an der Zeit, dass ich mein eigenes Volk kennen lerne."
„Verstehe. Aber sag mal, hat dich niemand davor gewarnt nachts durch die Wälder zu gehen?"
„Doch. Ich... hatte mich wohl verlaufen", sie hielt einen Moment inne, „Wenn du nicht gewesen wärst, hätten mich diese Orks glatt zum Abendessen verspeist. Danke, dass du mich gerettet hast."
„Ich bin nur froh, dass die so strohdumm sind und sich von einem Stein in die Irre führen lassen."
„Eins verstehe ich nicht", Mirawen grinste schelmisch.
„Was denn?"
„Wenn der Wald nachts so gefährlich ist, was wolltest du dann hier?"
„Na ja", er öffnete die lederne Tasche, die er immer noch um die Schulter gehängt hatte. Sie war gefüllt mit kleinen gelblichen Pilzen, die Mirawen noch nie gesehen hatte. „Eine Freundin meiner Schwester hat morgen Geburtstag. Und sie bat mich Eierschwammerl für das Essen zu sammeln. Nur leider hatte ich darauf vergessen." Milo fuhr sich etwas verlegen durchs Haar und grinste, „Wenn ich ohne die Pilze aufgekreuzt wäre, hätte sie mich glatt erwürgt."
„So streng ist sie?"
„Wie Geschwister so sind. Hast du denn keine?"
„Doch. Ich meine, meine Zieheltern haben einen Sohn. Aber er ist noch ganz klein."
Milo unterbrach die Unterhaltung, indem er den Kopf aus dem Höhleneingang streckte, um nach dem Rechten zu sehen. „So, ich denke die wären wir los. Komm mit. Wir müssen schnell und leise sein. Vielleicht sind sie noch in der Nähe."
Die beiden verließen ihr Versteck. Ein Stück folgten sie noch dem Fluss, bis sie eine Stelle erreichten, an der sie aus dem Flussbett heraus klettern konnten.
Inzwischen war es ganz dunkel. Bald ließen sie den Wald hinter sich. Vor ihnen lagen Wiesen, Felder und eine große Anzahl an Hügeln. Das sind also die Hobbithöhlen, dachte Mirawen interessiert.
„Willkommen in Bockland" meine Milo.
Nach ein paar Minuten standen sie vor seiner Höhle. „Also da wohnen meine Schwester und ich." Er drehte sich um und deutete auf eine andere Behausung, „Und das ist die Höhle unserer Eltern."
„Milo. Gibt es hier in der Nähe einen Gasthof, wo ich übernachten könnte?"
Dieser schüttelte heftig den Kopf, „So ein Unsinn. Du bleibst bei Ruby und mir. Wir haben mehr als genug Platz, seit unser großer Bruder Hamson nach Hobbingen gezogen ist."
Die Höhle war urgemütlich, fand Mirawen. Und vor allem hatte alles ihre Größe. Der Duft von Milos Pilzen begann die Luft zu erfüllen.
„Milo, bist du das?" ertönte eine Frauenstimme.
„Hallo Ruby", antwortete er.
Einige Augenblicke später kam seine Schwester aus dem Nebenzimmer. „Sag mal, wo warst du?"
Er drückte ihr die Tasche mit den Eierschwammerln in die Hand, und wies dann auf seine Begleiterin. „Das ist Mirawen. Ich habe sie davor bewahrt in den Bäuchen einiger Orks zu enden. Sie kommt aus Bruchtal und kennt sich in dieser Gegend nicht aus. Da dachte ich sie könnte erst einmal hier bleiben."
Ruby nickte. „Na dann willkommen bei uns."
Nachdem Mirawen ihre Sachen in dem Zimmer, in dem sie schlafen durfte abgeliefert, und sich in ein wenig frisch gemacht hatte, holte sie Milo zum Nachtmahl. Er war über alle Maßen erstaunt, dass die Elben normalerweise nur zwei oder drei Mahlzeiten am Tag zu sich nahmen. Und Mirawen fragte sich, wie Hobbits nur so viel essen konnten. Man sah Milo und Ruby die sechs täglichen Mahlzeiten an, dachte sie schmunzelnd bei sich. Die beiden waren nicht dick, keine Spur, aber sie besaßen einen recht kräftigen Körperbau. Wahrscheinlich fiel es ihr nur auf, weil sie selbst ziemlich schlank war. Kein Wunder, wenn man die Essgewohnheiten von Elben und Hobbits verglich.
Im Gespräch mit den zweien gestaltete es sich als kleines Hindernis, dass hier viele Dinge andere Bezeichnungen hatten, als die im Westron gebräuchlichen. Als erstes lernte sie, dass der Fluss Baranduin, der Milo und ihr wohl das Leben gerettet hatte, im hiesigen Sprachgebrauch Brandywein genannt wurde. Eine Tatsache, die sie recht amüsant fand.
Nachdem sie einiges über das Auenland und seine Bewohner erfahren hatte, begann Milo damit, sie über die Elben und das Leben in Bruchtal auszufragen.
Yrch = Orks
