"Haaach..." Entspannt ausatmend schloss Akane ihre Augen und rutschte genüsslich etwas tiefer in das heiße Badewasser. "Das tut gut nach einem solch anstrengenden Tag."

Die Zugfahrt war ihr besonders auf den Magen geschlagen. Selten zuvor hatte sie sich so einsam gefühlt. Weit und breit war absolut niemand da, dem sie sich anvertrauen konnte. Zu allem Überfluss fühlte sie sich gefangen in dem engen Abteil. So vergingen die Sekunden als wären sie Stunden, die Stunden als wären sie Tage. Nachdem Akane endlich angekommen war, fand sie dank der Karte recht einfach zu der kleinen Hütte, wenn es auch ein stundenlanger Fußmarsch über schwer durchquerbare Bergpfade und Waldstücke war. Umso schöner und befreiender war jedoch das Gefühl, als sie ihr Ziel endlich erreichte. Mit einem aufgeregten Japsen warf sie ihre schwere Tasche zu Boden und rannte begeistert um die kleine dunkle Holzhütte herum, um sie von allen Seiten zu betrachten. Vor Freude hopsend bemerkte sie zunächst gar nicht den älteren Mann zu sich näher treten. Er hatte einen langen weißen Bart und sah aus wie eine dieser weisen Gestalten, die man aus alten Märchen kennt.

"Ich heiße Sen", stellte er sich freundlich vor und reichte ihr die Hand.

Etwas schüchtern nahm Akane sie und nannte ihm ebenfalls ihren Namen. Sen war ein warmherziger und sehr zuvorkommender Mensch. Schnell verstand er, dass das junge fremde Mädchen eine schwere Last auf ihrem Herzen trug und nun an diesem abgelegenen Ort hoffte, zumindest für eine Weile Ruhe und Entspannung zu finden.

"Also ich..." Akane räusperte sich nervös. "Ich bin froh, Sie hier gleich aufgefunden zu haben. Es ist nämlich so... Ich bin eine Freundin von Ryoga Hibiki und er sagte mir, ich könnte so lange in der Hütte bleiben, wie ich möchte. Nur fehlt mir der Schlüssel."

Bei dem Namen Ryoga leuchteten Sens Augen auf. "Ryoga Hibiki", wiederholte er langsam mit glänzenden Augen.

Ehe sich Akane versah, hatte der alte Fremde ihre schwere Tasche mit einer Hand hochgestemmt und forderte sie auf ihm zu folgen. Mit schnellen, großen Schritten bahnte er sich geschickt seinen Weg durch den verwachsenen Wald. Überall ragten Äste und Zweige in den Weg, während der Boden übersät mit dicken, kräftigen Wurzeln war. Akane schaute ihm mit Bewunderung nach, als sie versuchte mit ihm Schritt zu halten. "Aller Achtung, ich hätte ihn nicht für so flink und kräftig gehalten", flüsterte sie überrascht vor sich hin.

Im Dorf wurde sie sehr warm empfangen. So wohl hatte sich Akane schon lange nicht mehr gefühlt. Die Menschen dort waren so unglaublich nett zu ihr, dass sie für einige Momente den Gedanken in ihren Sinn gleiten ließ, für immer zu bleiben.

"Wenn Ryoga nicht wäre, dann würde unser Dorf und all seine Jahrhunderte alten Traditionen nicht mehr existieren!" rief ihr eine etwas pummelige Frau entgegen und legte der verwirrten Akane plötzlich einen riesigen Korb in die Arme.

"Wa-was ist denn das?" stotterte sie.

Die Frau lächelte sanft und beugte sie zu Akane vor, um ihr leise mit einem Grinsen zuzuflüstern: "Hier, schöne neue Kleider, etwas Nachtwäsche und ein paar Handtücher. Die wirst du brauchen, mein Kind. Als Freundin von Ryoga Hibiki hast du nur die beste Behandlung verdient." Sie wühlte aufgeregt im Korb herum, den Akane nun trug und zog plötzlich einen purpur-roten Kimono aus reiner Seide heraus. Bewundernd hielt sie ihn hoch und betrachtete ihn für einen Moment mit einem stolzen Lächeln, dann peilte sie ihn vor Akane und nickte zufrieden. "Perfekt!"

"Ich... weiß nicht, ob ich wirklich..." Verlegen lief Akane rot an. Da war sie nun. Feige und ängstlich lief sie davon, nachdem sie den Wunsch ihrer verstorbenen Mutter nicht vollkommen erfüllen konnte und nachts schmutzige Fantasien hegte. Hatte sie eine solch gute Behandlung tatsächlich verdient?

"Papperlapapp, mein Fräulein! Du willst doch hübsch aussehen, wenn dein Herzallerliebster auftaucht, oder nicht?" Frech zwinkerte sie Akane zu.

Dieser färbten sich die Wangen noch dunkler, als sie fast schrie: "A-aber Ryoga ist nicht mein 'Herzallerliebster'. Wir sind nur sehr gute Freunde!" Verzweifelt gestikulierte sie herum, als ihr die Worte ausgingen.

Die ältere Dame seufzte und rollte spielerisch genervt mit den Augen. "Kind, Kind, ich mag vielleicht alt sein, aber blöd bin ich noch lange nicht. Natürlich ist dein Angebeteter ein ganz anderer. Mach dir keine Sorgen um ihn."

"Mein Angebeteter?" wiederholte Akane fassungslos über den forschen Wortlaut der Fremden, als sich plötzlich ein großes Fragezeichen auf ihrem Gesicht bildete. "Moment mal, warum sollte ich mir Sorgen machen?"

Die Dorfbewohnerin legte das Kleid zurück in den Korb ehe sie ihr lachend den Rücken kehrte und sich einige Schritte von Akane entfernte. Dann drehte sie sich noch einmal kurz mit einem weiten Lächeln um und sagte: "Du bist heute zum Abendessen herzlich eingeladen. Wir werden mit dem ganzen Dorf deine Ankunft feiern. Mein Name ist übrigens Matsuko!"

"Sehr erfreut." Akane verbeugte sich vor ihr. "Mein Name ist..."

"Hey!" sagte sie in einem gespielt strengen Ton. "Was habe ich eben gesagt? Ich bin nicht so blöd, Fräulein Akane Tendo." Sie lachte erneut und ging weiter. Ohne sich umzudrehen rief sie Akane hinterher: "Es wäre nett, wenn du dein neues Kleid anziehen würdest. Das seidene Purpur-Rote lässt sich besonders gut zwischen all den dichten Baumstämmen erkennen." Und wieder lachte sie.

Akane blieb verwirrt zurück. Einen Augenblick überlegte sie, ob die arme ältere Dame vielleicht verrückt war. Dann schüttelte sie ihren Kopf. Dafür schien sie irgendwie zu... weise. Etwas umgab diese Frau. Sie wirkte durchaus nicht dumm. Im Gegenteil. Schulterzuckend machte sich Akane auf den Weg zurück zu ihrer Hütte, um sich für die nächste Zeit etwas einzurichten und sich für das Abendmahl vorzubereiten.

***

Der Abend mit den Dorfbewohnern war wunderschön. Obwohl Akane keinen von ihnen je zuvor gesehen hatte, wurde sie sehr herzlich empfangen und königlich bewirtet. Sie fühlte sich unwahrscheinlich geborgen zwischen all diesen lieben Menschen, verabschiedete sich jedoch früh, noch ehe die Nacht anbrach, da sie sich vor Erschöpfung kaum noch halten konnte.

Nun gab es nichts Entspannenderes als das heiße, dampfende Wasser, das geschmeidig ihren Körper umgab. "Wirklich ein ereignisreicher Tag" flüsterte sie zu sich selbst, als ihre Glieder schwerer und schwerer wurden und sie sodann in einen tiefen Schlaf fiel.

~*~*~* "Ranma bedeutet unzähmbares Pferd", flüsterte ihr jemand aus der Dunkelheit zu.

"Wer ist da?" rief Akane scharf und drehte sich in alle Richtungen um.

Es ertönte ein erheitertes Lachen. "Ich bin's", flötete Matsuko, als sich die Silhouetten ihres rundlichen Körpers schärften, während sie mit einem hellen, weißen Lichtstrahl beleuchtet wurde. "Kind, Kind." Die Dorfbewohnerin schüttelte tadelnd ihren Kopf, was Akane zum Stutzen brachte. "Du hast eine Stunden lange Zugfahrt hinter dir, bist danach weitere Stunden allein durch Täler und Wälder getrimmt, nur um diesem ungebändigten, jungen Hengst zu entkommen." Ihre tiefe Stimme erbebte in einem schallenden Gelächter.

"Was ist so komisch?" forderte Akane eine Antwort, als sie ihre Sprache wieder gefunden hatte.

"Nun ja...", fuhr Matsuko fort. "Ich frage mich nur, warum dieser ganze Stress, wenn du dir ohnehin wünschst, dass er dir folgt. Mach es doch nicht so kompliziert."

Sie warf Akane einen weisen Blick zu. Diese spürte die Röte in sich aufsteigen und murmelte verlegen: "Wer hat denn das behauptet?"

"Och bitte", winkte die ältere Dame ab. "Du wünschst dir doch nichts sehnlicher, als von ihm geküsst zu werden, von ihm zärtlich in den Arm genommen und gestreichelt zu werden, ihn dazu zu bringen, seine Schüchternheit dir gegenüber zumindest für einen Augenblick zu überwinden und dir süße Worte liebevoll ins Ohr zu flüstern." Akanes Augen weiteten sich. Ihre Wangen wurden ganz heiß.

"Aber, meine liebe Akane-chan", Matsuko sprach nun in einem etwas ernsteren Ton und lehnte sich ein Stück nach vorne. "dass du gleich mit ihm splitternackt in die Wanne steigen möchtest, hätte ich von einem so wohlerzogenen Mädchen wie dir ja gar nicht erwartet." Ihre dicken Backen bebten als sie in ein weiteres Gelächter ausbrach.

Akane vergrub vor Scham ihr Gesicht hinter ihren Händen und schüttelte den Kopf. "So... so ist es nicht. Das war nur ein Traum!"

"Ein Wunschtraum, ganz sicher." Die Dorfbewohnerin zwinkerte. "Aber Mädchen, ich kann dich ja verstehen. Er ist schon ein unglaublich hübscher Bursche, gut gebaut und knackig gebräunt." Sehnsüchtig schnurrend verdrehte sie die Augen. Sie tänzelte ein paar Schritte hin und her. Der Lichtstrahl, der in der Dunkelheit auf sie fiel, folgte ihr. "A-ber" singsangte sie spielerisch. "Ich kann dir für ein gemeinsames Bad mit deinem Zukünftigen die Onsen empfehlen."

"Eine heiße Quelle?" fragte Akane erstaunt.

"Genau. Es befindet sich eine sehr Besondere ganz in der Nähe deiner Hütte. Da schau doch!" Sie machte eine winkende Geste, als der Bewegung ihres Armes plötzlich warmes Licht in der Dunkelheit folgte und bunte Bilder entstanden. Ungläubig trat Akane auf das aus dem Nichts entstandene Bild zu, das ein paar Bäume, Felsen, einen Wasserfall und jede Menge dampfendes Wasser zeigte. Fragend wandte sie sich um, doch Matsuko war nicht mehr da. Auf einmal fand sich Akane mitten in dieser verrückten Szenerie im Wald, direkt vor jener mysteriösen heißen Quelle wieder. Etwas verloren fühlte sie sich und rieb sich unsicher ihre Arme, als sie dem ruhigen Rauschen des Wasserfalls folgte. Plötzlich blieb sie stehen und blinzelte. Da war jemand. Blass und verschwommen nahm sie zunächst die Umrisse eines Jungen wahr. Dann erkannte sie den dunklen Pferdeschwanz, der aus dem Wasser ragte.

"Ranma! Was machst DU hier?"

Erfreut sie zu sehen, drehte er sich zu ihr um sagte mit sehnsüchtiger Stimme: "Du fehlst mir so."

Akane schluckte. "Und wenn ich mich... jetzt einfach fallen lasse? Nur dieses eine Mal?"

Sie zögerte nicht lange und glitt mitsamt ihres gelben Nachthemds in das heiße, sprudelnde Wasser ein, um in einen tiefen, innigen Kuss mit ihrem Verlobten zu fallen. Nicht länger wollte sie ihre verstauten Gefühlte ignorieren, sie wollte endlich leben. Sie wollte ihre Gefühle hinausschreien. Eng schloss er sie in seine kräftigen Arme und drückte sie sanft, aber bestimmt an sich, als sie bei seinen Bewegungen leicht stöhnte und sich noch fester an ihn presste. Langsam öffnete sie ihren Mund und ließ seine Zunge zärtlich hineingleiten, während seine weichen Lippen ihre sanft massierten. Ein Zucken durchfuhr ihren Körper. Was für ein Geschmack. Welch unglaubliche neue Sensationen sie empfand. Zitternd spürte sie ein Feuerwerk in ihrem Bauch hochgehen. Jede einzelne Berührung seiner Zunge, welche die ihre vorsichtig umkreiste, schenkte ihr neue unglaubliche Gefühle. In dem Strom ihr bisher unbekannter, wunderbarer Emotionen, befürchtete sie ihren Verstand zu verlieren. Sie vergaß alles um sich herum. Bloß die Zärtlichkeit des Mannes, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte, erfüllte ihren Geist. Ihm entfuhr ein Leidenschaftliches Raunen, als er sie langsam und etwas unsicher ein kleines Stück von sich wegdrückte, um ihr mit schüchternem, aber doch erwartungsvollem Blick den obersten Knopf ihres Nachthemdes zu öffnen.

Moment... Ihres Nachthemdes?*~*~*~

Mit einem tiefen Luftzug richtete sich Akane abrupt in ihrer Wanne in einen Sitz auf. Verwundert hob sie eine Augenbraue an. "Was bitte schön war das?"

Unbewusst strich sie sich plötzlich mit ihren Fingerspitzen über die Lippen. Wenn sie nicht noch so mitgenommen von dem überwältigenden Traum gewesen wäre, hätte sie gelächelt. Doch ihr Gesicht war wie versteinert, als sie sich an jene leidenschaftlichen Liebkosungen erinnerte.

***

"Ein junges Mädchen wohnt da ganz alleine in der Hütte?" Ranma schaute überrascht zu dem Fremden auf.

Er nickte. "Sie ist heute Nachmittag angekommen. Ein wirklich außergewöhnlich schönes Fräulein."

Ranma legte seine Stirn nachdenklich in Falten, als er den achtsamen Schritten seines Vordermanns folgte. "Ich habe sie vorhin gesehen."

Schnippisch lachte der Fremde kurz auf. "Klingt ja so, als hätten Sie ernsthaftes Interesse an der jungen Dame. Wirklich kein schlechter Geschmack, das muss ich Ihnen lassen."

"He?" Ranma blickte etwas gedankenverloren zu ihm auf. Allmählich floss der Sinn seiner Worte in seine Wahrnehmung und er errötete. "Bitte, ich bin nicht hier, um irgendwelchen Mädchen nachzujagen. Im Gegenteil, ich möchte so schnell es geht von hier weg."

"Verstehe", antwortete der Fremde ruhig und blieb stehen. "Weil es da schon ein anderes Mädchen gibt, hm?"

Ranma schaute verlegen zu Boden und dachte einen Moment nach. Er lächelte.

"Aach", der Dorfbewohner streckte sich. "Das bedarf keiner Worte mehr." Angestrengt machte er sich weiter auf den Weg, Wurzel über Wurzel überquerend, Ast um Ast ausweichend. Nach wenigen Minuten fügte er leise hinzu: "Dabei ist es wirklich schade. Sie ist so unglaublich hübsch und liebenswert."

Ranma betrachtete kopfschüttelnd den Rücken des alten Mannes. "Übrigens", sagte dieser plötzlich und Ranma erschrak sich leicht. "Mein Name ist Sen."

"Ra-ranma", lautete die knappe Antwort. Die Stimme des Mannes schien plötzlich von Traurigkeit verzerrt. Hatte er denn so ein Mitleid mit diesem armen Mädchen? Es war sicher nicht schön, so allein zu sein und hübsch mochte sie ja auch gewesen sein, aber Ranma konnte einfach an nichts und niemand anderen mehr denken, als an Akane.

***

Neugierig blickte er sich in dem kleinen, schwach beleuchteten Raum um, in den ihn Sen geführt hatte. Was für ein seltsamer Ort dies war. Als er das Dorf betreten hatte, gab keiner der Dorfbewohner einen Mucks von sich. Stattdessen herrschte eine Totenstille, fast so, als wären sie nicht real. Sie bekamen wohl sehr selten Besucher, anders konnte er sich ihre übertriebene Zurückhaltung nicht erklären.

"Da!" Sen pustete einmal kräftig und verursachte eine dicke Staubwolke, die ein uraltes Telefon freilegte. "Bitteschön!" sagte er lächelnd und hielt es Ranma entgegen.

"Ehm... Sicher, dass das noch funktioniert?"

"Einen Versuch ist es Wert, mein Freund." Mit diesen Worten verließ er den Raum, um Ranma ungestört telefonieren zu lassen.

Zögerlich wählte er die Nummer. Es klingelte ein paar Mal, bis endlich jemand abhob.

"Hallooo..... Tendo hier", schallte ihm eine weinerliche Stimme entgegen.

"J...Ja, hier ist Ranma."

"Ranmaaaaa!" heulte Soun in den Hörer. Ranma zuckte zusammen. "Was ist passiert? Ist Vater etwas zugestoßen?"

"Meine kleine Akane-chan ist verschwunden", stieß er mit tiefen Schluchzern aus, ohne auf seine Frage zu antworten.

"Was?"

"Sie ist von zuhause fortgelaufen. Etwas Abstand wollte sie haben. Warum nur? Warum? Du wirst sie doch suchen, mein Sohn, oder?"

In Ranmas Kopf begann sich alles zu drehen. Er verstand nichts mehr. "Moment, Akane ist verschwunden?" Soun bejahte kläglich. "Und keiner weiß, wo sie ist?"

"Sie hinterließ zwar einen kurzen Brief, aber erwähnte ihr Ziel nicht."

Ranmas Herz wurde schwer, ganz schwer. War es denn tatsächlich so schlimm um sie gekommen? Hatte er nicht bemerkt, wie sehr Akane unter seiner ständigen Anwesenheit litt? Dabei wollte er ihr doch so gerne etwas Zeit geben, um sich ohne ihn etwas zu entspannen, um wieder normal essen zu können, normal leben zu können. Und dann... wenn er zurückkommen sollte, wollte er sich bei ihr entschuldigen. Doch nun wusste keiner wo sie war. Nun war er derjenige, dem Zeit geschenkt wurde. Zum ersten Mal erkannte er, wie bedrückend das Gefühl ist, von jemandem verlassen zu werden. Zum ersten Mal erkannte er, wie brutal er doch immer zu ihr gewesen war, wann immer er sich für eine seiner Trainingsreisen davonschlich und sie allein im Dunkeln zurückließ.

Er nahm einen tiefen Atemzug. "Ist sie allein?" Die Frage kam einfach so über seine Lippen, ohne dass er weiter darüber nachdachte. Es war eigentlich ziemlich unwahrscheinlich, dass sie eine Begleitung hatte. Wer sollte denn schon...

"Ryoga Hibiki", antwortete Soun mit ohnmächtiger Stimme.

"WAS?" schrie Ranma erschrocken in den Hörer. "Stand das in ihrem Brief?"

Mit tonloser, ruhiger Stimme fuhr Soun fort: "Heute Morgen, noch ehe ich ihren Brief bemerkt hatte, bin ich Doktor Tofu begegnet und er fragte mich, was Akane denn gegen 4 Uhr Nachts mit einem Jungen auf der Straße treibt. Er machte sich große Sorgen, doch als er heraustrat, waren sie beide bereits verschwunden."

"So ein Blödsinn", brüllte Ranma außer sich, als sich ein leises, kaum hörbares Weinen in seine Stimme drängte. "Woher wollen sie denn wissen, dass es Ryoga war? Vielleicht sah es nur aus wie ein Junge. Ja, vielleicht war es... Ukyo!" Ranma konnte im selben Moment beinahe das mitleiderfüllte Kopfschütteln von Soun hören.

"Mein Sohn", setzte er schweratmend an. "Er beschrieb ihren Begleiter als einen Jungen, etwa deines Alters und derselben Größe, mit einem Stirnband und einem roten Schirm, den er am Rücken trug. Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, aber viele Jungen treffen nicht auf diese Beschreibung zu." Er schluchzte erneut.

Fassungslos ließ Ranma mit gesenktem Kopf den Hörer aus der Hand gleiten. Ryoga? Ryoga und Akane? Das konnte nicht sein! Das... Erschrocken fuhr er hoch. Ryoga und Akane! Deswegen war sie in letzter Zeit so abweisend zu ihm gewesen. Sie hatte sich in Ryoga verliebt. Wahrscheinlich hatte sie ein schlechtes Gewissen und konnte ihm deshalb nicht mehr in die Augen sehen. Und Ryoga. Dieser miese.... Kein Wunder, dass er sich in letzter Zeit bemüht hatte, netter zu Ranma zu sein. Schließlich hatte er nichts mehr zu befürchten, war doch sein Wunsch von einer glücklichen Zweisamkeit mit Akane endlich wahr geworden. Erfüllt von Zorn ballte er seine Hände zu zwei stahlharten Fäusten und biss seine Zähne fest aufeinander. Auf einmal fuhr er erschrocken zurück und öffnete mit einem Blick, in dem so viel Angst, wie auch Neugier steckte, seine Fäuste. Auf seinen Handflächen zogen sich feine Bahnen einer tiefroten Flüssigkeit entlang. Von seinen Fingernägeln tropfte das selbe. Seine Augen wurden glasig. Langsam ließ er seine Arme neben sich sinken und schaute lange, lange Zeit in eine dunkle, schmutzige Ecke des Raumes. Unfähig zu sprechen, unfähig sich zu rühren. Er saß einfach nur da und starrte. Er dachte an Akane. Akane! Er sehnte sich so nach ihr, nach ihrem Lächeln. Sie sollte ihm noch ein mal ihr wunderschönes Lächeln schenken. Akane... die sich für ihn in den Hiryo Shouten Ha stürzte, um ihm zu helfen. Ungläubig schüttelte er ein ganz klein wenig seinen Kopf. Sie hatte sich wirklich für ihn in Lebensgefahr begeben. Es muss mehr da gewesen sein, als nur Sympathie. "Gewesen..." Und nun? Hatte er wirklich alles kaputt gemacht durch seine permanente Sturheit? War nun alles zu spät? Hatte er sie verloren an einen armen Idioten, der sich in seinem eigenen Garten verirrt? War sie so einsam? Hatte er sie so sehr verletzt?

"Hallo! Hallo Ranma? Bist du noch dran?" drang es aus dem Hörer, der am Boden lag. So lange, bis schließlich nur noch ein langes Tuten zu vernehmen war.

Auf einmal tat Ranma etwas, was er in seinem ganzen Leben noch nie getan hatte. Er weinte. Es drangen nicht bloß ein paar Tränen, wie einige Male zuvor, in seine Augen, er weinte richtig. Er schluchzte und schrie. Verzweifelt schlug er sich mit seinen Fäusten gegen den Kopf. Dieser Schmerz, er sollte ihn verlassen. Akane war gegangen, aber den Schmerz hatte sie dagelassen. Der Schmerz, er wurde stärker, kroch in jedes seiner Glieder, zerfraß ihn innerlich. Laut heulte Ranma auf. Zu spät. Zu spät! Alles war zu spät! Die heißen Tränen rannen in Strömen aus seinen zugepressten Augen seine Wangen hinab. Er konnte sie schmecken, unfähig sie zu stoppen. "Sie... sie ist doch meine Verlobte! Ich.... ich.... ich brauche sie doch." Kaum verständlich sprach er zwischen seinem hektischen Schluchzen all seine Gedanken und so lange Zeit unterdrückten Gefühle aus. "Ich brauche sie so sehr", flüsterte er.

Im Türrahmen tauschten Sen und Matsuko besorgte und mitleiderfüllte Blicke aus. Die ältere Dorfbewohnerin lehnte sich zu Sen hinüber und sprach leise zu ihm: "Besser wir kommen später wieder. Er braucht jetzt etwas Zeit für sich." Der bärtige Mann nickte langsam, dann legte er sanft eine Hand an den Rücken der Frau und schritt mit ihr hinfort.

***

"Hallo? Jemand zuhause?" Akane schaute sich um. "Warum haben die Leute in diesem Dorf auch keine Klingeln an den Türen?" dachte sie sich nervös. Zwar hatte Matsuko ihr ausdrücklich gesagt, dass Akane jederzeit willkommen sei und ohne Einladung hereinspazieren möchte, wann es ihr beliebt, doch etwas unwohl war ihr schon bei dem Gedanken, sich in einem völlig fremden Haus aufzuhalten, wenn sonst niemand da war. Allerdings hatte sie versprochen, den Korb zurückzubringen, in dem all ihre Geschenke gelegen hatten. Keinesfalls wollte sie einen unzuverlässigen Eindruck auf sie machen, wo sie doch während ihres bisherigen Aufenthalts so eine warmherzige Behandlung genossen hatte.

Plötzlich fiel ihr Blick auf das Bett. Sie erkannte eine große Ausbeulung unter der schneeweißen, riesigen Decke. Jemand befand sich darunter. Leicht und in einem ruhigen Rhythmus erhob sich etwas in Brusthöhe des Körpers ein ganz klein wenig, sank wieder, erhob sich, dann sank es wieder.

"Oh nein, hier schläft jemand!" dachte Akane erschrocken, als sie sich mit beiden Händen über den Mund fuhr und hoffte, diese Person nicht aufgeweckt zu haben. Auf Zehenspitzen schlich sie sich vorsichtig zur Tür, von wo aus sie aus den Augenwinkeln mitbekam, dass sich jene schlafende Person langsam erhob. Verängstigt über mögliche unangenehme Konfrontationen, rannte sie davon. Am Hauseingang begegnete sie Matsuko, der sie geistesabwesend mit einem flüchtigen Dankeschön und einer schnellen Verbeugung den Korb in die Hand drückte und dann eilig davon lief. Die ältere Frau blickte Sen, der gerade auf sie zukam und das Geschehen beobachtet hatte, fragend an, doch er zuckte nur mit den Schultern. Mit einem ahnungsvollen Blick betraten sie gemeinsam das kleine Häuschen.

***

Ranma öffnete langsam seine Augen. Akane? War sie das? Voller Sehnsucht und Hoffnung stützte er sich in eine Sitzposition auf, doch es war niemand da. Er befand sich noch immer in diesem merkwürdigen Raum. War er eingeschlafen? Jemand hatte ihn ins Bett getragen und zugedeckt. Er hielt nicht lange an diesen Überlegungen fest und ließ sich entkräftet zurückfallen, als ihm Akane wieder in den Sinn kam. Für einen winzigen Augenblick meinte er, ihr wieder nah zu sein. So wie damals, als sie ihn jeden Morgen mit ihrer hellen, klaren Stimme geweckt hatte. Immer hatte er sich nur geärgert, wenn er jene Stimme wahrgenommen hatte. Die einzige Bedeutung, die sie damals für ihn gehabt hatte war, dass er aufstehen musste. Nie kam ihm dabei in den Sinn, ihren Klang zu schätzen. Zu schätzen, dass sie etwas war, das kontinuierlich bei ihm war... dass sie ihm Kraft und Wärme schenkte. Ranma rieb sich seine Augen. Eine ganze Nacht war vergangen, ohne dass er überhaupt bemerkte, dass sie angebrochen war. Durch ein winziges Fenster fielen die weißen, gleißenden Sonnenstrahlen auf ihn und doch war alles schwarz. Dunkel. Verloren. Hoffnungslos. Erschöpft ließ er seine Lider wieder herabsinken. Er hätte schwören können, sie eben gesehen zu haben, wie sie vor ihm stand, ihn mit runden Augen anstarrte und dann in ihrer typischen Art, wenn sie etwas Tollpatschiges getan hatte, davonschlich. Er hätte schwören können, ihre Stimme gehört zu haben...

Nun wurde er also schon verrückt. Denn Akane war ja bei Ryoga. Und hier war nur er, Ranma, ganz allein. Er fühlte sich wie betäubt. Ausgeschabt. Innerlich abgestorben. Wie eine wandelnde Hülle ohne Seele, ohne Gefühle... wäre da nicht, dieser fürchterliche, stechende Schmerz.

Desinteressiert nahm er zwei graue Schatten wahr, die sich vor ihn hockten.

"Endlich ist er wach", sprach der eine Schatten plötzlich.

"Ganz fit sieht er aber nicht aus..." begann nun der andere Schatten mit einer etwas vertrauten Stimme zu sprechen. Alles war sehr unheimlich und mysteriös. Doch Ranma ließ nichts an sich heran. Nichts. Er wollte niemanden um sich haben, mit seinem Schmerz allein sein und wenn nötig... daran sterben.

"Denk gar nicht erst an solch einen Blödsinn!" rief der etwas rundliche Schatten plötzlich aufgebracht, als hätte er seine Gedanken gelesen und schüttelte dem kraftlosen Körper einen Eimer kaltes Wasser über.

"EEEEEEEK!" Mit einem Sprung setzten beide zurück. "HIMMEL NOCH MAL!"

Seufzend richtete sich der klatschnasse Rotschopf auf. "Was wollen Sie von mir" gab er in einem müden, leblosen Ton von sich. Plötzlich blinzelte er leicht. "Was zur...?" Kraftlos hob er seine Hände und betrachtete mit schweren Lidern die frischen Verbände, ließ sie dann aber wieder herunterhängen, als die zwei Schatten-Menschen allmählich Konturen annahmen und seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zogen.

Sens Blick glitt auf Ranmas offenes Hemd, das nun einen vollen, wohlgeformten Busen freilegte. Panisch krabbelte er ohne seinen Blick von der eigenartigen Gestalt auf dem Bett zu lassen, zurück und deutete zitternd mit seinem Wanderstock auf den verwandelten Körper. "Da-da-da-da- das" fing er an zu stottern.

Ranma-chan verdrehte genervt die Augen. "Oh bitte, ich fühle mich im Moment wirklich nicht danach, auch noch komplizierte Erklärungen abzugeben..."

"i-i-ist der le-legendäre Ju-ju-jusenkyo-Fluch, ni-nicht wahr?" fuhr er nervös fort. Die ältere Dorfbewohnerin kniete neben Sen und nickte aufgeregt, während sie mit großen, leuchtenden Augen in Ranma-chans Gesicht starrte und japste.

"Ihr wisst über Jusenkyo bescheid?" Überrascht kräuselte Ranma die Stirn. Ein kleiner Hauch von Erleichterung überkam ihn. Wenigstens musste er sich nun nicht mehr mit komplizierten Erklärungen abgeben. Obwohl... Nervig war ihre Reaktion schon. Ein klein wenig übertrieben irgendwie. Und diese Fremde hätte auch nicht unbedingt so grinsen müssen, als wäre er eine Zirkusattraktion. Er wünschte, dass sie aufhören würden zu starren, sie sollten seine Meinung hören. Aber er fühlte sich zu schwach, um irgendetwas noch zu sagen. Alles um sich herum bekam er nur halbherzig mit. Es kam ihm vor wie ein Traum. Nur wie in Trance bemerkte er, wie sich der lange Wanderstock des alten Mannes wie in Zeitlupe seinem Körper näherte und ihn berührte. "Schlaf", hörte er Sen mit einer tiefen Stimme sagen.

***

"Ist das möglich?" flüsterte Matsuko fassungslos. Mit einem Streichholz zündete sie eine dicke, rote Kerze an, nachdem sie die Vorhänge des kleinen Fensters zugezogen hatte.

Sen rieb sich nachdenklich seinen Bart. "Hmm... Es passt alles zusammen. Eigentlich besteht gar kein Zweifel. Er ist es." Er machte eine kurze Pause. "Ich habe sofort gespürt, dass etwas sehr Starkes von ihm ausgeht. Vielleicht bedeutet das ja sogar..." Mitten im Satz hielt er inne, denn an Matsukos Gesicht war deutlich abzulesen, dass ihr bereits der selbe Gedanke in den Sinn gefahren war.

Hastig öffnete sie ihren Mund. Sie wollte etwas sagen, doch sie war sprachlos. Mit einem sorgenvollen Lächeln wandte sie sich zu Ranma, der noch immer schlief. Im blassen Licht der fast erloschenen Kerze schaute er so hilflos und verletzlich aus. Langsam ging sie auf ihn zu und strich ihm sanft den Pony aus der Stirn. "Mal schauen, was wir für dich tun können, mein Armer."

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Dieses Kapitel widme ich all meinen lieben lieben Lesern und den wenigen Kommi-Schreibern hier auf ff.net. -.- Ganz besonderen Dank an die anonyme Person, die mich daran erinnert hat, hier wieder etwas hochzuladen. War sehr beschäftigt in letzter Zeit, werde demnächst aber auch wieder brav lesen. Versprochen. ^^