III.
Snape ging der Versuchung aus dem Weg, den ganzen Tag, und die Versuchung schien ihm aus dem Weg zu gehen. Nachdem er sich versichert hatte, dass der Junge wusste, was er tat, zumindest mit Lebensmitteln, hatte er sich zurückgezogen. Sowieso war die ganze lärmende Bande hereingekommen, kaum dass er sein Ei gegessen hatte – das beste seit Jahren, wohlgemerkt, und auch der Kaffee war erstaunlich gut gewesen, er hatte schon vergessen gehabt, dass Kaffee auch schmecken konnte, und nicht nur der Erweckung von Beinaheleichen aus komatösen Zuständen diente. Harry hatte nur in seinem Ei rumgefuhrwerkt, er schien nicht hungrig zu sein. Aber der Blick seiner Augen, dem Snape nicht ausweichen konnte, hatte ihm gezeigt, dass er ganz schnell in Schwierigkeiten kommen konnte. Und wenn er eins in seinem Leben nicht brauchte, waren es Schwierigkeiten. Und der Junge schien der gleichen Meinung zu sein. Gut. Etwas, das sie gemeinsam hatten.
Snapes Lippen verzogen sich, während er seinem rechthaberischen Denken so zusah. Offiziell machte er die Monatsabrechnung. Potter war im Aufenthaltsraum, belagert von Hagrid, dem einen oder anderen Kleintier, und diversen finsteren Gestalten, die sich den Neuzugang genauer anschauen wollten. Snape wusste, dass er keine Chorknaben betreute. Das laute Geheul, als die Meute Harry entdeckt hatte, am Morgen, verbunden mit dem Gebrüll "Frischfleisch, Jungs" hatte ihn nicht überrascht. Seine Hand hatte gejuckt, sich besitzergreifend und beschützend auf Harrys Schulter zu legen, aber das durfte natürlich nicht sein. Snape unterdrückte einen Seufzer und stellte fest, dass er schon wieder versonnen auf die Gestalt im Aufenthaltsraum gestarrt hatte, ohne sie richtig zu sehen noch dazu, anstatt Zahlenkolonnen zu addieren.
Er seufzte jetzt doch, war ja eh niemand da, der ihn hörte. Verdammt. Albus. Der tauchte immer auf, wo man ihn nicht brauchen konnte. "Sorgen, Severus?", fragte der alte Mann jetzt freundlich. Severus knurrte nur. Albus hatte irgendwann angefangen, an ihm Vaterstelle zu vertreten, und ließ sich davon auch durch abgefeimteste Gemeinheiten seinerseits nicht abbringen.
Severus sah mit aller Verachtung, deren er fähig war, auf den in einem rosa Häkelnetz zusammengerollten Knoten des langen Bartes. Gut, der Mann war alt, aber rosa? Albus hielt wirklich überhaupt nicht auf seine Würde. "Nicht mehr als sonst", sagte er zu dem Knoten. Der begann zu wackeln. "Nicht mehr als sonst, was?" Das Kichern von Albus Dumbledore war vielleicht früher einmal nett gewesen, als Snape ihn noch nicht so gut gekannt hatte, mittlerweile nervte es ihn nur noch. Meist ging es auf seine Kosten. Er wusste wirklich nicht, warum er den Mann duldete. Doch. Die Regeln zur Führung von Seefahrerheimen zwangen ihn, jeden gestrandeten Seemann aufzunehmen. Und Albus war einer der wenigen, die selbst zahlten, mit seiner guten Pension.
Severus biss die Zähne aufeinander und widerstand dem nahezu überwältigenden Drang, wieder zum Aufenthaltsraum zu schauen. Albus hatte diese Probleme nicht. Er starrte ganz offen. "Netter Junge, dieser Harry", sagte er. Seine Stimme klang nach Snapes Meinung viel zu harmlos. Er hasste das. Und sagte nichts, hob nur eine Augenbraue. "Sieht auch nett aus, das ist sogar für jemand in meinem Alter noch zu erkennen." Jetzt kicherte er wieder. Snape grunzte so verächtlich er konnte. "Malfoy und seine Jungs scheinen das auch zu meinen." Nun klang die Stimme ernster. Draco Malfoy war die offizielle Vertretung des Bösen in diesem Heim, ein blonder ausgekochter Bengel, der sich hier auf Kosten des Staates von einer angeblich schwerwiegenden Verletzung auf See erholte. Snape war sicher, dass er längst wieder geheilt war, aber was konnte er tun? Draco hatte einen einflussreichen Großreeder als Onkel, und sein Vater war einer der letzten Kapitäne alter Klasse, einer, der noch verdiente mit seinem Schiff. Und schmutzigen Geschäften, wie gemunkelt wurde, was aber auch nicht zu beweisen war. Wie alles Böse hatte Malfoy seine Fans, ihn umgaben stets zwei hirnlose aber kräftige Bulldoggen von Männern, deren Namen Snape sich geweigert hatte, zu merken, nachdem er sie in seinem Buch niedergeschrieben hatte. Mit solchem Ungeziefer wollte er seine wenigen verbliebenen Gehirnzellen nicht beschmutzen.
Wenn Draco Malfoy sich nun in den Kopf setzte, Harry Potter als sein neues Spielzeug zu benutzen, um sich die Zeit zu vertreiben, dann würde es Ärger geben. Großen Ärger. Snape gab der Versuchung nach und sah in den Aufenthaltsraum. Seine Augenbrauen zogen sich drohend zusammen und sein Mund wurde noch dünner gepresst, bei dem Anblick, der sich ihm bot. Harry hatte einen Besen in der Hand und schien kehren zu wollen. Draco stand ihm im Weg, flankiert von den beiden Affen. Hagrid, den Snape als inoffizielle Wache für Harry empfunden hatte, war nirgends zu sehen.
Severus merkte, wie sich seine Hand um den Füller krampfte. Er wollte aufspringen, den Jungen retten, und verachtete sich selbst dafür. Der Junge war erwachsen, verdammt noch mal, und Malfoy und Co würden doch nichts anstellen, unter den Augen von ihm und Albus? So dumm konnten doch nicht mal sie sein? Snape kniff die Augen weiter zusammen, um besser zu sehen. Der Kleine schien sich nicht einschüchtern zu lassen, der schwarze Kopf machte aus der Entfernung einen äußerst halsstarrigen Eindruck. Severus hatte plötzlich das überwältigende Bedürfnis nach einer Tasse Tee.
Er erhob sich und ging ohne einen Blick auf Albus den kurzen Weg in den Aufenthaltsraum. Einen Blick dieser zwinkernden Augen hätte Snape jetzt nicht ertragen. Albus folgte ihm, natürlich. Sie kamen gerade recht zum Höhepunkt. Konnten sehen, wie sich das auf eine irgendwie frettchenhafte Weise hübsche Gesicht Malfoys wütend verzog, während seine Adjutanten dumpf beleidigt guckten. Die Worte Harrys hallten im leeren Raum: "Ich sehe schon selber, wer hier was taugt und wer nicht." Snape war lächerlicherweise stolz. So deutlich hatte das noch niemand gewagt zu sagen. Die meisten hatten sich Dracos angenommener Überlegenheit freiwillig unterworfen. Oder nicht so freiwillig. Snape machte sich lächerlicherweise Sorgen. Er konnte nicht immer auf Harry aufpassen. Und Albus war alt. Und Hagrid ...
"Rubeus", rief er, und glitt in den Raum. Harry fuhr herum. Seine grünen Augen glänzten übernatürlich. Snape kostete es keine Mühe, sich von den Augen abzuwenden. Keine sehr große, jedenfalls. Draco sah ihm kampflustig entgegen. Dieser junge Mann erkannte keine Autorität an, selbst er als Leiter des Hauses musste sie immer wieder verteidigen. Draco Malfoy war ein sehr ermüdender junger Mann. Und ein würdiger Erbe seines Vaters. Severus presste die Lippen aufeinander. In der Küche bewegte sich etwas.
Hagrid kam heraus. Seine Hände waren in die Taschen gesteckt, und sein weiter Mantel – Mantel? Wieso eigentlich Mantel, dachte Snape, aber er wollte die Antwort gar nicht wissen -, bewegte sich an mehreren Stellen. Severus glitt auf ihn zu, fasste den Riesen an der Schulter und schob ihn zurück in die Küche. " Ich dachte, ich hätte klar gemacht, was ich von dir erwarte", zischte er.
Rubeus schaffte es, verwirrt und schuldbewusst zugleich auszusehen. Und unschuldig. Snape hielt sich nicht mit einer Analyse der Gesichtsbewegungen Hagrids auf. "Aber Severus, ich war doch nur in der Küche, was kann Malfoy da schon anstellen, wenn ich direkt nebenan bin?" Severus hielt sich auch nicht mit einer Analyse der Worte Hagrids auf. "Du hast es versprochen", zischte er und drängte an dem Riesen vorbei zum Herd. Hagrid an seine Versprechen zu erinnern, war der sicherste Weg, ihn schuldbewusst zu machen. Wenn es auch nichts änderte, befriedigte es Severus doch wenigstens. Etwas.
Snape drehte Hagrid den Rücken zu und hielt den Kessel unter den Wasserhahn. Eine kleine kräftige Hand an einem gestreiften Arm griff unter seinem ausgestreckten Arm durch und ergriff den Kessel. Snape schnaubte und sah Harry an. Der Junge sah erhitzt aus. Er hatte sich ganz schön angestrengt, um seinen neuen Job perfekt zu machen. Hätte Snape gar nicht erwartet. Dann natürlich, die Begegnung mit Malfoy – vielleicht war es das.
"Ich bin durchaus in der Lage, Wasser zu kochen, Harold", sagte Severus streng, aber er fühlte sich sonderbar geschmeichelt durch diesen Eingriff in sein Territorium, durch diese Beleidigung seiner Fähigkeiten. "Entschuldige bitte, wenn ich Probleme habe, das zu glauben, Severitus", sagte Harry und seine Augen blitzten. Und nicht nur die. Weiße spitze Zähne tauchten hinter den geöffneten rosa Lippen auf, und Severus fühlte sich fallen. Er riss sich zusammen und schaffte es, ein unbestimmtes "umpf" auszustoßen.
Harry stellte den Kessel auf und richtete mit schnellen Griffen und ohne zu fragen eine Kanne mit genau dem Tee, den Severus jetzt trinken wollte. Er richtete ein Tablett mit vier Tassen und ein paar Keksen, von denen Severus nicht wusste, wo sie herkamen. Er hob eine Augenbraue. "Vier Tassen?" Harry errötete. "Ich dachte, Albus und Rubeus und ich – und du". Snape presste die Lippen aufeinander. "Ich dachte schon, Draco ...". Das junge Gesicht zeigte unverstellten Abscheu. "Das ist ein unangenehmer Mensch." Severus fühlte sich nicken, wie hypnotisiert von den rosigen Lippen, die voll Abneigung verzerrt waren.
"Er erinnert mich irgendwie an jemanden", fügte Harry hinzu, während er das Wasser über die Teeblätter goss. Severus schnüffelte. So gut hatten die nie zuvor gerochen. "Mich auch", sagte er und seine Lippen pressten sich aufeinander. Die grünen Augen sahen ihn an. Severus verlor sich in ihnen. Wie lange, wusste er nicht. Irgendwann kam Albus und fragte nach dem Tee. Harrys Augen zuckten, dann hob er die Schultern und goss den verdorbenen Tee weg. Severus blieb stehen, als sei er gelähmt.
