IV.
Harry drehte sich in seinem Bett um und unterdrückte ein Stöhnen. Nicht dass es die anderen geweckt hätte, sicher nicht. Rubeus schnarchte, Albus kicherte. Aber sie schliefen wenigstens. Die Glücklichen. Während er von Erinnerungen heimgesucht wurde, die er nicht wegdrängen konnte. Es ging tagsüber, wenn er beschäftigt war, aber nachts kamen sie, die Monster seiner Vergangenheit.
Das Ticken. Das Klopfen. Ein Fall. Ein Schrei. Und Stille. Das Klopfen. Das Holzbein. Lange blonde Haare. Kalte Augen. Kräftige Finger, die ihn um die Kehle packten. Eine tödliche Stimme, die aus dünnen Lippen quoll und ihn schuldig sprach. Ihn Harry. Zu Recht. Oh ja, zu Recht. Aber dennoch – den Preis hatte er nicht zahlen können Die Flucht. Ständig auf der Flucht. Nachts immer noch.
Obwohl er doch hier so etwas wie ein Heim gefunden hatte. Er wurde gebraucht. Er wurde sogar gemocht. Sein Mund presste sich zusammen. Sogar mehr als das, möglicherweise. Die Lippen von Severus. So schmal erscheinend, da sie meist grimmig zusammengepresst waren. Und dennoch – die Unterlippe, wenn sie entspannt war, erschien beinahe üppig. Harry schluckte. Und die Mundwinkel waren in einem unglaublichen Bogen nach oben gerichtet. Der Mann war ein Bündel von Widersprüchen.
Und der Gedanke an ihn brachte ihn dem Schlaf nicht näher. Harry stöhnte jetzt doch. Schlaf war durch diese Gedanken in unerreichbare Fernen gerückt. Sein Gehirn stürzte sich freudig auf Möglichkeiten, ihn zu quälen. Mit Bildern. Mit Gedanken. Mit Vorstellungen. Und sie alle liefen darauf hinaus, dass ihn dieses Gefühl schon einmal tierisch in die Bredouille gebracht und einen anderen Menschen das Leben gekostet hatte. Nein. Er konnte das nicht brauchen.
Harry schlug die Decke auf. Nichts schlimmer, als im Bett liegen zu bleiben, gepeinigt von einem Teil seiner selbst. Demütigend, dass er sein Gehirn nicht besser unter Kontrolle hatte. Aber zumindest seinen Körper hatte er unter Kontrolle. Sein Gehirn konnte ihn nicht zwingen, einfach liegen zu bleiben, und sich diesen quälenden Gedanken auszusetzen. Er griff nach seiner Jeans, aber die war nicht da. Mist. Ja, er hatte sie ja in die Waschmaschine gesteckt, um morgen etwas Sauberes zum Anziehen zu haben. Genauso wie seine Unterwäsche, seine Hemden und Socken. Verdammter Mist aber auch.
Er stand dennoch auf. Von so etwas würde er sich nicht bezwingen lassen. Es war 2 Uhr nachts, wer sollte ihn schon sehen? Harry kramte in seinem Seesack und fand den dicken Pullover, der beinahe bis zu den Knien reichte. So, das sollte genügen, ihn gegen Kälte und unwahrscheinliche Blicke zu schützen. Und jeden unerwarteten Betrachter vor einer Verletzung seiner Schamhaftigkeit.
Nun hatte er auch ein Ziel. Den Wäscheraum. Vielleicht waren die Klamotten ja schon trocken und er konnte sich einen Gang am Morgen ersparen. Er wollte Draco nicht auf noch dümmere Gedanken bringen, indem er sich ihm nur im Pullover zeigte. Harry grinste. Nein wirklich nicht. Der Typ war einfach nur widerlich, obwohl er ihm vom Alter her näher hätte stehen sollen als alle anderen. Von seinen Clowns mal abgesehen. Der Altersdurchschnitt hier war hoch. Nicht, dass Harry das etwas ausmachte. Der uralte Albus hatte einen so feinen Humor, dass Harry schon nach einem Tag Vertrauen zu ihm gefasst hatte, und ihn beinahe wie eine Vaterfigur betrachtete. Hagrid war auch in Ordnung, wenn auch ein wenig – nun chaotisch. Und Severus – an den wollte er nicht denken.
Harry machte kein Licht. Er wollte nicht unnötig auf sich aufmerksam machen, und er hatte ein gutes räumliches Gedächtnis. Severus hatte ihm tagsüber alle Räume gezeigt, in die ihn die Arbeit führen mochte. Harry seufzte. Da war Severus wieder in seinen Gedanken, er schien ihm aus dem Bett gefolgt zu sein. Der Seufzer klang schauerlich in dem leeren Flur und Harry schauderte. Plötzlich kam es ihm doch nicht wie eine so gute Idee vor, mitten in der Nacht in einem doch recht unbekannten Haus unterwegs zu sein. Die Tatsache, dass er keine Hose trug, ließ ihn sich sonderbar verletzbar fühlen.
Da war die Tür zum Waschraum, sah er erleichtert. Seien Augen waren bei Dunkelheit schon immer besser gewesen als bei Tageslicht, eine sonderbare Laune der Natur, der er viel verdankte. Harry schluckte und öffnete die Tür. Seine Sachen hingen noch so auf der Leine, wie er sie dorthin gehängt hatte. Vielleicht nicht mehr ganz so nass. Harry fluchte. Er wusste, es war lächerlich, aber er würde nicht ohne seine Klamotten wieder in sein Zimmer gehen. Hier musste es doch irgendwo ein Bügeleisen geben. Er würde zumindest die Jeans trocken bügeln. Zeit hatte er ja.
Wahrscheinlich die nächste Tür. Snape hatte ihm nicht gezeigt, was dahinter war, aber es war irgendwie logisch. Hinter dem Waschraum der Bügelraum, oder? Und logisch war Severus ja unter anderem. Harry kicherte und öffnete die Tür. Mit nur wenig Angst. Was konnte da drin schon sein?
Seine Augen flogen auf und er schluckte. Dann flogen die Augen zu und er schrie. Eine feste große Hand packte ihn an der Schulter und zog ihn ins Zimmer. Harry wehrte sich nicht. Es wäre sinnlos gewesen. "Was machst du hier, um die Zeit?", knurrte Snape. "Und mach zumindest die Tür zu, es muss ja nicht jeder im Haus aufwachen."
Harry stand da und atmete schwer. Was machte Snape hier, mitten in der Nacht? Das war doch eine genauso berechtigte Frage. Nun, er war der Hausherr, das war schon klar. Aber seine Vermutung, dass Snape ähnlich schlecht schlief, wie er selbst, hatte sich nun wohl bestätigt. Und er schien eine schlaflose Zeit zum - Bügeln zu nutzen. Harry sah ein Bügelbrett, auf dem ein Bettbezug aufgespannt war. Das Bügeleisen gab leise Geräusche und ein wenig Dampf von sich. Harry betrachtete es eine Weile. Dann sah er, dass da auch ein Fernseher war. Er lief beinahe unhörbar, und es war ein Film in schwarzweiß, der lief. Irgend jemand der schon lange tot war, sprang durch die Wanten.
Harry richtete seinen Blick auf Snape. Der war etwas errötet, wie es schien. Die Bügelei schien seine Körpertemperatur erhöht zu haben. Oder? Die Augen des anderen Mannes glitten über ihn, von seinen Augen über sein Gesicht und weiter nach unten. Oh. Jetzt war es an Harry, zu erröten. Verdammt noch mal. Das würde ihn lehren, einfach anzunehmen, er sei der einzige mit Schlafstörungen. Falsch gedacht. Er senkte die Augen. Oh bitte bitte nicht. Sein Pullover begann sich leicht zu heben, an einer Stelle, die zwar schon ziemlich ausgebeult gewesen war, aber nicht so sehr. Er bewegte sich unbehaglich und fing an zu reden: "Ich wollte mir gerade meine Sachen bügeln." Harry ging um das Bügelbrett herum, in Richtung des Fernsehers. Ja, das war besser. Das Brett hatte genau die richtige Höhe.
Die schwarzen Augen glänzten. "Ah", sagte Snape. Harry wurde sehr bewusst, dass er seine Sachen nicht in der Hand hatte. "Ich wollte erst mal schauen, ob hier ein Bügelbrett ist," sagte er, und merkte, dass er wie ein kleines Kind klang, dass sich wegen Sachen verteidigte, für die es nicht angeklagt war. "Hm", sagte Snape und die schwarzen Augen glitten wieder über Harrys Körper hinweg. Harry errötete tief. Die Stimme Snapes, auch wenn er sie nicht mit voller Kraft anwandte, und auch nicht viel sagte, war für seinen Zustand nicht gerade förderlich. Ähm, ja. Doch förderlich. Einem Zustand, den er nicht wollte. Verdammt.
"Ich dachte, ich sei der einzige, der nicht schlafen kann", sagte Harry, und es klang auch in seinen Ohren lahm. "Ich dachte, es sei sicher, dass ich niemand treffe, also ...". Verdammt, jetzt hatte er auch noch auf seine nackten Beine hingewiesen. Als ob das noch nötig gewesen wäre. Die schwarzen Augen schlossen sich kurz und Harry fühlte sich schwindelig. Der fehlende Schlaf hinterließ Spuren.
"Es ist meistens ein Fehler, etwas als sicher anzunehmen", sagte die weiche Stimme. Harry schluckte. Oh Gott, er würde hier nie raus kommen, ohne sich bis auf den Grund zu blamieren. Jetzt kam die schwarze Gestalt näher. Harry schluckte wieder. Was würde Snape jetzt tun? Doch sicher nichts Schlimmes? Doch nicht das, was ein Teil von ihm sich offenbar wünschte? Oh, bitte nicht. Oh bitte.
"Hier", sagte die Stimme, die klang, als würde ihr Eigentümer gerne schlucken, könne es aber nicht. Harry öffnete die Augen, als er etwas an seiner Hand fühlte. Er sah weg von den schwarzen hypnotisierenden Snapes, in die er irgendwie gleich wieder gefallen war und auf seine Hand. Ein Stück Stoff. Eine Hose. Silber-grün gestreifte und anständig gebügelte Boxershorts aus Leinen. Wer trug denn so was? Na egal. Er würde sich nicht mehr so verletzlich fühlen, mit Hosen. Severus schien das bemerkt zu haben. Harry fühlte sein Herz hüpfen. Er konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Mal jemand so etwas uneigennütziges für ihn getan hatte. Sei nicht albern, Potter, sagte er zu sich, das bedeutet nichts. Sei nicht so gottverdammt dankbar für ein wenig menschliche Güte, egal woher sie kommt, nur weil du auf diesem Gebiet so wenig Erfahrung hast. Wahrscheinlich ist es Severus peinlicher als mir, und deshalb gibt er mir die Hose, um das nicht mehr sehen zu müssen. Es sich nicht vorstellen zu müssen. Hm. Harrys Augen leuchteten auf, während sich seine Stirn noch in Falten legte.
Sanpe hatte sich umgedreht. Wahrscheinlich, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich unbeobachtet die Hose anzuziehen. Wie außerordentlich rücksichtsvoll von ihm. Die Schultern des Mannes sahen sehr angespannt aus. Harry fühlte plötzlich etwas in sich erwachen, was da schon lange nicht mehr erwacht war. Etwas was ihn in große Schwierigkeiten bringen konnte. Harry überlegte. Aber je länger er diese Schultern so ansah ...
"Fertig", sagte Harry. Severus Snape drehte sich langsam um. Harry fühlte sich in seiner Einschätzung der Lage bestätigt, als die schwarzen Augen schier aus den Höhlen quollen und die Kehle des Mannes sich wild bewegte. Und nicht nur das. Ein kurzer prüfender Blick gegen den Harry nichts tun konnte, er hatte schon geguckt, bevor er es merkte, zeigte, dass die Lederhose – nun ja – die Vorkommnisse weiter oben spiegelte. Er fühlte sich erleichtert. Ein wenig, als ob er schwebe. Schön. Und gefährlich. Genau so, wie er es liebte. Oder geliebt hatte. Niemals hätte er geglaubt, schon so bald wieder – aber nein, jetzt war nicht die Zeit für weiteres Denken. Absolut nicht. Sein Körper zeigte den Weg in eine bestimmte Richtung ganz eindeutig. Und Harry folgte.
Er hielt den Blick der schwarzen Augen, während er auf Severus zuging. Langsam, ganz langsam. Irgendwie hatte er Angst, dass der Mann immer noch weglaufen könnte. Wenn er ihn zu sehr erschreckte. Also besser nicht zu schnell bewegen. Außerdem machte Verzögerung den süßen Schmerz noch schöner. Einen Moment hatte Harry die Sorge, dass er auf die frisch gebügelte Wäsche tropfen könnte und dass Severus dann ziemlich sauer auf ihn sein würde. Aber nein. Severus schien nicht mehr an Wäsche interessiert zu sein, als beispielsweise er selbst. Seine Kehle bewegte sich wie verrückt und seine schwarzen Augen schienen zu glühen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. Bemitleidenswert, eigentlich. Aber Harry fühlte sich gar nicht zu Mitleid aufgelegt.
Jetzt stand er in gerade noch dezenter Entfernung vor Snape. Nein, ein Mann mit solchen Augen war nicht bemitleidenswert. Harry fühlte für einen Moment wieder Unsicherheit und Mitleid mit sich selbst. Vielleicht wollte Snape ihn nur demütigen. Vielleicht hatte er die Zeichen falsch gedeutet. Vielleicht war Snape erregt, wollte aber nicht handeln. Vielleicht ...
"Tust du immer das Gegenteil von dem, was man von dir erwartet?" die seidenweiche Stimme lief Harry den Rücken hinauf und hinunter. Er musste grinsen. Noch niemals im Leben hatte er sich freiwillig so ausgeliefert. Und er hatte sich noch nie so frei gefühlt. "Eigentlich nicht", sagte er und überlegte, als wenn es eine richtige Frage gewesen wäre, und nicht nur eine rhetorische. "Nur wenn ich den Eindruck habe, dass das, was man von mir erwartet, nicht das ist, was man von mir will." Nun, das war leichtsinnig von ihm gewesen, aber sei's drum.
"In der Tat", sagte Snape und ein winzig kleines Grinsen erschien in seinem linken Mundwinkel. Harry spürte, wie es auf ihn übersprang, unwiderstehlich. "Ja genau, in der Tat", bestätigte er. "Und außerdem bin ich spontan – ich tue auch mal das Gegenteil von dem, was ich dachte, dass ich eigentlich wollte." "Soso", sagte Snape und Harry hatte den Eindruck, als käme dieses Lächeln näher und näher, werde stärker und stärker. Er fühlte sich schwanken, und es würde nicht mehr lange dauern, bis er gegen Severus fiel. Schwanz zuerst. Nun, sei's drum. Harrys Grinsen wurde breiter. Es sah jetzt nicht mehr so aus, als hätte Snape daran etwas auszusetzen. Sein Blick war etwas zu starr auf sein Gesicht gerichtet, als müsse Snape ihn beherrschen, woanders hinzugleiten. "Und was wolltest du eigentlich?", fragte Snape.
"Fernbleiben". Harry überlegte nicht lange. Es hatte keinen Sinn, hier etwas anzufangen, wenn er sich nicht offen zeigte. Nicht nur äußerlich. "Ich wollte nur ein Dach über dem Kopf. Ich wollte keine Komplikationen. Ich - bringe nicht gerade Glück." Das war die Untertreibung des Jahres. Snapes Augenbraue ging hoch. "Soso. Kein Glück." Die schwarzen Augen leuchteten auf und der große Kopf stieß auf Harry hinab wie ein Adler. "Wie gut, dass ich nicht an Glück glaube." "In der Tat", sagte Harry, und tat das, was er schon seit längerem wollte: Er sprang aus dem Stand hoch und schlang seine kräftigen Beine um die Hüften des anderen Mannes. Der schwankte und wankte, fiel aber nicht. Jedenfalls nicht sofort.
