VIII.
"Hi", sagte Harry. Seine Stimme klang gar nicht so schlecht, dachte er, dafür, dass er kaum Luft bekam. Aber dafür, dass er sich seine Rede stundenlang zurechtgelegt hatte, war "Hi" gerade mal ein Anfang, und kein besonders brillanter. Nun ja. Severus mochte ihn, wenn er ihn überhaupt noch mochte, sicher nicht wegen seiner intellektuellen Möglichkeiten. Harry nahm ihm das nicht übel. Er fand sich selbst auch nicht gerade superintelligent, noch weniger seit der letzten Nacht. Und er konnte sich auch nicht erinnern, dass ihn schon mal jemand für brillant erklärt hatte. Nun, zumindest nicht sein Hirn. Das jetzt wieder ablenkte.
Harry sah auf und Snape an. Oh verdammt! Wie sollten einem auch Worte einfallen, bei diesem Anblick? Bei den in die hohe Stirn fallenden schwarzen Haarsträhnen? Bei diesen schwarzen Augen, die ihn gleichzeitig zu durchbohren schienen und undurchdringlich wie ein tiefer Waldsee waren? Bei diesem Mund, dessen Lippen fest aufeinander gepresst waren, sich nun aber lösten, als wolle der Inhaber seine Anspannung bewusst verringern und seine Zähne schützen? Bei diesem Körper, verborgen unter schwarzem Hemd und Jeans diesmal, hinter dem Bügelbrett, in der gleichen Stellung wie gestern, ehe sie zu anderen, viel unterhaltsameren Stellungen übergegangen waren. Ja, verdammt, wer sollte da schon denken können? Sein Gehirn erlebte gerade die Wiederkehr der gestrigen Nacht, in Technicolor und mit Ton, nur dadurch, dass er hier stand – und das nun auch schon in mehr als einer Beziehung -, und Severus ansah, da konnte er sich nicht an so nebensächliche Dinge wie die vernünftige Rede erinnern, die er doch geprobt hatte.
"Äh", sagte Harry, und wurde rot. Verdammt, als er mit Hagrid gesprochen hatte, war das alles einfacher erschienen. Aber Hagrids freundliches Gesicht war auch etwas ganz anderes als das, das er jetzt vor sich sah, und bei dem schon ein Heben dieser Augenbraue ausreichte, ihn zum Zittern zu bringen. Diese Augenbraue, die sich jetzt hochschwang, in einem anmutigen Bogen, der sicher jahrelang an einer Schauspielschule gelehrt wurde. Snape konnte das einfach so. Hm. Vielleicht auch nicht. Was wusste er eigentlich über den Mann?
Nun zumindest, dass er die Wäsche all seiner Gäste machte. Was diese geschmacklose weiß-grün gestreifte Unterhose von Draco erklärte. Harry war sich wirklich selten doof vorgekommen, als Hagrid es ihm erzählt hatte. Nicht dass Harry ihn direkt gefragt hatte, natürlich nicht. Ihm war jetzt noch nicht ganz klar, was Hagrid eigentlich von ihm gewollt hatte, als er sich neben ihn gesetzt hatte. Hagrid hatte ihn mit seinen freundlichen braunen Augen angeguckt, und Harry fühlte sich genötigt, im sein Herz auszuschütten. Beinahe. Er tat es natürlich nicht. Er hatte so etwas schon lange nicht mehr getan. Aber Hagrid brachte ganz allein die Rede auf Severus. Was er für ein toller Mann war, und wie viel er für das Heim und die Leute tat. Dass er böser wirkte als er war, rauhe Schale, weicher Kern, haha.
Harry hatte diesen Allgemeinplatz so hingenommen, Hagrid war wirklich nicht der Schlauste, aber herzensgut, wie man so sagte, wo er gerade bei Allgemeinplätzen war. Und es erschien ihm beinahe wie Zauberei, dass Rubeus genau den Mann angesprochen hatte, der ihn am meisten interessierte. Und die Frage beantwortet hatte, die Harry sich nicht zu stellen traute.
Danach kam er sich natürlich wie ein Vollidiot vor. Und jetzt war das genau so. Harry sah auf, und merkte erst dadurch, dass er den Blick abgewandt hatte. Die schwarzen Augen sahen immer noch unbewegt aus, aber war da nicht ein weicher Zug um den Mund? Harry hoffte es mal und stürzte sich kopfüber hinein. Untergehen oder schwimmen, jetzt galt es, aber nicht am Beckenrand verhungern.
"Es tut mir leid", begann er, und nun überschlugen sich die Worte förmlich. "Ich bin ein Idiot." Kein Widerspruch. Harry hatte auch keinen erwartet. "Ich dachte, Dracos Unterhosen sind hier, weil ihr – was miteinander habt". Die schwarzen Augen wurden aufgerissen. "Es tut mir leid." Harry senkte wieder den Kopf. Nun –das war nicht alles. Aber alles, was er jetzt sagen wollte. Er konnte nicht alles erzählen, das würde nur noch mehr Ärger geben. Und er wünschte sich so sehr eine Neuauflage der vergangenen Nacht, so sehr. Es war wahre Folter gewesen, Severus den ganzen Tag zu sehen, das verschlossene, gekränkte Gesicht zu sehen und sich dabei doof zu fühlen. Doof, wütend und sehnsüchtig. Zunehmend doof und sehnsüchtig, weniger wütend. Erst wieder wütend auf sich selbst, nach Hagrids Erklärung.
Harry sah wieder auf. "Ist das alles?", sagte die tiefe leise Stimme, die sich um ihn legte wie eine dunkle warme Schokoladensoße in der er immer baden wollte. Die Soße wurde fest um ihn, Harry bewegte sich unbehaglich. Und sah wieder in diese Augen. Nein, dieser Mann würde sich nicht mit Ausreden zufrieden geben, niemals, er wollte die Wahrheit, immer.
Eine lange Weile sahen sie sich einfach nur an, Harry hatte das Gefühl zu ertrinken, aber auf angenehme Art. Dann kam er wieder hoch und hatte das Gefühl, dass etwas Wichtiges geschehen war. Wenn er überhaupt eine Chance haben wollte bei Severus, dann durfte er ihn nicht anlügen. Er hatte das Gefühl, mit ihm schon so viel erlebt zu haben, jetzt in diesen wenigen Minuten des Anstarrens waren alle möglichen Bilder in ihm aufgetaucht - sie beide zusammen, bei Dingen, die er in diesem Leben sicher noch nicht erlebt hatte. Es ängstigte ihn, aber es war auch aufregend. Und gab ihm das Vertrauen zu diesem Mann, den er doch erst seit so kurzem kannte.
"Nein", sagte er und hielt den Blick der schwarzen Augen. "Das ist nicht alles." Snape nickte, nur so, ohne Urteil, so erschien es Harry, er fand nur seine Meinung bestätigt. Harry empfand einen neuen Schub seiner Gefühle in Severus' Richtung. "Der Name Malfoy löst in mir so etwas wie Panik aus." Seine Stimme brach und mehr konnte er jetzt einfach nicht sagen.
Die schwarzen Augen zwinkerten. Schweigen, langes Schweigen, während Harry sich fühlte wie unter einen Scanner gelegt. Wie bei der Untersuchung, die er über sich ergehen lassen musste, bevor er anheuerte. In eine Röhre geschoben, die dann irgendwie sein Innenleben zeigte. Genau so.
"Bei mir auch", sagte die Stimme und Harry schrak zusammen. Er hatte schon gar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet, jedenfalls nicht mit Worten, ihre Augen hatten sich schon wieder sehr gut miteinander unterhalten, und auch ihre Körper schienen aufeinander zuzustreben. Wer brauchte da Worte? Worte machten so viel kaputt. War es wichtig, wirklich wichtig, jetzt die Geschichte aufzurollen? Es würden Erklärungen dabei sein, sicherlich, aber waren Erklärungen wirklich nötig? Er wollte schon wissen, was Severus mit Malfoy verband, wen von dieser Familie er noch kannte, aber im Moment stand ihm sein Interesse eher nach anderen Dingen. Nach Bestätigung. Bestätigung einer Verbindung, die er in jeder Pore fühlte. Nach Wärme. Und wilden willenlosen Sex.
Harry leckte sich die Lippen. Severus' Augen zwinkerten. Er räusperte sich. Harry starrte gebannt auf seinen Hals. Diesmal konnte er den weichen weißen wunderbaren Hals sehen, das schwarze Hemd war offen, die obersten zwei Knöpfe, nichts Peinliches, aber sehr verlockend.
"Mein Zimmer, jetzt", sagte Snape und seine Stimme klang ungeheuer rauh und verführerisch und Harry fühlte den Boden unter seinen Füßen verschwinden und alles Blut in eine Körperregion jagen. Er schwankte leicht und ein langer Arm schoss vor und hielt ihn fest. Harry blinzelte. "Ja".
Er fiel förmlich an die Brust des anderen Mannes und stöhnte auf. Es fühlte sich an wie Heimkommen, nach einem lang ersehnten Ort, einer Heimat, auf die er sein Leben lang gewartet hatte, eine Heimat, die noch dazu ungeheuer erotisch war. Zimmer? Wer brauchte ein anderes Zimmer? War dieses nicht gut genug?
Er sah seinen Fingern zu, die die verbliebenen Knöpfe an Severus' Hemd, aufmachten, eilig, hektisch, zitternd, und er fluchte. Er stöhnte, als es seinen Fingern gelang, unter das Hemd zu kommen, auf nackte Haut und sich überall, wo sie himkamen, Gänsehaut ausbreitete. Er stöhnte wieder und musste einfach die weiße Brust küssen. So lange her, so lange.
Er sah auf und das weiße Gesicht von Snape hatte hektische rote Flecken bekommen. Die Lippen öffneten sich und Harry reckte sich, drängend, erwartungsvoll, ungeduldig. Eine Zunge kam vor, und er sabberte beinahe.
"Nein", sagte Snape, und obwohl die Stimme schwach war, wusste Harry, dass er es ernst meinte. "Nicht hier. Nicht schon wieder. Ich weiss dein jugendliches Ungestüm zu schätzen und fühle mich durchaus geschmeichelt, aber nicht noch eine Nacht auf dem Boden."
Harry strahlte, Snape hatte gesagt, dass er noch eine Nacht mit ihm verbringen wollte. Zumindest eine. Er keuchte unter dem Blick, der so vieles versprach - wo war sein Atem hin? – und zwang sich, stehen zu bleiben, in einer Entfernung von dem andern Mann, in der er sicher war. Relativ.
Eine große heiße Hand legte sich um seine, ein Daumen streichelte seine Innenfläche und er zitterte noch mehr, die Hand ergriff seine und drückte sie, ebenso drängend, eilig, wie er sich fühlte. "Komm", flüsterte Snape und öffnete die Tür.
