X.

Harry konnte es kaum abwarten, Severus wieder zu sehen. Er hatte noch nie einen so langen Tag gehabt. Nein, er würde ihn nicht suchen gehen, sagte er sich ungefähr alle fünf Minuten. Er würde arbeiten, so würde es Severus auch wollen. Er war da ganz deutlich gewesen. Und doch. Der Tag war so lang. Und Harry hatte jede Menge Zeit, sich Gedanken zu machen. Nun, das war nicht ganz richtig. Gedanken hatten jede Menge Zeit, ihn zu quälen. Mit Bildern aus der Vergangenheit. Mit Ängsten. Mit komplett hirnrissigen Ideen. Und mit jede Menge Sorgen. Wollte Severus ihn wirklich? Und wollte er ihn? Hm. So viel war klar: Aber konnte es gut gehen? Was wussten sie schon voneinander? Was würde Severus von ihm denken, wenn er von seiner Vergangenheit erfuhr? Was nicht mehr lange dauern konnte. Nicht jetzt, wo er wusste, dass ein Malfoy hier war. Harrys Gesicht verzerrte sich. Er sollte es Severus selber sagen. Bevor es herauskam. Severus Snape war ein harter Mann. Er vertraute niemand. Nicht einmal ihm, Harry. Und er hatte Recht.

Harrys Tag war lang. Flucht nach vorn, Selbstverteidigung, Zweifel. Zukunft, ein grauenvolles Wort. Und dennoch voller Verheißung. Gerade jetzt. Und gleich wieder – Zweifel. Er war nicht für das Landleben geboren, er wusste das, nicht für ein ruhiges an einem Ort. Aber wo sollte er hin? Würde er je wieder auf ein Schiff kommen? Würde ihn nach seiner Geschichte jemals wieder jemand nehmen? Und würde Severus mitkommen? Er hatte keine Ahnung, was der früher getan hatte. Sicher war auch er zur See gefahren, er musste einfach. Aber würde er das wieder tun wollen? Harry konnte sich Snape nicht unter einem Oberbefehl vorstellen, oh nein, niemals. Und Geld konnte er auch nicht haben, sonst müsste er nicht dieses Heim führen und anderen Leuten die Unterwäsche waschen. Harrys Gesicht verzerrte sich wieder. Severus sollte das nicht tun müssen. Er war für Größeres geboren und Harry hätte ihm zu gern die Möglichkeit dazu gegeben. Er schüttelte den Kopf, als er seine Gedanken durchschaute. Er befand sich mal wieder in seinem persönlichen Märchen. Harry Potter - der Retter der Enterbten. Und besonders eines geliebten Mannes. Er war ein Idiot. Er wusste doch nicht mal, ob Snape gerettet werden wollte. Noch dazu von ihm.

Gut. Nach dem, wie die Leute reagierten, war es wohl nicht gerade üblich für Snape, mit irgend jemand etwas anzufangen, auch wenn genügend Anwärter da waren. Harry verzog wieder den Mund. Wenn dieser Draco Severus noch mal so ansah, würde er es bereuen. Es war höchste Zeit, dass Harry zu Snape stand. Vor allen.

Doch würde Snape das wollen? Und wenn er nicht zur See fahren wollte, würde er auf ihn warten? Hier im Hafen? Und würde Harry die lange Trennung aushalten?

An diesem Punkt angekommen, riss Harry sich endlich zusammen und konzentrierte sich vollkommen auf das schwierige Geschäft, den Kartoffelpampf mit roter Beete zu färben. Ungelegte Eier. Mal wieder war er seiner Zeit weit voraus, und das war überhaupt nicht positiv.

Er ertrug das Abendessen getrennt von Severus ganz gut, bis er dieses Grinsen sah. Dieses Grinsen, das sagte – nun jede Menge. Es rief jede Menge Gedanken, Bilder und Ideen in ihm hervor, und diese Bilder wollte er gern weiter verfolgen. Live und in Farbe. Bald.

Als endlich alle verschwunden waren – derjenige, den er Stunden länger hätte anschauen können, ging natürlich als erster -, räumte Harry schnell auf und wusch ab, dann machte er sich auf den Weg zu Severus. Er hatte jetzt lang genug gewartet, den ganzen verdammten Tag. Mehr konnte man von einem jungen Mann nicht verlangen, gar erwarten.

Vor der Tür zu dem sattsam bekannten Zimmer blieb er stehen. Sein Eifer hatte ihn ganz allein hierher getragen, nun setzte wieder sein Kopf ein. Warum rannte eigentlich immer er Severus hinterher? Hatte er keinen Stolz? Nicht mehr viel, stellte er fest. Stolz war hier jetzt überhaupt nicht das Problem, zumindest nicht seines. Aber wollte Severus ihn wirklich? Immerhin hatte er ihn den ganzen Tag nicht gesehen. Vielleicht hatte er nur seine Lust an ihm gestillt und war nun – gesättigt. Harry grinste. Nein, das glaubte er eigentlich nicht. Er hob seine Hand, neu entschlossen, und wollte klopfen. Da erstarrte er. Dies Geräusch, er kannte dies Geräusch.

Tack tack tack. Wie in seinen Alpträumen. Tack tack tack. Das Geräusch, das Angstschweiß bei ihm auslöste, das Geräusch, das Träume einleitete, aus denen er schreiend erwachte. Aber das konnte doch nicht sein. Er schlief nicht, also konnte er auch nicht träumen.

Tack tack tack. Harry drehte sich um. Es war kein Traum. Auch wenn es ein Alptraum war. Er war hier. Er. War. Hier.

„Mr. Potter. Welche Freude, Sie gefunden zu haben", sagte eine Stimme, die klang wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzen. Oder über Autolack, Harry wollte sich da nicht festlegen. Die Stimme seiner Alpträume. Und sie war real. Sie kam aus einem Mann, der auch genau so aussah, wie in seinen Alpträumen. Oh Gott.

„Mr. Malfoy", sagte er und er wusste, dass es schwach klang, aber er fühlte sich noch viel schwächer als seine Stimme klang.

Der Mann sah so aus wie in seiner Erinnerung. Wie der Teufel, wenn es den denn gab. Ein gut aussehender Teufel, gewiss, was ihn nur noch gefährlicher machte. Nicht dass Lucius Malfoy einen auch nur einen Moment mit seinem Aussehen über seine Teuflischkeit hinwegtäuschen konnte. Oder wollte. Nein, man konnte über ihn sagen, was man wollte: Lucius Malfoy hatte keine Hemmungen zu zeigen, wie er war. Jedem, der es wissen wollte. Jedem, der es nicht wissen wollte.

Er kam näher. Mit dem Geräusch, das Harry in seine Träume verfolgt hatte. Tack tack tack. Harry konnte nicht anders, er musste auf den Boden sehen. Auf den Boden, aus dem die Prothese an Lucius' linkem Bein solche Geräusche hervorholte. Eine altmodische Prothese, nichts, was einem Bein auch nur im Entferntesten ähnlich sah. Ein schwarzer Stock, in Silber eingefasst, auslaufend in einer silbernen Kugel. Gespiegelt wurde diese Prothese durch den Stock, auf den sich Malfoy stützte. Schwarz und silbern. Schwarze glänzende Kniehosen, in denen jeder andere ausgesehen hätte, als wollte er auf ein Faschingsfest, bei Lucius Malfoy sah es – passend - aus. Angemessen. Und die Hose betonte, wie gut geformt das verbliebene rechte Bein war.

Eine brokatene Weste unter einer schwarzseidenen Jacke über einem seidenen Hemd. Und die Haare. Lange seidig-weiche silberblonde Haare, die in bestechendem Kontrast über die schwarzen Schultern fielen. Und die Augen. Diese abnorm hellen Augen, die jede Regung Harrys verfolgten. Harry schluckte und sah, wie sich kleine Fältchen um die Augen und den brutalen Mund bildeten. Er schluckte wieder. Lucius zeigte das, was bei ihm für ein Lächeln durchging. Kein gutes Zeichen.

„Mr. Potter". Die Stimme war leise, aber durchdringend, hypnotisch, sie konnte sicher Butter zerschneiden. Harte Butter. Die seidigen Haare hüllten Harry ein, er kämpfte gegen den Drang, die Augen zu schließen. „Sie haben mich enttäuscht."

Harry versuchte, dem hypnotischen Klang der Stimme und dem ebenso bezwingenden Starren der eiskalten Augen etwas entgegenzusetzen. Wenn er auch nicht genau wusste, was. Das Schlimme war, er wusste, dass Lucius guten Grund hatte, enttäuscht zu sein. Er war es ja auch. Mindestens.

„Das tut mir leid", sagte er. Es sollte sarkastisch klingen, aber es war nur ein Krächzen. Harry war geschockt. War das seine Stimme gewesen? Musste wohl. Lucius würden nie so klingen. Und sonst war niemand da. Sie waren allein auf dem Flur, dem langen dunklen Gang. Harry merkte, dass er zitterte.

Ein schnarrendes Geräusch. Harry zwang sich, stehen zu bleiben, nicht zu Boden zu sinken, hilflos wie ein kleines Kind. Lucius lachte. Und schien noch näher zu kommen, er konnte seine Körperwärme spüren. Harry stand mit dem Rücken zur Wand. Fast fühlte er schon Lucius' Hand, die schwarz behandschuhte Hand um seinen Hals. Lucius würde zupressen, er würde sich nicht wehren können und dann ... Und dann –würde Severus ihn finden – tot vor seiner Tür. Harry schluckte trocken.

Die Wand hinter Harrys Rücken öffnete sich. „Lucius", sagte Severus Snape mit einer Stimme, die Harry noch nicht an ihm kannte. „Von allen Seemannsheimen der Welt kommst du ausgerechnet in meins?"