XI.

Lucius hatte sich nicht verändert, dachte Severus. Abgesehen von dem Bein, das er verloren hatte, war er immer noch derselbe arrogante, schmerzhaft schöne Bastard wie in der Vergangenheit. Einer Vergangenheit, von der er gewusst hatte, dass er sich ihr irgendwann stellen musste. Aber er hätte sehr viel darum gegeben, wenn es nicht jetzt gewesen wäre. Und nicht hier.

Severus zwang sich, seinen Blick von dem mesmerisierenden Gesicht, über das der Hauch von Triumph nur kurz gezogen war, abzuwenden. Harry! Die grünen Augen riesig hinter der albernen Brille, sah er pathetisch jung und hilflos aus. Er schien sich kaum auf den Füßen halten zu können. Severus widerstand dem Drang, ihn festzuhalten. Ganz fest. Das ging nicht. der Junge musste hier weg, bevor es losging, das unvermeidliche geschah. Der Junge musste weg, er hatte nichts damit zu tun.

Severus verspürte einen Hauch von Bedauern darüber, dass es so schnell vorbei war, was auch immer es gewesen war. Er hatte es ja geahnt, nein gewusst, dass etwas so Schönes nicht lange halten konnte. Was er nicht geahnt hatte, war, wieso es enden würde. Er hatte wirklich geglaubt, Lucius sei für immer aus seinem Leben verschwunden. Ein bitteres Grunzen entrang sich seiner Kehle, etwas, was wohl ein Lachen sein mochte. Das Leben war hart aber gerecht, und er hatte es immer gewusst. Träume waren Schäume und Hoffnungen waren was für Träumer. Er war keiner. Nie gewesen.

„Severus", sagte die Stimme, die er lange in seinen Träumen gehört und die immer eine gewisse Wirkung auf ihn gehabt hatte, eine körperliche. Die Stimme klang seidig weich, aber mit einem harten Unterton, etwas das Bilder vom Kratzen von Fingernägeln auf einer staubigen metallenen Oberfläche beschwor. Severus schluckte und verengte seine Augen. Sein Körper straffte sich. Er war auf alles gefasst. Angriff oder Verteidigung. Aber der Junge musste weg.

„Wie nett von dir, auch zur Party zu kommen". Lucius hatte sich ihm jetzt zugewandt. Das Licht aus der offenen Tür schien direkt auf das flächige weiße Gesicht. Es musste wahr sein, der Bastard war mit dem Teufel im Bunde. Er sah keinen Tag älter aus als an dem Tag vor 20 Jahren als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Severus' Augen glitten wie von selbst über den Körper unterhalb des Gesichts. Etwas stärker, etwas kräftiger, das ja, aber nicht mit dem für geringere Sterbliche anscheinend unvermeidlichen Zuwachs an schwabbliger Masse. Lucius sah trotz des fehlenden Beins, das aber nicht mal fehlte - er wirkte als sei es gar nicht möglich, nicht nötig, zwei Beine zu haben, nicht für einen Lucius Malfoy -, perfekt aus. Nichts, das man sich anders gewünscht hätte, ja überhaupt nur anders denken konnte.

Severus schüttelte den Kopf. Und anscheinend hatte er immer noch mehr Kräfte, andere Leute durch einen bloßen Blick zu beeinflussen, ihnen seinen Willen aufzuzwingen, als mit rechten Dingen zugehen konnte. Er hasste diesen Mann, seit 20 Jahren hasste er ihn.

Wieder sah er auf den kraftlos an der Wand lehnenden Harry. Scheinbar mitleidlos nahmen seine Augen wahr, wie hilflos der Junge war, wie unscheinbar er wirkte, wie lächerlich jung und kindlich neben Lucius, dem strahlenden bösen Lucius, der alle neben sich verblassen und in den Schatten versinken ließ. Severus verspürte so etwas wie Scham. Er hatte mit Harry die besten Nächte seines Lebens verbracht, und nun waren seine Augen sofort bereit, fremd zu gehen. Ihn zu leugnen? Die Verbindung zu leugnen?

Scheiß auf die Augen, dachte er grob und brachte sich damit wieder zur Besinnung. Es ist eh vorbei und alles was ich für den Jungen tun kann, ist ihn hier herauszubringen, bevor der Kampf losgeht.

„Lucius", wiederholte er, mit einer noch leiseren Stimme und konzentrierte sich ganz auf den Blonden, der ihn anstrahlte wie einen lange verlorenen und wiedergefundenen Liebhaber. Etwas in Snapes Kopf lachte höhnisch. Dennoch spürte er die Anwesenheit Harrys, und die Verantwortung für ihn. Das hier war sein Haus, und Lucius mochte die ganze Welt und die ganze Flotte besitzen, zu Wasser und zu Lande der Herr sein, dieses Haus gehörte ihm. Er war verantwortlich.

Er ließ seinen Blick in der lange geübten Weise, die er in den letzten Tagen etwas vernachlässigt hatte, von Lucius über Harry schweifen. Ein verächtliches Nicken folgte schon beinahe wieder automatisch. „Da du schon mal da bist, werden wir wohl reden müssen, Lucius. Aber zunächst sollten wir doch wohl unbeteiligte Kinder entfernen." Er schoss Harry einen tiefen Blick hinterher. Das fehlte noch, dass der Junge jetzt heldenhafte Anwandlungen zeigte. Er sah im Moment nicht so aus, aber in den wenigen Tagen, in denen er ihn gekannt hatte, war Harry ein Muster an Eigensinn gewesen. Wenn Snape zum Beten geneigt und jemand gekannt hätte, an den er eine Bitte hätte richten wollen, hätte er es jetzt getan, damit der Junge nicht gerade jetzt aus seinem von Lucius hervorgerufenen Koma erwachte und zum üblichen Starrsinn zurückkehrte.

Er hätte es besser wissen müssen.

Lucius hob eine Augenbraue auf eine Weise, die selbst Snape, der umgeschlagene Meister auf diesem Gebiet, neidlos anerkennen musste. Lucius schlug Kapital aus seinen vom Teufel gegebenen Möglichkeiten, das musste man ihm lassen.

„Du irrst, Severus", kam jetzt die geschliffene Stimme aus dem arroganten Mund. Die blonden Haare wehten, so fein waren sie, als Lucius Snape seine aristokratische Nase im Profil zeigte, weil er Harry anstarrte. „Natürlich werde ich mich auch gern um dich kümmern, wenn du darauf bestehst. Aber du bist nicht der Grund meines Kommens."

Snape merkte, wie es in seinem Brustkorb ganz komisch brannte. Fühlte sich so ein Herzinfarkt an. Lucius konnte doch nicht meinen ...? Er sah auf den blonden Mann, der den schwarzhaarigen Jungen anstarrte. Niederstarrte, wenn man den wackligen Beinen Harrys, der sich immer mehr dem Boden näherte, glauben wollte. Nein, er konnte das nicht meinen.

„Sei nicht albern, Lucius". Irgendwo holte er seine Stimme her. Es war immer seine Stärke gewesen, unbeteiligt zu klingen. „Was kannst du denn mit diesem Kind zu schaffen haben?" Irgendwo krähte ein Hahn, dreimal, Severus schnaubte. Mit liturgischen Dingen konnte er sich jetzt nicht aufhalten.

Die aristokratische Nase kräuselte sich, ob in Amüsement oder in Verachtung oder wegen eines üblen Geruchs konnte Severus nicht sagen. Lucius wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihm zu. Seine farblosen Augen strahlten in bösartigem Vergnügen, sein Mund zuckte. Severus hatte vergessen gehabt, dass dieses Gesicht eine Waffe war, ein Laserstrahl, der alles, auf das er sich richtete, zerschneiden konnte. Er merkte ,wie sich sein eigener Mund in verächtlicher Anerkennung der Macht des anderen verzog. Der verdammte Bastard war gut in seiner Boshaftigkeit, seine Fähigkeiten schienen perfektioniert. Kein Wunder, er hatte ja genug Zeit gehabt.

„Du bist ein furchtbarer Lügner, Snape", sagte Lucius mit einem Grinsen, das Glas schneiden konnte. „Ich müsste mich schon sehr in dir getäuscht haben, wenn du nicht schon selber bemerkt hättest, dass dieser – Junge – alles andere als ein Junge im Sinne von kindlich ist." Lucius Malfoy sah wieder amüsiert auf Harry, dann zurück zu Snape. „Oder du müsstest dich sehr verändert haben". Ein abschätziger Blick, der Snapes ganzen Körper umfasste, und bis tief in seine Innereien zu reichen schien. „Und ich glaube weder das eine noch das andere." Wieder ein Blick auf Harry, ein wenig nachdenklich, gelangweilt. „Und unbeteiligt trifft es auch nicht ganz. Du verlierst deinen Touch, Snape".

Severus zügelte sich. Lange Übung ermöglichte es ihm, auch mit einem Chaos von Gedanken und Gefühlen äußerlich völlig ruhig zu wirken. Er befeuchtete seinen Gaumen, indem er langsam den Mund öffnete. Ein paar Tricks hatte er auch auf Lager. „Möchtest du mit all dem auch etwas sagen, Lucius?", fragte er. „Oder bewegst du nur die Luft und hörst dich selbst gern reden?"

Oh ja, die Eitelkeit des Mannes war noch immer angreifbar. Ein äußerst häßlicher Schatten verzerrte das schöne Gesicht. Er war sofort verflogen, die übliche Arroganz nistete wieder in jedem Winkel. „Um es dir zu buchstabieren, Severus, da du es ja sonst nicht zu kapieren scheinst." Doch doch, die Redeweise hatte deutlich unter seinem Angriff gelitten. „Dieses – Kind – ist weder Kind noch unbeteiligt".

Wieder der Blick zu Harry. Snape konnte nicht anders, und folgte Lucius Blick. Der Junge wand sich wie eine hypnotisierte Schlange unter den kalten grauen Augen. Immerhin kauerte e nicht mehr, er hatte sich irgendwann zu seiner vollen, nicht gerade spektakulären Größe erhoben.

Dann zerschnitten die Augen wieder Severus' Gesicht. Dem war es Recht. Besser er als Harry. Seinem Gesicht konnte das nichts mehr schaden.

„Du beherbergst einen Verbrecher, Severus", sagte Lucius. Arrogant, höhnisch, siegesgewiß. Severus' Mundwinkel verzog sich. Dieser Spinner. Ausgerechnet er sprach von Verbrechen. „Harry Potter ist ein entflohener Mörder, Severus, und ich werde ihn jetzt mitnehmen und seiner Bestrafung zuführen."

Ja, Severus fühlte sich getroffen. Getroffen und bereit zurückzuschlagen. Er war nicht so brutal wie der andere Mann, und nicht eigentlich gewalttätig, jedenfalls schon lange nicht mehr, aber auch er hatte sich fit gehalten und sicher könnte er den Mann, der nur auf einem Bein, einer Krücke und einer Prothese stand, niederringen, so dass Harry fliehen konnte? Doch, bestimmt. Er straffte seinen Körper.

Ein Zupfen an seinem Hemd hielt ihn zurück. „Es ist wahr, Severus. Es tut mir leid."

Langsam drehte Snape sich um und starrte den Jungen an. Bittend, um Verzeihung heischend, stolz, ins Schicksal ergeben, trotzig – all dies und mehr war in den grünen Augen.

Severus konnte nur starren. Alle Kraft zu reden, zu handeln, hatte ihn verlassen. Er konnte nur zulassen, dass Harry ihn lange ansah, wie lange konnte er nicht sagen, und dann in Richtung Lucius ging. Er konnte mit den Augen der kleinen aufrechten Gestalt folgen, die sich nun scheinbar angstfrei vor der ungleich größeren und eindrucksvolleren aufbaute.

„Ich bin bereit, Lucius", hörte Snape die klare Stimme von Harry. „Du kannst mich mitnehmen, aber lass Severus in Ruhe."