XII.

Harry wusste nicht, wie lange er in Erstarrung verharrt war. Er wusste auch nicht, was ihn daraus geweckt hatte. Für lange lange Zeit hatte es nur Lucius Malfoy in seinem Gesichtsfeld gegeben, Lucius, der ihn umbringen würde, ganz sicher. Und dann ...

Severus hatte ihn gerettet. Nun, nicht für lange, denn nun würde es ans Bezahlen gehen. Er, Harry Potter musste für seine Sünden zahlen und er war bereit dazu. Nun ja. Er hätte sich gerade jetzt Besseres vorstellen können. Doch. Er vermied einen erneuten Blick auf Severus. Aber wenigstens aus dieser peinlichen Duldungsstarre, in der er Lucius anglotzte wie ein Kaninchen die Schlange, war er nun aufgewacht. Er konnte auf eigenen Füßen zum Schafott laufen.

Er musste nur noch Severus hier raushalten ...

Harry richtete seine Augen starr auf Lucius und trat einen Schritt vor. Es lag etwas in der Luft. Mist, er schaffte es nicht. Er musste Severus noch mal ansehen, bevor er nur noch diese grauen Augen sah.

Schwärze. Tiefe Schwärze. Nichts war darin zu sehen, nicht mit den Augen. Aber irgendwie wusste Harry, dass es nicht klappen würde. Severus würde sich nicht so einfach beiseite schieben lassen. Nun ja. Es war ein Versuch gewesen.

Er tauchte wieder aus den schwarzen Augen auf. Sie waren nicht allein. Sie würden überhaupt nie wieder zusammen sein, von allein ganz zu schweigen.

Ein Schnarren. „Rührend, Potter", diese Stimme konnte einen Eisblock von der Größe der Antarktis schneiden. „Rührend?", fiel eine andere Stimme ein, die Harry schon in kurzer Zeit sehr gut kennengelernt hatte, so hoch und beinahe schrill hatte er sie allerdings noch nie gehört, „idiotisch. Völlig idiotisch. Verschwinde jetzt, Potter, und lass die Erwachsenen machen."

Harry sah Snape an. Die linke Hand des Mannes krampfte sich an seiner Seite zusammen, dann öffneten sich die Finger wieder und streckten sich, wie um zu verhindern, dass sie sich um seine Kehle legten. Oder um Lucius'. Harry war gleichzeitig gerührt und gekränkt. Und ein wenig ärgerlich. Wie konnte ausgerechnet Severus ihn wie ein Kind behandeln? Und was, verdammt noch mal, hatte er mit Malfoy zu tun? Reichte es nicht, dass er die Unterhosen seines vermaledeiten Sohnes bügelte? Er blitzte den Herbergsvater an. Der sah starr zurück, ohne mit der Augenbraue zu zucken. Still und starr. Und sehr schwarz. Harry war der erste, der den Blick abwandte.

Wieder ein Schnarren. „Ich bleibe bei rührend". Lucius Malfoy trat zwischen Harry und Severus, die beide automatisch einen Schritt zurück taten. Die eiskalten Augen glitten über Harry, dann über Severus, und wieder zurück. Harry schauderte. So wenig Leben, abgesehen von einer eiskalten Freude, die irgendwie aus einer anderen Galaxie zu stammen schien, hatte er noch nie in irgendwelchen Augen gesehen. Sie ruhten auf ihm, aber Lucius sprach zu Severus. „Severus, alter Freund", begann er und Harry konnte Severus' Gesicht nicht sehen, um seine Reaktion auf diese Bezeichnung einzuschätzen, er selber fühlte sich schwach in den Knien werden. Freund? Alter? Natürlich, die Männer waren gleich alt. Aber Freunde? War er vom Regen in die Traufe gekommen? Hatte Severus ihn an Lucius verraten? Ihn hier festgehalten, in Sicherheit gewogen, damit er hierblieb, während Lucius schon auf dem Weg hierher war, um ihn zu holen?

Harry fühlte die Eiseskälte aus Malfoys Augen auf sich selbst übergehen. Sie kroch über seinen Körper, wie Spinnenfinger, drangen in jede Ritze, ergriff Besitz von ihm, von dem was er war und glaubte.

„Deine Sorge um Mr. Potter ist wirklich rührend, Severus", sagte Lucius. „Denn es wird doch sicher keine Sorge um mich sein, nicht wahr?" Niemand sagte etwas, aber Harry fühlte förmlich, wie sich eine schwarze Augenbraue hob. „Nein, natürlich nicht."

Harry konnte nicht anders, er musste Severus angucken. Ja, die Augenbraue war oben. Er schluckte. Dann erstarrte er, als er Lucius' Hand auf seiner Schulter spürte. „Ein wenig verwunderlich allerdings, Severus, dass du gar so besorgt bist. Natürlich bist du als Beschützer der Witwen und Waisen hier, sicher, aber findest du das nicht ein wenig übertrieben?" Harry fühlte, wie sich seien Kehle zusammenzog, als Lucius' Fingerspitzen seine Wange streichelten. Kalte Blitze zuckten durch seinen Körper und er bekam Gänsehaut entlang der Wirbelsäule. Er sah, wie sich Severus' Lippen zusammenpressten, nur ganz kurz. Es reichte, um Lucius triumphierend auflachen und sein Herz hoffnungsvoll schneller schlagen zu lassen.

„Ah ja", sagte Lucius mit Befriedigung. „Dachte ich es mir doch. Du müsstest dich schon sehr verändert haben, alter Freund, oder ich müsste dich sehr schlecht kennen, was ich beides nicht glaube, wenn Du noch nicht gemerkt hättest, dass unser Mr. Potter hier beileibe kein Kind ist." Streichel streichel. „Sondern ein ausgereifter und lass es mich mal so sagen, nicht völlig unattraktiver junger Mann." Die Finger erstarrten jetzt auf Harrys Wange und Harry erstarrte auch. Noch mehr.

Es sah Severus' Augen. Und schämte sich. So sehr. Was für ein Recht hatte er, diesen Mann hier mit hereinzuziehen? Hatte er wirklich geglaubt, er könnte damit durchkommen? Könnte so etwas wie Freude am Leben empfinden, und sogar – Liebe – nach dem, was geschehen war? Er war ein solcher Idiot gewesen. Und nun sah Severus, mit wem er sich eingelassen hatte. Mit was. Und er war daran schuld. Severus würde nur mit Verachtung und Hass an ihn denken. Und er würde sich selbst hassen für diese Schwäche, als die er ihn dann bezeichnen würde. Harry schluckte.

„Ein junger Mann", fuhr Lucius fort, „der erstaunlich ansprechbar ist." Harry war schlecht. Sehr schlecht. „Und eifrig". Noch schlechter. Die dunklen Augen ruhten ohne zu blinzeln auf ihm. Er wäre am liebsten im Erdboden versunken, konnte sich aber nicht bewegen. Und er wollte jetzt gar nicht darüber nachdenken, ob das die Wirkung von Lucius' Nähe und die seiner Hand, auf seiner Schulter oder die der Augen von Severus waren. Es spielte keine Rolle mehr. Severus war Vergangenheit. Lucius die ältere Vergangenheit. Und die war jetzt gekommen, ihn zu holen.

„Nur schade, dass er etwas übereifrig ist. Und dann Leute verletzt. Oder tötet. Aber das wird sich mit den Jahren sicher geben." Nun lag Lucius' Arm um Harrys Schultern. Die Zeit stand still.