XIV.
„Scheiße", sagte Harry und war noch viel verzweifelter als er klang. Was nun? Sev in Ohnmacht, oder schlimmeres, und er allein mit einem Messer und Lucius. Es hatte einen Moment gegeben, da hätte er zustoßen können, der Moment, als er sah, wie Sev ohne zu zucken in das Messer gegriffen hatte, um ihn zu retten. Aber jetzt. Er merkte, dass seine Hand bereit war, zu zittern. Er wollte sich um Sev kümmern, sehen, was er hatte, ihn retten, aber er konnte nicht. All das waren zu viele gegensätzliche Impulse und er ließ das Messer für einen Moment sinken, seine Hand tat das, weil sein Hirn anderweitig beschäftigt war. Und das war alles was Lucius brauchte.
„Nun Mr. Potter", der andere Mann schüttelte seine Gewänder zurecht und richtete sein Messer wieder auf Harry. „Dann können wir ja nun gehen, nachdem diese kleine – Störung – sich erledigt hat". Harry rührte sich nicht, er starrte auf den anderen Mann. Lucius' Augen leuchteten in einer besonders fiesen Weise, und seine Worte waren kaum zu verstehen, so sehr hatte er die Lippen aufeinander gepresst. Er wusste eins: Er würde nicht mit Lucius Malfoy gehen. Nicht noch einmal. Sollte er ihn hier umbringen, dann würde er wenigstens neben Severus liegen, wenn er tot war.
Severus! Harry warf noch einen Blick auf den am Boden zusammengekrümmt liegenden Mann. Seine langen Haare fielen in ein tödlich weißes Gesicht, aber das bedeutete ja noch nichts. Die Augen, die Harry bis auf den Grund durchschaut hatten, waren geschlossen. Snape lag auf der verletzten Hand und Blut quoll unter ihm hervor. Harry fühlte, wie sein Gesicht sich verzog. Nein, er würde ihn nicht verlassen. Er würde hier bei ihm bleiben, mochte Malfoy tun was er tun wollte. Er würde es hier tun müssen.
„Hörst du nicht, Potter", schnarrte Lucius jetzt und sein Mund zuckte. „Lass diesen – Abfall – hinter dir zurück und komm mit mir. Du hast sowieso keine Wahl". Harry sah Lucius an. Oh ja, er hatte die Wahl. Nicht die Wahl zwischen Leben und Tod, die schon lange nicht mehr, aber die Wahl des Ortes. Die war ihm geblieben.
Lucius' Augen blitzten und sein Mund wurde zu dem schmalsten Strich den Harry je gesehen hatte. Dann wandte er sich um und trat mit seinem verbliebenen Fuß auf den am Boden Liegenden ein. Einmal, zweimal, dreimal. Seine eine Augenbraue ging höhnisch triumphierend nach oben, so als wolle er sagen: Siehst du? Nur noch Abfall, der hier zurückbleibt.
Etwas in Harry glühte auf und wurde zu einem Flächenbrand. Nein, verdammt noch mal. Nicht so. Nicht mit ihm. Und nicht mit Severus. Verzweifelt sah er sich nach einer Möglichkeit um, suchte in seinem eben noch völlig leeren Hirn nach Lösungswegen. Das Messer? Konnte er auch drankommen, so wie Severus es getan hatte? Um Hilfe rufen? Wer konnte ihm helfen? Wer würde ihm helfen? Wer würde mitten in der Nacht hier vorbeikommen? Wo waren überhaupt alle, wenn man sie brauchte? Wer würde auf seiner Seite sein? Waren alle von Lucius gekauft? Irgendwer musste ihm ja gesagt haben, dass er, Harry, hier war. Und dieser jemand war noch hier, in der Nähe. Nein Hilfe von außen konnte er wohl vergessen. Er musste sich selber helfen, wie schon immer. Nicht, dass er es darin bisher besonders weit gebracht hatte.
Er hielt den Blick der toten grauen Augen, die sich kurz weiteten, vor Wut oder Entsetzen, Harry konnte es nicht bestimmen, und es war ihm auch egal. Irgend etwas sah Lucius in seinen Augen, und Harry hoffte so sehr, dass es das Letzte war, was dieser Bastard auf dieser Erde sah. Nun, wahrscheinlich würde es umgekehrt sein, und das Letzte was er selber hier sah, würde dies Gesicht, würden diese Augen sein. Nun ja. Das wäre dann eben schon das vorgezogene Fegefeuer. Auch davon würde er sich nicht abhalten lassen.
Er trat näher an Lucius ran, während sein Instinkt ihn deswegen anschrie. Weg von ihm, weg, alle Nerven brüllten es ihm zu, aber dennoch musste er es tun. Er trat so nah an den anderen Mann heran, dass er von seiner überwältigenden Persönlichkeit umhüllt wurde und auch dagegen musste er ankämpfen. Er hatte eine winzig kleine Chance, wirklich winzig klein, und er musste sie nutzen. Und wenn er dabei gegen alles in sich selber, das schlauer war als er, ankämpfen musste, dann würde er es eben tun.
Nun waren seine Augen direkt vor dem Mund des anderen Mannes. Er hob den Kopf und sah ihm in die Augen. War da nicht ein ganz leises Flackern? Das Messer an seiner Kehle zuckte. Er trat noch näher, so nahe, dass sein Körper an dem des größeren Mannes lehnte. Wieder musste er all seine Nerven beruhigen, die ihm zuschrien, zu fliehen. Er war so nah, dass er sah, wie Lucius' Haut prickelte, wie sich winzige Härchen bewegten, wenn er, Harry, atmete. Was ihn beruhigte. Wenn er seinen Atem sah, lebte er noch.
„Töte mich, Lucius", flüsterte Harry, „töte mich jetzt". Mund an Mund. So nahe. Die Klinge zuckte. Harry hielt Augenkontakt, auch als er fühlte, wie seine Haut geritzt wurde. „Tu es jetzt. Tu es hier. Denn ich werde nicht mit dir gehen."
Die grauen Augen flackerten. Unsicherheit bei Lucius Malfoy? Darauf hatte Harry gehofft, gewartet. Er hielt den Blick seiner Augen starr, während die Klinge ihn erneut ritzte, beinahe – zärtlich. Er merkte, wie sein Blut ihm in den Kragen floss. Lucius Atem bewegte den Flaum auf seiner Oberlippe als er ihm noch näher kam. „Führe mich nicht in Versuchung."
Harrys Sinne rieten ihm wieder zu rennen, zu fliehen, mindestens aber die Augen niederzuschlagen. Er tat es nicht. Er fühlte sein Blut seinen Körper verlassen, durch den Schnitt an seiner Kehle, immer mehr, heiß lief es in den Kragen, an seinen Oberkörper hinunter in die Hose. Er musste sich an Lucius festhalten, um nicht zu taumeln, so schwindlig war ihm.
Die grauen Augen leuchteten auf. Die Messerspitze zog sich zurück, ein wenig nur, aber mehr Chance würde er nicht bekommen. Harry packte Lucius mit der eben noch Halt suchenden Hand fest an den Haaren und hielt sich nun da fest, während er mit dem Knie ausholte und es dann mit voller Kraft in den Schritt Malfoys stieß. Das Weitwerden der grauen Augen war das letzte was er sah, während seine Kraft ihn verließ und er immer noch an Malfoy geklammert zu Boden sank, ohne etwas dagegen tun zu können.
