XXI.
Severus bewegte sich, nur ein wenig, in der Dunkelheit. Verdammt. Man sollte doch annehmen, dass die Aktivitäten des Tages in ihm, einem Mann von 40 Jahren, jede weitere Anstrengung in die Richtung unmöglich machen würde. Was hieß hier Anstrengung – jedes Interesse. Und doch fühlte er wie sich in der Dunkelheit des Raumes und in dem Gefängnis seiner Kleidung etwas bewegte, und das nur, weil der Junge, der junge Mann, Harry, geatmet hatte. Und der Atem sein Ohr gestreift hatte. Ganz leicht. Möglicherweise auch noch mit seiner Schulter seine eigene berührt hatte. Möglicherweise. Ganz wenig. Und das reichte. Severus hätte gern geflucht. Ausgiebig. Lang. Und laut. Aber auch das ging nicht.
Auf seiner anderen Seite fühlte er Albus. Und dahinter war irgendwo Rubeus. Und das Nebenzimmer war voll mit zahllosen ungenannten und gesichtslosen Menschen. Alle auf der Lauer, in Warteposition. Wartend auf – Ihn.
Den um den es ging. Seit Anbeginn aller Zeiten, wie es schien. Der, den diese namenlose Gesellschaft kriegen musste, um die Welt einen gerechteren und schöneren Platz sein zu lassen. Severus hätte gern geschnaubt.
Lucius war nun der Lockvogel, so wie Harry der Lockvogel für Lucius gewesen war. Severus verstand die ganze Geschichte nicht, gestand er sich ein. Und er wollte sie auch gar nicht verstehen. Das ganze Ding bestand eigentlich nur aus Luftlöchern, wie das Netz, in dem Albus seinen albernen Bart trug. Annahme stützte sich auf Annahme, Interpretation auf psychologische Beobachtung, und das ganze Gebilde wankte wie eine Horde betrunkener Seeleute nachts um halb 1 auf Sankt Pauli.
Aber Albus meinte, er würde kommen. Er, der hinter allem steckte, allem Bösen, das auf dieser Welt begangen wurde. Wieder konnte Severus nicht schnauben und es verbesserte seine Laune nicht. Er würde kommen, um seinen Helfershelfer, seinen Mittelsmann, seinen Diener seit ewigen Zeiten zu holen. Meinte Albus. Nach allem, was Severus über den Mann gehört hatte, glaubte er das eigentlich nicht. Ein mächtiger böser Mann zeichnete sich für gewöhnlich nicht durch Treue und Anhänglichkeit gegenüber seinen Dienern aus. Aber Albus hatte halt noch Vertrauen in die Menschheit.
Etwas berührte ihn. Wieder. Er sah nach links. Die grünen Augen, die er schon so gut kannte, in so kurzer Zeit, leuchteten im Dunkeln. Severus fühlte, wie irgend etwas in ihm sich hob. Und dieses Etwas befand sich höher in seinem Körper als der Teil, bei dem ihn das nicht gewundert hätte. Verdammter Mist. Es war lächerlich. Wahrscheinlich würden sie eh alle sterben. Und sein Herz machte hier Sperenzchen. Er hatte doch noch nie Herzprobleme gehabt. Mit dem Magen, das ja. Aber sein Herz war immer starr und kalt und wunderbar in Ordnung gewesen. Nun ja, zumindest sehr lange. Und er hatte prima damit gelebt.
Nun ja. Was man so Leben nannte. Er ließ seine Mundwinkel sich wie in einer Antwort auf das Aufleuchten der Augen heben. Die Augen waren weg. Der Junge blinzelte. Er war verstanden worden. Lächerliche Vorstellung.
Dann hörte er es auch. Etwas bewegte sich. Langsam. Vorsichtig. Leise. Sehr leise. Aber sie lagen hier jetzt schon seit Stunden, ohne ein Geräusch von sich zu geben, sein Gehör war also geschärft. Beinahe so scharf wie das des jungen Mannes neben ihm. Snapes Mundwinkel zuckten. Sein Gedächtnis ließ doch keine Möglichkeit aus, ihn auf den Altersunterschied hinzuweisen. Es war ihm sehr ähnlich, sein Gedächtnis.
Er widerstand der lächerlichen Regung, nach links zu greifen und Harrys Hand in seine zu nehmen. In seine heile, natürlich. Die andere war immer noch ziemlich nutzlos, aber sage das einmal Albus. Er war für einen Kampf nicht gerüstet, aber war er das je gewesen? Er hatte körperliche Auseinandersetzungen immer verabscheut und war ihnen so gut es ging aus dem Weg gegangen. Was ihn dann in dem Harem hatte landen lassen. Sein Gesicht verzog sich. Nun ja. Dort hatte dann aller Widerstand nichts genützt. Gar nichts. Und irgendwann hatte er sich daran gewöhnt. So wie manche sich an ständiges Kopfweh, fehlende Glieder oder Aids gewöhnten. Und dann hatte er die Gelegenheit genutzt und war wieder weggerannt. Wieder ohne körperliche Auseinandersetzung. Nein, er war dafür nicht gemacht. Aber für was war er schon gemacht? Und wer fragte danach?
Snape schüttelte den Kopf. Dies war nun wirklich der allerbeste Moment für sein lange vernachlässigtes Selbstmitleid. Hier und jetzt. Ausgerechnet. Oder war das ein Zeichen dafür, dass er sterben würde? Sein Leben ging ihm durch den Kopf, kurz vor seinem unausweichlichen Tod? Aber er hatte sich noch nicht damit abgefunden, konnte nicht glauben, wollte es nicht, dass das namenlose Böse da draußen sein Ende sein würde. Und deswegen konnte es das nicht sein. Andrerseits: Ganz sein Glück, dass ausgerechnet die unangenehmsten Szenen seines Lebens wieder auftauchten. Als ob es nicht andere gäbe. Aus der jüngsten Vergangenheit. Harry. Grüne Augen. Ein biegsamer, hingabebereiter Körper. Oder viel früher. Lucius. Bevor er – so – wurde. Und dann sogar- im Harem. Jener andere Sklave. An den hatte er lange nicht mehr gedacht. Hatte ihn vollkommen verdrängt, musste das, um fliehen zu können. Braune Augen, hellbraune Augen, und er hatte etwas von einem Wolf gehabt. Erstaunlich, wie klar er sich jetzt erinnerte, nach so langer Zeit. Sein einziger Mann mit braunen Augen. Komisch, eigentlich.
Nun ja – der Scheich hatte natürlich braune Augen gehabt. Dunkelbraune. Snape schauderte. Noch so eine Erinnerung die er nicht brauchte. Die war jahrelang in seine Träume gekommen, ungerufen, und er war zitternd und schwitzend aufgewacht.
Severus hatte sich selbst belogen. Ja, es hatte körperliche Auseinandersetzungen in seinem Leben gegeben. Und eine davon hatte mit dem Tod des Gegners geendet. Es musste sein. Anders wäre er nicht entkommen. Es hatte ihm nicht leid getan, damals. Es tat ihm noch heute nicht leid. Nicht richtig. Aber er hatte sich seitdem rausgehalten, aus allem, weil er nicht wieder in so eine Situation kommen wollte. Er hatte keine Angst zu sterben. Er hatte Angst vor dem, was er zu tun bereit wäre, um zu leben.
Er musste schwer geatmet haben. Wieder das Blitzen der grünen Augen. Und eine kleine kräftige Hand, die sich auf seinen Unterarm legte und zudrückte. Beruhigend. Sollte es wohl sein. Snape erzitterte, gegen seinen Willen, natürlich gegen seinen Willen. Unwillig hob er die Augenbraue, um Harry einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Seine Augen leuchteten nicht im Dunkeln, aber der Bengel würde schon verstehen.
Da ging die Tür auf und Lucius Malfoy, an einen Stuhl gefesselt und mit einem mörderischen Ausdruck in den Augen, wurde in das Licht der Vollmondnacht getaucht.
