XXIV.
Lucius blieb plötzlich stehen. Die Hand auf Harrys Schulter presste stärker. Harry blieb stehen und blinzelte. Da waren Leute. Nebulöse Gestalten. Eine davon kam ihm vage bekannt vor. Sie kamen näher. Harry sah zu Lucius auf. Der würde wissen, was zu tun war. Harry hatte völliges Vertrauen. Das wunderbare Profil zuckte. Dann war es wieder völlig kühl. Die Hand auf Harrys Schulter legte sich um seine andere, so dass Harry sich in Lucius Arm wiederfand. Es fühlte sich wunderbar an. Er würde alles überstehen, alles war gleichgültig, wenn nur Lucius bei ihm war.
Der eine Mann sah sehr seltsam aus. Nicht sehr menschlich. Harry mochte ihn nicht. Aber das spielte auch keine Rolle. Lucius würde es schon richten. Der andere Mann war der, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Irgendwas in ihm rührte sich. Harry schüttelte den Kopf. Es war nicht wichtig, nicht wirklich wichtig. Der andere Mann sah ihn seltsam an. So als würde er – nein, er würde nicht darüber nachdenken. Es war völlig gleichgültig. Er spürte Lucius neben sich und um sich, und dessen Gegenwart war alles was er brauchte. Was er je gebraucht hatte und was er je brauchen würde.
Harry sah Lucius an und hörte einen erstickten Laut aus der Richtung der beiden anderen Männer. Er sah, wie Lucius' Lippe zuckte und betete diese Lippen an. Dann hörte er ein anderes Geräusch. Ein Gurgeln. Es klang amüsiert. "Ich sehe, du bist doch noch befreit worden, Lucius", sagte eine Stimme, die Harry Schauer der unangenehmen Art über den Rücken jagte. "Wie erfreulich, dass diese Mission nicht umsonst war, trotz dieser unerfreulichen Überraschung von Dumbledore."
Lucius' Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Harry liefen wieder Schauer über den Rücken und sie waren nicht unähnlichen denen, die die andere Stimme ihm beschert hatte. Wie konnte das sein? Das war doch Lucius, und Lucius war sein Alles? Harry gab das Denken wieder auf. Es war einfach zu anstrengend. Statt dessen sah er Lucius unverwandt an. Der blonde Mann sah kurz zu ihm rüber und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und einen kurzen Druck auf die Schulter. "Mr. Potter hier war so freundlich. Er hat den alten Narren aus dem Weg geschafft. Dumbledore war ziemlich überrascht." "Das kann ich mir vorstellen." Die beiden Männer lachten miteinander und Harry, der nicht unfreundlich sein wollte, lächelte ein wenig blöde vor sich hin. Er verstand nicht, was daran so komisch sein sollte. Aber natürlich würde er Lucius immer retten. Genauso wie der andere Mann das mit ihm tun würde.
Der dunkelhaarige Mann mit den brennenden Augen bewegte sich. Nur wenig, und Harry wusste nicht so recht, wieso er das überhaupt bemerkte, so eingestimmt wie er auf Lucius war. Aber irgendwas an dem Schwarzhaarigen berührte ihn. Irgendwie kannte er ihn, irgendwas in ihm sah fragend auf.
"Ich sehe, du hast deine alten Tricks anscheinend noch verbessert, Lucius", sagte der Mann jetzt und auch die Stimme berührte etwas in Harry sehr sonderbar. Es war beinahe, als habe diese Stimme eine besondere Macht über ihn, er erinnerte sich schemenhaft an Berührungen, an Gefühle – doch als er versuchte, darüber nachzudenken, es zu fassen zu kriegen, was ihm diese Gefühle sagen wollten, bekam er Kopfschmerzen. Lucius sah ihn an und sein Kopf beruhigte sich wieder. Es war nicht wichtig. Nichts war wichtig, außer Lucius.
"Severus", sagte Lucius, und der abgehackte Ton seiner Stimme sagte Harry, dass Lucius den anderen Mann nicht besonders mochte. Das war gut. Harry sah den Schwarzhaarigen böse an. Wie kam der dazu, Lucius zu ärgern, was fiel dem denn ein? Niemand hatte das Recht, Lucius zu verletzen. "Ich sehe, du lebst immer noch. Nicht totzukriegen, oder wie dies alte Sprichwort lautet, nicht wahr? Aber ich glaube, alter Freund, das wird sich nun ändern. Deine Zeit auf dieser Erde ist abgelaufen, fürchte ich. Du hattest ja noch eine Frist von - 15 Jahren? So viele waren es doch, oder?" Harry sah, wie Lucius traurig den Kopf schüttelte. "Wenn man überlegt, was für Chancen du hattest. Was du dann überlebt hast, die Demütigung, die Entbehrungen und das alles – um was zu tun? Um ein Seemannsheim zu führen. Also wirklich. Doch Severus, deine Zeit ist lange abgelaufen. Die Gnadenfrist ist nun auch vorbei. Sag auf Wiedersehen zu deinem kleinen Exfreund, und stirb in der Gewissheit, dass ich sehr viel Spass mit ihm haben werde, nicht wahr Harry?"
Der Arm, der um Harrys Schulter lag, wurde schwerer und zwei Finger kniffen Harry in die Brust. Er wurde rot. Tat man denn so etwas in der Öffentlichkeit? Aber wenn Lucius es tat, war es sicherlich okay. Was hatte er gesagt? Was hatte Lucius gesagt? Von wem hatte er gesprochen? Wieso musste der Schwarzhaarige sterben? Und wessen Exfreund war er? Harrys Kopf tat wieder weh.
Ein höhnisches Lachen, da mehr wie da zischen einer Schlange klang. Das war der andere Mann, der ohne Haare. "Tja, Severus, du hörst es. Ich mochte dich ja irgendwie, aber Lucius hat ältere Rechte. Und da die meinem Interesse nicht im Wege stehen, kann ich nichts machen. Es tut mir wirklich leid. Du hättest so groß sein können, wirklich. Du hättest mein Diener sein können und der Herr über Tausend andere. Aber du musstest moralische Skrupel bekommen. Wie hinderlich. Ich bewudnere ich wirklich, einerseits. Was du überlebt hast. Aber wie Lucius schon sagte: Deine Zeit ist abgelaufen. Herbergsvater, also wirklich. Albus Dumbledore, wenn er denn noch leben sollte, muss sich einen neuen Statthalter suchen. Nicht dass er daran Mangel hat, der alte Narr. Irgendwas an ihm lockt die Idioten wie Motten das Licht. Aber so einen wie dich – so einen wird er lange suchen müssen, denke ich."
Harry sah, wie sich der Mann schlangengleich auf den Schwarzhaarigen zubewegte und ihn mit diesen widerlichen Nicht-Lippen küsste. Harry schauderte. Irgend etwas in ihm schrie, dass das falsch war, ganz falsch, niemand hatte das Recht, Severus zu küssen, niemand außer ihm. Lucius zwickte wieder seine Brustwarze. Es tat weh. Er sah Lucius an. Wieso wusste er den Namen des anderen Mannes? Und wieso meinte er, nur er dürfe ihn küssen? Er kannte den anderen doch gar nicht. Harry schüttelte den Kopf, um ihn zu klären. Es klappte nicht. Wie durch eine Nebelwand sah er was weiter passierte.
Der Schwarzhaarige – Severus? – gab ein schnaubendes Geräusch von sich. "Das war's? Wie das? Bildest du dir ein, dein Kuss könne töten, Riddle? Da musst du dir schon was Besseres einfallen lassen, ich bin Schlimmeres gewohnt." Ein Fauchen, wie von einer Katze. Der Lippenlose war anscheinend wütend. Harry merkte, dass auch Lucius nicht erfreut war. Sein Arm ließ ihn los und der Blonde bewegte sich auf den Schwarzen zu. Harry blinzelte.
Irgendwie war das doch unfair. Zwei gegen einen. Aber würde Lucius jemals etwas tun, was unfair war? Lucius? Nein, oder? Harry schüttelte wieder den Kopf. Er wurde wirklich ein wenig klarer, oder schien es ihm nur so? Der Schmerz war beinahe überwältigend. Was wusste er eigentlich über Lucius? Nichts. Wieso nahm er dann das Beste über ihn an? Wenn er doch Dinge tat und androhte, die Harry – eigentlich – nicht gut heißen konnte? Wieder schüttelte er den Kopf. Erinnerungen tauchten auf. Erinnerungen an Lucius, ein Schiff, einen rothaarigen Jungen. Wieder schüttelte er den Kopf. Nein, das konnte doch nicht wahr sein. Mit Mühe sah er auf die drei Männer vor sich, de sich umkreisten wie Tiger im Käfig. Der Schwarzhaarige, Severus, ja, der berührte was in ihm. Erinnerungsfetzen brandeten auf, gegen eine Mauer in seinem Kopf. Severus war sein Freund. Aber wie konnte das sein? Wie konnte Severus sein Freund sein, wenn er doch mit Lucius zusammen war und Lucius den anderen töten wollte?
"Halt", rief Harry. Sein Kopfschmerz drohte ihn zu überwältigen und er schwankte ein wenig. Aber er musste verhindern, dass Lucius den anderen tötete, das ging einfach nicht. Lucius würde das natürlich nie tun, er hatte nur geblufft, aber dieser andere Mann war wirklich unangenehm, dem war alles zuzutrauen. Und vielleicht hatte der Lucius unter irgend einem Bann. Sie durften Severus nicht töten, durften es einfach nicht. Nicht bevor Harrys Kopf wieder klar war und er wusste, was ihn mit dem anderen verband.
Die anderen Männer drehten sich zu ihm um. Lucius sah wütend aus. "Halt du dich da raus, Harry. Bleib einfach nur da stehen, ich bin gleich wieder bei dir. Und dann ...". Harry ahnte, dass dieses "dann" ihm etwas verkünden sollte, etwas Verheißungsvolles, aber im Moment interessierte ihn das nicht. Er würde sich nicht wie ein kleines Kind behandeln lassen, verdammt noch mal. Er würde nicht in seiner Ecke stehen bleiben, während diese Männer seinen Severus töteten. Seinen Severus, Moment mal. Er schüttelte wieder seinen schmerzenden Kopf, als könne er so Ordnung in seine Gedanken bringen. "Severus?", sagte er und es klang kläglich.
Die schwarzen Augen leuchteten auf. "Harry". Harry schluckte. So ging das nicht. "Halt", schrie er. Aber es war zu spät. Lucius hatte den anderen schon mit seiner Krücke niedergeschlagen und beugte sich über ihn und etwas blitzte in seiner Hand auf.
