Kapitel 2 Besuch

Die nächsten Tage vergingen unendlich langsam. Harry verbrachte fast die ganze Zeit in seinem Zimmer, denn draußen wurde das Wetter immer noch nicht besser. Zwar regnete es nicht mehr, doch es war immer noch bewölkt und windig. Dann, zehn Tage nach McGonagall's Besuch, wurde es schlagartig wärmer.

Im Ligusterweg Nummer vier wurde gerade gefrühstückt. Am Abend davor waren die Dursleys auf einer Feier gewesen. Harry hatte die Gelegenheit genutzt und bis Mitternacht ferngesehen, weshalb er jetzt noch reichlich müde und zerknittert aussah.

Tante Petunia verteilte gerade die Essensrationen (Dudley war wieder auf Diät), woraufhin der einen missbilligenden Blick in die Runde warf. Denn dieses Mal (es war der fünfte Versuch) hatte Onkel Vernon sich durchgesetzt. Er, Petunia und erstaunlicherweise auch Harry durften ganz normal essen, während Dudley mit einer halben Grapefruit schmollend in der Ecke saß.

So wurde am Tisch eher wenig gesprochen. Die mitleidigen (von Tante Petunia) beziehungsweise schadenfrohen Blicke (von Harry) sprachen dafür Bände. Das war Onkel Vernon nicht entgangen, denn als alle fertig waren, gab er Harry einen Haufen Arbeit mit auf den Weg.

Gegen ein Uhr kam Tante Petunia bei ihm vorbei (er mähte gerade den Rasen) und gab ihm ein Lunchpaket, damit er seine Arbeit nicht unnötig lange fürs Mittagessen unterbrechen musste.

Er stopfte sich gerade einen Toast in den Mund, als er von der Straße her eine ihm wohlbekannte Frauenstimme hörte.

"Hallo Harry! Na, wie geht's dir?"

Er drehte sich um und sah eine junge Frau mit knallgrünen Haaren, die ihm freundlich zuwinkte.

"Ponkf!", rief er durch einen riesigen Klumpen halbzerkauten Toast. Er rannte zum Gartenzaun und schluckte ihn dabei schnell herunter. "Ich meine... was machst du denn hier? Ist irgendwas passiert? Mir geht's verhältnismäßig gut", fügte er hinzu.

"Beruhige dich, nichts ist passiert. Zumindest nichts Schlimmes. Ich wollte lediglich mal herkommen und dich besuchen. Hast du den Tagespropheten schon gelesen?"

"Ich - nein, heute noch nicht, ich hatte keine Zeit. Was stand denn drin?", fragte er und unterdrückte dabei einen Seufzer. Seit mehreren Wochen las er jeden Morgen Zeitung, und nie stand etwas Wichtiges drin. Jetzt schien es Neuigkeiten zu geben, aber er erfuhr sie wieder von jemand anderem.

Tonks kramte in ihrer Tasche. "Hier", sagte sie, "ganz groß auf dem Titelblatt."

Harry nahm die Zeitung entgegen und las.

TODESSER GREIFEN ASKABAN AN

In der vergangenen Nacht haben mehrere Todesser versucht, das Zauberergefängnis Askaban zu überfallen. Sie wollten offenbar andere Anhänger von ihm, dessen Name nicht genannt werden darf, befreien. Nach der Massenrevolte der Dementoren, von denen Askaban normalerweise geschützt wird (der Tagesprophet berichtete), ist das Gefängnis in letzter Zeit beinahe ungeschützt. Das Zaubereiministerium schien jedoch einen Tipp bekommen zu haben, denn eine Armada von Auroren sowie einige Vertraute Albus Dumbledore's überraschten die Todesser. Einer der Anhänger des Unnennbaren mit dem Namen MacNair, der bis vor Kurzem für das Ministerium arbeitete, wurde gefasst, der Rest konnte fliehen. Zauberereiminister Fudge dazu: "Wir freuen uns, dass wir den Angriff erfolgreich abwehren konnten. Ich hoffe, dass dieser Erfolg kein Einzelfall bleiben wird. Außerdem erwarten wir, noch nützliche Informationen aus MacNair herauskitzeln zu können." Unterdessen sind pikante Tatsachen über Fudge selbst ans Licht gekommen. Wie der Tagesprophet heute exklusiv enthüllen kann, wurde der Zaubereiminister vergangenes Jahr häufig zusammen mit einem Todesser namens Lucius Malfoy (zur Zeit in Askaban) gesehen. Freunde von Fudge berichten, Malfoy sei so etwas wie "sein engster Berater" gewesen, habe großen Einfluss auf den Minister gehabt. Möglicherweise wurde das Zaubereiministerium also über ein Jahr lang von einem Todesser kontrolliert. Es ist ungeklärt, ob Malfoy noch immer Einfluss auf Fudge hat.
Rita Kimmkorn

Harry sah von der Zeitung auf. Tonks lächelte vergnügt.

"Ich war auch dabei. Du hättest ihre Gesichter sehen sollten, als sie merkten, dass wir sie umzingelt hatten. Disapparieren konnten sie natürlich nicht so einfach, wir waren ja auf dem Grund von Askaban.

Harry sah sie völlig entgeistert an. "Aber... woher wusstet ihr, dass sie kommen würden?"

"Snape. Er versorgt uns die ganze Zeit über mit Informationen, ich habe keine Ahnung, was wir ohne ihn machen sollten. Wir wussten schon lange, dass Du-weißt-schon-wer sowas in der Art plant, wir wussten nur nicht genau wann. Eineinhalb Stunden vorher hat Snape uns dann Bescheid gegeben. Das schwerste war, Fudge zu überzeugen, die Auroren so schnell nach Askaban zu schicken. Er misstraut uns noch immer. Außerdem", fügte sie hinzu, "ist der Bericht nicht komplett. Tatsächlich haben wir drei Todesser gefasst, nicht einen. Irgendwer im Ministerium hat wohl angeordnet, die Infos zu verfälschen, warum auch immer. Er oder sie glaubt wohl, Du-weißt-schon-wen damit verwirren zu können. Na ja..."

Sie versank in Gedanken und beobachtete ein paar Schwalben, die friedlich nebeneinander über die Häuser schwebten. Harry betrachtete och einmal den letzten Absatz.

"Die Sache mit Fudge und Malfoy ist also rausgekommen", sagte er. "Vielleicht macht die Kimmkorn ja einen Skandal draus, dann wird Fudge abgesetzt - verdient hätte er es ja - und -"

"Verdient hätte er es, das stimmt", unterbrach ihn Tonks, "aber im Moment brauchen wir ihn wirklich. Es wäre ein Riesenproblem, wenn er sich ständig gegen irgendwelche Vorwürfe wehren müsste, statt uns zu helfen. Sicher", fügte sie auf Harry's Blick hin hinzu, "wir haben Dumbledore. Aber der hat erstens keine Kontrolle über die Auroren, und außerdem ist er ja immer noch Schulleiter und deshalb ohnehin recht beschäftigt."

Es gab eine lange Pause. Harry seufzte. Die Sonne brannte in seinem Nacken. Perfektes Wetter zum Quidditchspielen, dachte er. Vielleicht bei den Weasleys, mit Ginny, Ron, Fred und George, und vielleicht auch Charlie oder Bill. Im Moment konnte er sich nichts schöneres vorstellen, als auf seinem Feuerblitz sanft über die Wiesen zu gleiten und all die bohrenden Fragen, die in seinem Kopf herumschwirrten, einfach hinter sich zu lassen. Er wusste nicht, wie lange es her war, dass er das letzte Mal Quidditch gespielt hatte. Und er wusste auch nicht, wann er es wieder tun könnte, wie er erschreckt feststellte. Schließlich war er gar nicht mehr im Gryffindor- Team. Sein Verbot war zwar aufgehoben worden, aber Sucher war zur Zeit immer noch Ginny, die ihre Sache auch sehr gut machte...

Er seufzte noch einmal und wurde dann etwas unsanft in die Realität zurückgeholt.

"Harry?"

"Was? Oh ja..."

Tonks lächelte nachsichtig. "Naja, ich muss dann wohl wieder weg. Ich habe heute noch was zu tun", sagte sie mit einem geheimnisvollen Blick auf den Tagespropheten, den Harry ihr inzwischen wiedergegeben hatte. Harry sah sie etwas zerknirscht an.

"Immer diese Geheimniskrämerei. Naja, da werde ich mich wohl dran gewöhnen müssen. Dann viel Glück bei was-immer-du-vorhast. Komm nochmal hier vorbei und -"

"Gut, dass du mich dran erinnerst: Ich glaube nicht, dass du noch allzu lange hier bleiben musst. Arthur - ich meine Mr. Weasley - hat gesagt, Dumbledore hätte sich überreden lassen. Wie es aussieht, kannst du bald wieder in den Fuchsbau. Vielleicht besuche ich euch da mal. Na gut", seufzte sie, "dann bis bald."

"Tschüss, und danke für den Besuch!", sagte Harry, und wenige Sekunden später war Tonks mit einem leisen "Plopp!" verschwunden.