Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war noch immer grau. Alles erschien ihr grau und trist, sogar die Kinder, die mit bunten Regenschirmen lachend an ihr vorbei eilten, waren nur dunkle Gestalten, die sich langsam an ihr vorbei schoben.

Immer und immer wieder sah sie ihre Gesichter vor sich, als sie durch die Straßen eilte, weit weg von jenem Ort, an dem sie gerade ihre Freunden so schlimme Sachen hatte sagen hören. Zu ihr.

Lange lief sie, ohne auch nur etwas von dem mitzubekommen, was um sie herum passierte. Sie bemerkte nicht einmal, dass sie längst asphaltierte Straßen verlassen hatte und durch einen Wald lief. Den Wald. Genau den.

Wie automatisch führten sie ihre Schritte zu jenem Ort, an dem sich vor ein paar Wochen ihr ganzes Leben geändert hatte.

Sonnenstrahlen stahlen sich vereinzelt durch das dichte Blattwerk und spiegelten sich in kleinen Tröpfchen auf dem moosbedeckten Untergrund. Im Grunde war das ein wunderschöner Anblick, wie Tausende Edelsteine glänzten die Wasserperlen und warfen das Licht in vielen Farben zurück.

Dune bemerkte dies nicht, hatte kein Auge für die Schönheit, die sich ihr bot. Vielmehr störte sie das viele Glitzern, blendete sie und brannte in ihren Augen. Auch das entfernte Zwitschern von Vögeln vernahm sie nicht. Tiefe Dunkelheit hüllte sie ein und versperrte ihr alle Sinne.

*Warum?????*, fragte sie sich immer und immer wieder.

Was hatte sie denn getan? Die junge Frau begann, an sich selbst zu zweifeln. Vielleicht hatte sie doch irgendwann etwas gesagt oder getan, was das Verhalten ihrer Freunde rechtfertigte. Vielleicht war sie auch für eine Zeit lang nicht sie selbst gewesen, aber sie konnte sich nicht an einen Blackout oder ähnliches erinnern. Hatte ihre „Verwandlung" vielleicht sogar eine finstere Kehrseite? Hatte sie sogar etwas in ihr geweckt, was sie selbst nicht kannte? Etwas, das stärker war als sie?

In ihren Gedanken versunken und verzweifelt nach einer passenden Antwort suchend, bemerkte sie nicht einmal die Absurdität dieser Überlegungen. Sie umging dabei unbewusst, aber doch augenscheinlich gewollt einen gewissen Punkt, den sie nicht sehen konnte. Er blieb ihr verborgen, beabsichtigt.

Seufzend und die Hände vor das gerötete und brennende Gesicht schlagend ließ sie sich auf dem feuchtweichen Untergrund nieder. Nach einer Weile sanken ihre Hände wieder. In ihrem Kopf herrschte plötzlich absolute Stille. Die Leere in ihr war angenehm, sie dachte nichts mehr. Mit dieser Änderung verstärkten sich ihre Sinne umso mehr. Teilnahmslos betrachtete sie ihre Umgebung, die Erinnerungen an diesen Ort vollkommen verdrängend, hörte die Geräusche, die aus weiter Ferne zu kommen schienen, ohne sie wirklich aufzunehmen und zu verarbeiten.

Ein neuerliches Rascheln ganz in ihrer Nähe ließ sie jedoch aufhorchen, Hoffnung schöpfen, dass sie vielleicht doch eine Erklärung finden würde, dass er kommen würde und ihr alles erklären würde. Ja, er würde es erklären können, ganz bestimmt. Und er würde sie trösten und ihr sagen, dass die Freunde Unrecht hatten.

Die sanfte Stimme des Mannes, den sie regelrecht gespürt hatte, ließ sie lächeln. Ja, er würde sie trösten...

„Hallo meine Prinzessin!", begrüßte er sie und eine Gänsehaut jagte die nächste, als er ganz nahe an ihr vorbei ging, mit seiner Hand ihren Rücken streichelte und sich schließlich vor sie hinsetzte.

In seinem fein geschnittenen Gesicht war plötzlich so etwas wie Mitleid zu erkennen.

„Hast du geweint, mein Kätzchen?", fragte er. Sie hörte den ironischen Ton in seiner Stimme nicht. War plötzlich fasziniert von der Schönheit, die sich ihr darbot. Leuchtend blaue Augen, die sie aufrichtig ansahen und ihr den Himmel versprachen. Eine Stimme, die ihr das Paradies schenkte, wenn sie ihr nachgab. Die Verführung in Person hockte vor ihr und lächelte sie an.

Ein Geschenk des Himmels. Sie lächelte zurück.

„Ja...", hauchte sie abwesend, versank in den blauen Tiefen aus Himmel und Meer.

Die dunklen Haare hingen ihm im Gesicht und ließen ihn unschuldig wirken, und wunderschön. Dune schauderte. Was war plötzlich mit ihr? Was war denn überhaupt? Warum hatte sie noch mal geweint? Sie wusste es nicht mehr. Es war ihr plötzlich egal.

„Lass mich dich trösten, mein Engel.", flüsterte er mit angenehm tiefer Stimme und nahm sie in den Arm. Seufzend schmiegte sie sich an den warmen Körper und lächelte träumerisch. Langsam wiegte er sie hin und her, streichelte dabei beruhigend sanft ihren Rücken und flüsterte ihr zu, dass er sie niemals zum Weinen bringen würde. Das verspräche er.

Warum war er denn nicht schon immer da gewesen, dieser Mann?

Sie gehörten doch zusammen... er war doch der, dem sie gehörte.

Dune stockte. Sie gehörte ihm? Eiskalt und schmerzhaft hell flimmerte alles wieder auf, zeigte ihr, wie schwarzer Dunst nach ihrem Geist griff und ihn beinahe schon umschlossen hatte.

„Nein!"

Blitzartig stieß sie ihn von sich weg. Keuchend betrachtete sie den Mann und stand auf. Ihr Bewusstsein schob die schwarzen Hände seines Geistes aus dem Ihren fort, die bereits nach ihrem verstand gegriffen hatten, verbrannte sie, um sich Respekt zu verschaffen. Jetzt war sie wieder vollständig sie selbst, hatte sich vorerst von den Fäden, mit denen er sie wie eine Marionette geführt hatte, befreit. Wie hatte das passieren können? Das war verdammt knapp gewesen. Sein Blick war kalt geworden, sie konnte regelrecht fühlen, wie er innerlich versuchte, die Enttäuschung zu unterdrücken.

Mit kalter Wut starrte sie ihn an. Sagte nichts, starrte nur und keuchte.

Er stand auf und lächelte.

„Wie dumm von mir, dich zu unterschätzen Dune." Er lachte freudlos. Seine Hände hatten einen eigenartig dunklen Farbton angenommen. Als er sich am Boden abgestützt hatte, hatte sie Dampf aufsteigen gesehen. War sie das gewesen?

Sie war sich nie einer solchen Kraft bewusst gewesen. Ihre Augen verengten sich.

„Fass mich nie wieder an!", fauchte sie. „Nie wieder! Berühre mich nie wieder so, verstanden? Versuch nie wieder mich so zu beeinflussen, oder du wirst dir mehr als deine Hände verbrennen."

Die Drohung bewirkte nur ein müdes Lächeln auf Salazars Gesicht.

„Aber Prinzessin, glaubst du wirklich, ich könnte etwas tun, was dir nicht gefällt?"

„Lass die Schleimerei und komm zum Punkt! Warum bist du hier? Was willst du von mir? Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?"

Er lächelte wieder verträumt und kam einen Schritt näher.

„Niedlich!", kicherte er. „Aber sind das nicht ein bisschen viele Fragen auf einmal?" Er gluckste wieder. Dann wurde er ernst.

„Ich bin hier, weil ich dich begehre."

So direkt hatte sie es nun auch wieder nicht wissen wollen. Sie schluckte.

„Mach dich nicht lächerlich! Es gibt mit Sicherheit andere Frauen, die..."

„Nein!", unterbrach er sie brüsk.

„Keine ist so wie du!" Seine Stimme war wieder sanfter geworden, aber der kurze Ausdruck des Wahnsinns in seinem Gesicht war ihr durchaus nicht entgangen.

„Du bist die, die ich will. Nur du. Nur du..."

Er stand wieder ganz nahe vor ihr, lächelte sie sanft an, mit seinem engelsgleichen Gesicht, und strich leicht mit seiner Hand über ihre Wange.

„Salazar."

Ihre Stimme war kalt. Die grünen Augen funkelten böse und ihr Geist schickte ihm sämtliche Flüche dieser Welt auf den Hals.

„Hmmm?" Er lächelte wieder, legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie zu sich.

„Lass.Das."

Eine plötzliche Druckwelle aus eiskaltem Wind schleuderte ihn von ihr weg und gegen einen Baum, der in der Nähe stand.

Es machte ihm nichts aus. „Du bist wunderschön, wenn du so wütend bist.", stellte er lächelnd fest und stand plötzlich wieder ganz nahe bei ihr. Ein leichter Kuss streichelte ihre Wange, während seine Hand auf ihrem Bauch ruhte. Sein Haar kitzelte sie neckisch im Gesicht und heißer Atem streifte ihre Hals und verursachte eine Gänsehaut.

„Lass es mich wissen, wenn du es dir anders überlegst. Dann werde ich dich zu meiner Königin machen, Göttin des Lichts, und dich von diesem Planeten willensschwacher Wesen fortbringen."

Dann war er verschwunden. Zitternd vor Wut auf seine Dreistigkeit, vor allem aber auf  sich selbst und ihre, in seiner Anwesenheit offensichtlich nicht zu kontrollierenden, Körperreaktionen, starrte sie die Stelle an, an der er noch gerade eben gestanden hatte. Dieser Mistkerl! Er trieb sie in den Wahnsinn, mit seiner übermäßigen Schmeichelei, mit seinen betörenden Blicken, aus den wunderschönen blauen Augen und seiner Gänsehaut verursachenden Stimme.

Es war zum aus der Haut fahren, sie tat es schon wieder. Stellte sich vor, wie er vor ihr stand und sie anlächelte. Mit einem Mal kamen ihr die Worte ihrer Mutter wieder in den Sinn. In der Nacht, in der alles begonnen hatte, hatte sie sie gewarnt vor ihm. Sie solle sich nicht von ihm täuschen lassen, die Fassade verstecke nur das Monster, das er wirklich war. Oh ja, er war ein Monster, das hatte sie gesehen. Vehement den Kopf schüttelnd und sich plötzlich erinnernd, dass sie jemandem von Salazars verfrühter Ankunft berichten musste, sprang sie in die Höhe und flog schnurstracks zu Gottes Palast. Dende würde die anderen sicher wieder zur Vernunft bringen, dessen war sie sich sicher. Und sie musste dem Kleinen noch erzählen, dass sie plötzlich die wahre Gestalt ihrer Kraft entdeckt hatte. Das Training mit Piccolo war hilfreich gewesen, hatte aber letztlich eine Seite an ihr ausgebildet, die sich wahrscheinlich niemals bei Salazar brauchen würde. Sie lächelte. Aber umsonst war es nicht gewesen!

Mit neuer Hoffnung näherte sie sich der am Himmel schwebenden Plattform, stieg auf in die Lüfte, badete plötzlich genießend im Sonnenlicht, was sie bisher nicht wahrgenommen hatte. Und lächelte. Jetzt würde alles gut werden. Ganz sicher.