Ernste Unterredung in Malfoy Manor

Vera gewann den Eindruck, dass es Marcus in der Schule wirklich nicht gut ging. Die Herbstferien verbrachte er zu Hause, und er hatte, ganz gegen seine Gewohnheit, kaum etwas von der Schule erzählt. Eines Abends sagte er zu Vera:

„Ich überlege mir, aus der Quidditch-Mannschaft auszutreten."

„Was? Du warst doch so stolz, dazuzugehören, das kannst du doch nicht machen!"

„Es hat keinen Zweck, wenn nicht alle aus der Mannschaft mich unterstützen. Mutter, glaubst du, ich kann neben der Schule hier in den Judoklub gehen, gäbe es nicht eine Möglichkeit, an den Wochenenden nach Hause zu kommen und am Training teilzunehmen?"

„Das stelle ich mir nicht so einfach vor", antwortete Vera. „Aber ich kann mich erkundigen, ob so etwas machbar ist. Andererseits weiß ich nicht, ob damit das Problem wirklich gelöst ist. Ist es immer noch dieser Draco, der dich ärgert?"

„Er ist der Anführer, und es gibt ziemlich viele, die auf seiner Seite sind."

„Und gibt es denn niemanden, der auf deiner Seite ist?"

„Doch, aber die meisten sind aus den anderen Häusern, in Slytherin gibt es nur wenige, die nicht gegen mich sind."

Vera beschloss, dass es an der Zeit war, etwas zu unternehmen.

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Wieder einmal hatten sie einen angenehmen Samstag bei den Weasleys verbracht. In der folgenden Woche würde die Schule wieder beginnen, und während die Kinder im Garten Quidditch spielten, sprach Vera mit Molly über die Probleme, die Marcus mit seinen Mitschülern hatte:

„Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Soll ich zu Professor Dumbledore gehen?"

„Warum nicht? Es kann nicht schaden, mit ihm zu sprechen, er ist für die Probleme der Schüler immer aufgeschlossen."

Arthur Weasley war dazugekommen.

„Ginny und die Jungen haben mir schon alles erzählt, es ist wirklich schlimm, da sieht man, wohin dieser Reinblütigkeitswahn führt. Diese Leute sollten sich freuen, dass es muggelgeborene magische Menschen gibt, anderenfalls wären sie nämlich schon längst ausgestorben, die Damen und Herren von der Zaubereraristokratie!"

„Dieser Draco Malfoy ist ja wohl der Anstifter bei der ganzen Sache, vielleicht sollte ich mal mit seinen Eltern sprechen, ich meine, bevor ich Albus Dumbledore mit der Angelegenheit behellige."

„Mit den Malfoys sprechen, da hast du dir was vorgenommen, Vera", sagte Molly kopfschüttelnd, „ich halte das nicht für eine gute Idee."

„Aber Molly, reinblütig oder nicht, sie haben als Eltern doch trotzdem ein paar Pflichten, - unter anderem, ihren Sohn anständig zu erziehen!"

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Es war nicht so einfach gewesen, zum Landsitz der Malfoys zu kommen. Ganz zu schweigen davon, dass sie mehrere Eulen hatte schicken müssen, bevor man ihr endlich geantwortete hatte:

„Wir können Ihnen für die gewünschte Unterredung folgenden Termin anbieten: 25. Oktober von 16 bis 16.30. Um Pünktlichkeit wird gebeten."

Vera hatte das Apparieren noch nicht gelernt, und die Kamine der Malfoys waren nur für ausgewählte Besucher reserviert. Also musste sie mit dem Zug bis zum nächstgelegenen Ort fahren, um von dort aus mit dem Besen und Marcus' Tarnumhang bis zum Anwesen der Malfoys zu fliegen.

Nun stand sie vor der großen Tür und wartete darauf, dass jemand ihr öffnen würde. Was sollte sie mit dem Besen tun? Ihn draußen stehen lassen? Oder hatten sie einen Schrank, wo man ihn abstellen konnte? Wahrscheinlich benutzte hier niemand einen Besen, sicher apparierten sie alle. Vera wünschte, sie würde sich mit den Gepflogenheiten in der Zaubererwelt besser auskennen.

Eine kleine Elfe öffnete ihr und wies ihr den Weg durch einen dunklen Korridor zu einer großen Treppe. Vera deutete fragend auf ihren Besen, den die Elfe ihr abnahm und in einen Korb neben der Treppe stellte. Dort stand schon ein Feuerblitz, allerneustes Modell.

Sie ging die Treppe hinauf, oben wartete wieder ein Hauself auf sie und klopfte an einer der vielen Türen.

„Herein!"

Sie betrat den Raum. Es war ein riesiger Salon, vollgestellt mit alten Möbeln und vielerlei kostbaren Objekten.

In der Mitte des Raums stand ein Mann mit langem weißblonden Haar in schwarzer Zaubererrobe. Die Tür wurde hinter ihr geschlossen. Sie ging auf ihn zu und sagte:

„Guten Tag, ich bin Vera Abendrot, Sie müssen Mr. Malfoy sein. Es freut mich, Sie kennen zu lernen."

„Worum geht es, Frau Abendrot? Es wäre schön, wenn Sie es möglichst kurz machen könnten, ich habe nicht viel Zeit."

Er warf ihr aus seinen graublauen Augen einen kühlen Blick zu und wies auf einen der Sessel.

„Nehmen Sie Platz." Er selbst zog es offenbar vor, ungeduldig im Raum auf und ab zu gehen.

„Es geht um meinen Sohn, Marcus. Er ist in Hogwarts, im zweiten Schuljahr, außerdem im Quidditch-Team von Slytherin, wie Draco, Ihr Sohn, also es geht auch um Draco und…"

„Und?"

Vera wusste nicht recht, wie sie die Sache angehen sollte, und seine Ungeduld war schon fast körperlich spürbar. Sie fuhr fort:

„Wenn Sie nicht so viel Zeit haben, könnte ich vielleicht mit Ihrer Frau…."

„Meine Frau ist nicht da, und außerdem kümmere ich mich persönlich um die Schulangelegenheiten meines Sohnes."

Also dann, dachte Vera. Ich werde mich doch von diesem Mann nicht einschüchtern lassen.

„Gut, kurz und knapp. Ihr Sohn und seine Freunde tyrannisieren Marcus ständig wegen seiner Herkunft, und ich möchte Sie bitten, dem ein Ende zu machen."

Zum ersten Mal schien er sie wirklich wahrzunehmen. Er taxierte sie von oben bis unten; sie wusste, dass sie mit ihren Jeans und dem weiten Pullover nicht gerade angemessen gekleidet war, aber sie hatte ja schließlich nicht in Zaubererrobe reisen können.

„Seine Herkunft. -  Sie sind Muggel, Ihr Mann auch?"

„Mein geschiedener Mann, ja."

„Und Ihr Sohn ist in Slytherin? Sehr befremdlich. Das kann nur ein Irrtum sein. Dieser Dumbledore und sein skurriles System, es wird Zeit, dass in Hogwarts wirklich objektive Auswahlmethoden eingeführt werden."

„Aber, Mr. Malfoy, Marcus gehört jetzt zum Haus Slytherin und hat keine andere Wahl. Es ist ja nicht seine Schuld, und wie gesagt, er wird die ganze Zeit gehänselt und verspottet, woran Ihr Sohn Draco einen nicht geringen Anteil hat."

„Nun ja, ich weiß nicht recht, wie ich Ihnen da helfen kann. Es besteht ja immer noch die Möglichkeit, Ihren Sohn von der Schule zu nehmen, wenn er den, äh, Belastungen des Internatsleben nicht gewachsen ist."

Vera schluckte. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie spürte, wie der Zorn in ihr aufwallte. Mr. Malfoy begann wieder ungeduldig hin und her zu gehen.

Vera erhob sich von ihrem Sessel und fragte:

„Ist das Ihr letztes Wort zu der Angelegenheit?"

Er schaute irritiert zum Fenster, hatte es da nicht gerade geblitzt? Dann antwortete er:

„Ich fürchte, ja", und setzte hinzu:

„Wenn Sie mich nun bitte….", ein Donner krachte in der Ferne.

„Ja natürlich, ich werde Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, und wenn ich mich beeile, schaffe ich es noch, bevor das Gewitter losbricht", sagte Vera und verließ das Zimmer.

Sie rannte, so schnell sie konnte, die Treppe hinunter, ergriff ihren Besen, und öffnete die Haustür. Sie trat hinaus. Es war ein warmer Herbsttag. Über ihr schien die Sonne von einem tiefblauen Himmel herab auf die bunten Blätter der Kastanienbäume, die die Auffahrt zum Haus säumten. Sie schwang sich auf ihren Besen und hörte, wie im Haus die Blitze und Donnerschläge immer schneller aufeinander folgten, und dann war das Prasseln des Gewitterregens zu vernehmen, der sich nun mit voller Wucht in den Salon der Malfoys ergoss. Schon in der Luft, meinte sie noch, ein lautes Fluchen zu hören; sie gab dem Besen die Sporen und verließ, so schnell sie konnte, das Landgut der Malfoys.