Ahnenforschung

Albus Dumbledore seufzte. Er hatte dieses Jahr wirklich genug Probleme, und der Sprechende Hut war nicht gerade das drängendste davon. Aber möglicherweise war es einfach zu lösen, dann war er diese Sorge wenigstens los.

Er nahm Kontakt mit einem guten Bekannten in der Mysteriumsabteilung auf. Das Archiv, in dem er ihn bat, nach Informationen zu suchen, war streng geheim. Eigentlich hätte es nach dem Sturz des Dunkeln Lords aufgelöst werden sollen, doch die Mühlen der Bürokratie mahlten langsam, da war das Zaubereiministerium keine Ausnahme, und man konnte nicht so einfach Akten vernichten und wegwerfen, ohne sie vorher gründlich überprüft zu haben.

Während der dunklen Jahre  hatte man damit begonnen, für jeden Zauberer und jede Hexe ein möglichst vollständiges Ahnenregister anzulegen. Die Elite sollte nach dem Willen des Unnennbaren aus möglichst reinblütigen Zauberern bestehen: alle, die die Schulen und Universitäten besuchen wollten und später eine Führungsposition anstrebten, sollten mindestens eine Linie völlig reinblütiger Vorfahren nachweisen können.

„Ich werde dir also eine Liste mit Namen zukommen lassen und möchte dich bitten, sie für mich anhand des Archivs zu überprüfen. Ich kann mich doch darauf, verlassen, dass diese Angelegenheit mit äußerster Diskretion behandelt wird."

„Natürlich, Albus. Jedem anderen würde ich diese Bitte abschlagen, aber bei dir weiß ich, dass du die Informationen nicht zum Nachteil der Betroffenen verwenden wirst."

„Ich kann dir versichern, dass genau das Gegenteil meine Absicht ist. Vielen Dank für deine Hilfe!"

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Marius war gekommen, um Marcus für die Weihnachtsferien abzuholen. Er saß mit Vera in der Küche, um das Notwendige zu besprechen. Dann wollte Vera ihm einige Fragen über seine Familie stellen, die sie für Marcus' Stammbaum brauchte. Wie so oft, wenn von seiner Familie die Rede war, war Marius irritiert: 

„Was sind denn das für Fragen? Was willst du denn von meiner Familie wissen, das kann dir doch jetzt egal sein, wir haben doch nichts mehr miteinander zu tun. Was mein Vater für ein Mensch war? Er war furchtbar, das habe ich dir doch alles schon erzählt. Er gehörte einer extremistischen Partei an und wollte, dass ich da auch eintrete. Er hat immer versucht, mich für deren Jugendorganisation zu begeistern, redete von dem Sports- und Kameradengeist dieser Gruppe, versuchte, mich damit zu ködern, dass man dort Kampfsport und Umgang mit Waffen lernt. Ich habe das einmal mitgemacht und fand es furchtbar. Einmal hat er mich sogar in der Nacht zu so einer Versammlung mitgenommen. Da standen lauter vermummte Gestalten, und es wurde ein komisches Feuerwerk abgebrannt. Da war am Himmel plötzlich so ein Totenschädel mit einer Schlange erschienen. Ich war damals erst elf und hatte eine Heidenangst. Du weißt doch, dass ich deshalb dann mit siebzehn von zu Hause weggegangen bin. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben."

„Gab es denn sonst noch etwas Besonderes in deiner Familie? Ich meine, Personen mit besonderen Fähigkeiten, irgendwelchen auffallenden Eigenarten?"

„Nicht dass ich wüsste, Vera, was soll denn diese Ausfragerei, willst du mich wieder psychoanalysieren, willst du zu x-ten Mal eine Erklärung dafür, warum unsere Ehe nicht gehalten hat? Weil mein Vater die ganze Familie tyrannisiert hat? Was weiß ich?"

Er begann, nervös mit dem Stab herumzufuchteln, der auf dem Tisch lag.

„Jedenfalls habe ich mich von meiner Familie vollkommen losgesagt, ich wollte nicht zu diesen Verbrechern und Rassisten gehören, du weißt, denen, die den vergangenen Zeiten nachtrauern, die…"

Er brach ab. Aus dem Stab begannen, dunkelrote Funken zu sprühen, und es knallte im ganzen Raum wie bei einem Feuerwerk.

„Was ist das denn? Was ist das für ein neues Spielzeug?"

„Das -  ist -  Marcus' -  Zauberstab", sagte Vera langsam, jedes Wort einzeln betonend. Marcus stürmte aus dem Wohnzimmer.

„Du kannst zaubern, Vater!" rief er aus.

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Kurze Zeit später schickte Vera Albus Dumbledore die gewünschten Familieninformationen, begleitet von einem kurzen Brief, in dem sie von der erstaunlichen Tatsache berichtete, dass Marcus' Vater offensichtlich auch magische Fähigkeiten besaß, die er aber noch nicht richtig wahrhaben wollte, ja, er wehrte sich mit allen Kräften gegen den Gedanken, dass er ein Zauberer sein sollte. Nur um Marcus einen Gefallen zu tun, ließ er hin und wieder aus dessen Zauberstab einige Funken sprühen…

Nach den Weihnachtsferien bat Professor Dumbledore Vera zu sich, um ihr über die Ergebnisse seiner Nachforschungen zu berichten.

„Setzen Sie sich, Vera, ich habe wirklich interessante Nachrichten für Sie. Es überrascht mich nicht, dass Marius Becker magische Fähigkeiten hat. Sein verstorbener Vater wird in dem speziellen Archiv als ein mächtiger Schwarzmagier geführt, der einer der frühen Anhänger Voldemorts war. Er baute sich eine parallele Existenz in der Muggelwelt auf,  in der er ebenfalls zur dunklen Seite gehörte. Seiner Frau, einer Hexe aus einer alten reinblütigen Familie, verbot er bei der Heirat die Zauberei und zwang sie, als Muggel zu leben. Zu seinem Sohn, Marius, besteht der Vermerk „Squib" in der Akte. Nun, das scheint ja nicht so ganz zu stimmen."

„Ja, aber außer Funken sprühen und ein bisschen knallen, scheint er nichts zu können."

„Wenn er erst den Zauberstab bekommt, der wirklich für ihn bestimmt ist, könnte das ganz anders aussehen."

„Aber er weigert sich sowieso, über die Sache zu reden. Und wenn er erst erfährt, wozu sein Vater seine magischen Fähigkeiten benutzt hat, dann wird er sich in seiner Ablehnungshaltung nur noch bestätigt fühlen."

„Ja, Vera, und man kann ihn sogar verstehen. Er allein wird zu entscheiden haben, ob er als Zauberer oder Muggel leben möchte."

Vera dachte an Marcus, und daran, wie wichtig es für ihn war, dass sein Vater ihn akzeptierte….

„Und nun zu Ihrer Familie, Vera", sagte Dumbledore. „Da hätten wir mütterlicherseits Ihre Großtante Clara, die eindeutig eine Hexe war. Und auf der Seite Ihres Vaters sind wir auf dessen Mutter gestoßen, die bei seiner Geburt starb, und über die in Ihrer Familie so gut wie nichts bekannt zu sein scheint…"

„Ja", warf Vera ein, „ihre Existenz wurde völlig verdrängt."

„… und die einem alten osteuropäischen Hexengeschlecht angehörte."

Vera war sprachlos.

„Und nun?" fragte sie.

„Es ist Ihre Sache, ob und wie Sie diese Informationen nutzen wollen, Vera, um Marcus das Leben in der Schule zu erleichtern. Ich werde jedenfalls diese Tatsachen dem Ministerium zu berichten haben, denn man hat die Absicht, dort den Sprechenden Hut zu untersuchen, - übrigens, ich bin mir sicher, Lucius Malfoy steckt hinter dieser Initiative, ich frage mich nur, wieso er sich plötzlich so sehr für diesen Hut interessiert."

„Weil er meint, dass Muggelgeborene nicht nach Slytherin und nicht mal nach Hogwarts gehören. Das hat er mir selbst gesagt, als ich wegen Marcus bei ihm war…"

Vera zögerte, dann fuhr sie fort: „Professor Dumbledore, ich glaube, ich habe da etwas Dummes getan. Als er mir sagte, ich könnte ja Marcus von der Schule nehmen, da bin ich einfach ausgerastet…"

Und sie berichtete ihm von ihrem Wutausbruch in Malfoy Manor.

Albus Dumbledore schüttelte ungläubig den Kopf: „Sie haben … was? Im Salon? Vera, Sie wissen, dass das ein unmögliches Verhalten ist. So etwas tut man nicht. Also wirklich… Das ist einfach…. köstlich, köstlich!" Er brach in ein unkontrolliertes Gelächter aus, dann wischte er sich die Tränen aus den Augen und sagte: „Das hätte ich zu gern gesehen, Blitze und Donner, einfach köstlich…"

„Aber, Spaß  beiseite", fuhr er, noch außer Atem vom Lachen, fort, „ich werde bei Gelegenheit Lucius darüber informieren, dass Marcus einen akzeptablen Stammbaum hat, und vielleicht wird er ja dann seinen Sohn zur Mäßigung ermahnen. Aber dafür kann ich natürlich nicht garantieren…, nach allem, was geschehen ist."