Familiengeheimnisse
Lucius Malfoy war gereizt. Die aktive Phase, in der sich seine Mutter befand, nahm einfach kein Ende, jeden Tag hatte sie neue Wünsche, und die Sache mit dem Kino hatte sich zu einer fixen Idee ausgewachsen. Außerdem rief sie ständig nach ihm, so auch jetzt wieder:
„Lucius, wo bleibst du denn, du hast mir doch versprochen, mit mir Tee zu trinken!"
Er unterdrückte seinen Ärger, so gut er konnte, und ging hinauf zu ihrem Zimmer.
Als er eintrat, saß sie am Tisch, dort waren neben dem Teegeschirr Unmengen von alten Papieren ausgebreitet, in denen sie mit zittrigen Händen herumkramte.
„Setz dich einen Moment zu mir, mein Sohn", forderte sie ihn auf. Er nahm am Tisch Platz, und sie tranken schweigend ihren Tee. Sie wühlte weiter in dem Durcheinander herum, und nach einer Weile hatte sie offenbar gefunden, was sie suchte. Sie zog ein altes verblichenes Foto hervor. Es war ein unbewegtes Foto, und es zeigte einen Mann von ungefähr dreißig Jahren. Er hatte dunkelbraunes kurzes Haar und graublaue Augen in einem ebenmäßigen Gesicht. Er lächelte in die Kamera, ein überaus charmantes Lächeln, bei dem er einen Mundwinkel ein wenig höher zog, was seinem Gesicht einen schelmischen Ausdruck verlieh; hätte das Bild sich bewegt, so hätte er wahrscheinlich dem Betrachter zugezwinkert. Sie drehte das Bild um. Auf der Rückseite stand: London, 1960, für meine über alles geliebte Julia, Dein Romeo.
„Er hieß natürlich nicht Romeo, aber er fühlte sich so", bemerkte seine Mutter dazu.
Was wird das jetzt wieder, dachte Lucius und fragte ungeduldig:
„Was ist das für ein Bild?"
„Lucius", begann sie in entschlossenem Ton, „ich weiß, niemand hier nimmt mich ernst, auch du nicht, - nein, widersprich mir nicht, ich weiß genau, was du denkst, und es stimmt ja auch, dass ich die meiste Zeit nur wirres Zeug von mir gebe, aber glaube mir, in diesem Moment weiß ich ganz genau, wovon ich spreche. Hör mir zu:
Dieser Mann auf dem Foto ist dein Vater, - nein, unterbrich mich nicht. Wie du siehst, war er Muggel, meine Familie lehnte diese Beziehung ab, und ich wurde mit Malfoy verheiratet. Allerdings erwartete ich damals schon ein Kind, dich. Als sie es merkten, war es schon zu spät, alles, was sie tun konnten, war, diese Tatsache sorgfältig geheim zu halten. Wer sich aber die Mühe macht, das Datum der Heiratsurkunde und dein Geburtsdatum zu vergleichen, wird sehen, dass die Zeit dazwischen nur sieben Monate betrug. Was aus deinem wirklichen Vater geworden ist, - sie veränderten sein Gedächtnis und veranlassten, dass er nach Amerika auswanderte, -weiß ich nicht. Auch mein Gedächtnis sollte verändert werden, aber die Erinnerungen waren zu stark und mein Widerstand zu groß. Der Gedächtniszauber blieb aber nicht ohne Folgen…."
Ihre Stimme war immer leiser geworden, und er hatte sich immer näher zu ihr beugen müssen, um ihre Worte noch zu verstehen, und nun schwieg sie, ihre Gedanken in weiter Ferne.
Lucius verließ leise das Zimmer. Was seine Mutter da erzählt hatte, das war doch völliger Unsinn! Aber sie war lange nicht mehr so klar gewesen wie heute, und sie hatte ganz zusammenhängend gesprochen….
