Kapitel 7

Wahrheiten

Haldir sah, wie Aithiel unter einem hinterhältigen Keulenhieb endgültig zu Boden ging und regungslos liegen blieb. Einer der Orks holte mit einem Fauchen mit seinem Säbel aus, um ihr den Todesstoß zu versetzen. Haldir riss einen Pfeil aus seinem Köcher und schickte ihn mit einem Gebet an Illuvatar auf den Weg. Zitternd bohrte sich das Geschoss in die Brust des Orks und zunächst schien es so, als würde der Treffer keine Wirkung erzielen. Gefährlich schwebte die schartige Klinge noch immer über Aithiel, doch dann fiel der Ork mit einem Ächzen nach hinten und sein Kumpan wurde einen Lidschlag später von einem der überlebenden Orkreiter getötet.

Die Ungewissheit, ob sie noch lebte, traf Haldir wie ein Schlag. Er war mit ihr geritten, um ihr zur Seite zu stehen, getrieben durch seine Selbstvorwürfe. Doch erneut war es ihm nicht gelungen, seine Schuld in irgendeinem Umfang zu verringern. Stattdessen war alles nur noch schlimmer geworden.

Er lenkte seinen Hengst näher an Aithiels Körper, doch es gelang ihm nicht, sie zu erreichen. Immer wieder sprangen Orks in seinen Weg, die unter seinen Schwertstreichen fielen und ihm den Weg versperrten. Haldirs Blick glitt über den Schauplatz des Kampfes und sein Herz sank. Seine Krieger waren zum Teil verletzt, wenn auch nicht schwer. Mehrere ihrer Pferde hatten sie jedoch verloren und damit ihren Vorteil verloren. Nun wehrten sie sich verbissen gegen die Menschen und die Orks, die sie schwer bedrängten.

Dir Orkreiter waren schwer angeschlagen. Fast alle kämpften inzwischen zu Fuß und Haldir schätzte, dass ein Dutzend von ihnen bereits gefallen war, eine Auszeichnung für ihre Kampfeskraft bei einer Auseinandersetzung gegen einen Gegner, der ihnen fünf zu ein überlegen war.

Haldir überlegte bereits, ob er einen Rückzug befehlen sollte, als es ihm endlich gelang, Aithiel Körper zu erreichen. Einer der Orkreiter, der ahnte, was er vorhatte, rief einen anderen Krieger zu sich und gemeinsam hoben sie Aithiel blitzschnell vor Haldir in den Sattel, um sich dann wieder in den Kampf zu stürzen. Die Treue der Männer ihrer Anführerin gegenüber konnte kaum eindrucksvoller bewiesen werden als durch diese Tat und Haldir war beeindruckt.

Aithiel Kopf lag schwer an seiner Schulter, als er sie mit seiner Linken festhielt und mit der Rechten sein Schwert benutzte, um sich seinen blutigen Weg durch die Kämpfenden zu bahnen. Ihr Blut, das aus ihren Wunden rann, sickerte langsam durch seine Rüstung und obwohl er spürte, dass sie noch atmete, zog sich sein Herz zusammen, als er ihr bleiches Gesicht betrachtete.

Dann geschah etwas, das so Unglaublich war, dass er zweimal hinsehen musste, um es zu begreifen. Elbische Bogenschützen traten zwischen den Bäumen hervor, fünfzig von ihnen, wenn nicht mehr. Auf einen unhörbaren Befehl spannten sie die Sehnen ihrer Waffe und dann flogen die Pfeile mit einem hohen Sirren auf das Schlachtfeld. Schreie des Schmerzes und der Überraschung wurden laut. Haldir gab seinen Männern das Zeichen zum Rückzug, um nicht in die Schusslinie zu geraten und registrierte, dass sie die Orkreiter ihm anschlossen.

Der Kampf entschied sich nun sehr schnell. Die Bogenschützen erledigten ihre Arbeit mit tödlicher Präzision und die letzten Orks suchten ihr Heil in der Flucht. Als sich eine gespannte Stille über den Kampfplatz legte, befahl Haldir seinen Männern, die elbischen Verwundeten und Toten zu bergen und die Orks und Menschen, die den Tod gefunden hatten, zusammenzutragen.

Rumil hastete vom Waldrand her auf ihn zu.

"Ist bei Dir alles in Ordnung?", rief er. Ihm stand der Schreck ins Gesicht geschrieben und als er Aithiel erblickte, musste er sichtlich schlucken. "Was ist mit ihr?"

"Ich weiß es nicht genau. Bist Du so gut und kümmerst Dich um sie?" Auch wenn er nichts lieber getan hätte als sich selbst zu überzeugen, wie es ihr ging - Herr Celeborn saß am Waldrand auf seinem Pferd und erwartete offensichtlich seine Meldung. Sanft ließ er Aithiel in Rumils Arme gleiten und ritt dann zu Galadriels Ehemann hinüber, den man eine lange Zeit nicht mehr im Kampf gesehen hatte. Gelassen blickte Celeborn ihm entgegen, seinen Bogen in der Hand, sein silbernes Haar und seine Mithrilrüstung glänzten im Licht des Mondes. Aus seinem Gesicht sprach reine Freundlichkeit.

"Haldir", sagte er liebenswürdig. "Wie man sieht, kamen wir gerade noch rechtzeitig."

"Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr kommen würdet, hatte ich selbstverständlich auf Euch gewartet!"

"Ist Euch nicht der Gedanken zu kommen, Euch mit Eurem Anliegen nicht an meine Gattin, sondern an mich zu wenden?" Trotz Haldirs kaum zu überhörenden Tadel blieb der Herr über Lorien ungerührt. Im Gegenteil, er lächelte ein wenig verschwörerisch. "Sie ist momentan nicht sehr gut auf Euch zu sprechen und dazu noch sehr beschäftigt. Der Ring hat Bruchtal verlassen und es ist zu erwarten, dass sein Träger ihn nach Lorien bringen wird." Haldir warf einen Blick über seine Schulter, um sich zu überzeugen, dass Aithiel gut versorgt wurde. Rumil war damit beschäftigt, ihre Schulter mit einem provisorischen Verband zu versorgen und bekam nun auch Hilfe von Anwar, einem Krieger, der Schüler bei den Heilern Loriens war. "Wie geht es der Anführerin der Orkreiter?"

"Ich wünschte, ich könnte Euch Gutes berichten." Haldir sah an seiner Kleidung das viele Blut, das sie in der kurzen Zeit, die er sie in den Armen gehalten hatte, verloren hatte und namenlose Angst stieg in ihm empor, nun, da sein Geist die Anforderungen des Kampfes endgültig hinter sich gelassen hatte. Sie durfte nicht sterben. Er hatte ihr noch etwas zu sagen.

Lord Celeborns Miene wurde düster, als er Haldirs Blick zum Schlachtfeld folgte. Dort wurden die gefallenen Elben vorsichtig emporgehoben, in Decken gewickelt und über die Rücken der wenigen Pferde gelegt, die noch lebten. Auch Aithlion, Aithiels Geliebter, wurde von zwei Männern geborgen und zu den Toten gelegt. Obwohl Haldir den Mann nicht gekannt hatte, spürte er doch Trauer, weil ihm bewusst war, wie sehr Aithiel unter diesem Verlust leiden würde.

"Galadriel lässt Euch etwas ausrichten", sagte Celeborn und wirkte nun sichtlich unbehaglich. "Nur Worte können tilgen, was Taten niemals auszulöschen vermögen. - Ich nehme an, Ihr wisst, was sie meint?"

"Das weiß ich allerdings", murmelte Haldir und hasste sich dafür, Galadriel für ihren Rat zu verurteilen. Sie behandelte ihn wie ein Kind, wusste er doch selbst, wie sehr es nötig war, dass er endlich die Wahrheit sprach. Er musste nicht daran erinnert werden. Ein Blick auf Aithiels leblosen Körper genügte bereits.

***

Es war ein freudloser Zug, der nach Lorien zurückging. Hinter den Elben loderte das Feuer, in dem die toten Körper von Orks, Menschen und Pferden verbrannten, um später dann als Asche über die Ebenen zu wehen. Vergessen würde dann ihr Kampf sein, wertlos ihr Opfer.

Haldir blickte oft zu der nicht zu übersehenden Rauchsäule zurück und verspürte Unruhe. Dies war der erste Kampf gewesen, den die Elben von Lorien im Angesicht des nahenden Krieges geführt hatten. Und es hatte Opfer gegeben. Er war nicht alt genug, um den ersten Ringkrieg erlebt zu haben und obwohl ihm dessen Grauen oft geschildert worden waren, so hatten ihn doch die Erzählungen nicht auf das Gefühl vorbereitet, in die starren Augen toter Elben sehen zu müssen.

Bahren waren gebaut worden, um die vier Schwerverletzten ohne allzu große Erschütterungen zu tragen. Rumil blieb stets in Aithiels Nähe und auch Haldir erwog es, doch Herr Celeborn forderte seine Anwesenheit an seiner Seite und so blieb ihm nicht anderes übrig, als den leblosen Körper aus der Ferne zu beobachten. Die Orkreiter, zusammengeschrumpft zu einer Gruppe von dreißig Männern, liefen ebenfalls nahe bei ihren Verwundeten, schweigend, wenn nicht geschlagen.

Sie erreichten Lorien nach einem Tag der Sorgen und Nachdenklichkeit mitten in der Nacht. Nachdem Celeborn für die Orkreiter Quartier angewiesen hatte, nahm er Haldir noch einmal zur Seite.

"Ich werde mit meiner Frau sprechen und sehen, was ich für Euch tun kann." Seine Augen glommen in der Dunkelheit mitfühlend auf. "Ich weiß nicht, um was es für Euch geht, aber ich kann es zumindest ahnen. Und nun geht nachsehen, wie es Aithiel geht."

Rumil wartete am Fuß des Baumes, auf dem die Heiler lebten und auf den man die Verwundeten getragen hatte, sichtlich nervös. Als er Haldir nahen sah, hob er den Kopf und sagte mit kühler Stimme:

"Wann hattest Du vor mir zu erzählen, dass Du in einen Kampf aufgebrochen bist? Ich habe das Recht zu wissen, wann Du Dich in Gefahr begibst und auch meine Freuden hineinführst." Die Kritik traf Haldir und er hob an, um sie zu verteidigen, doch Rumil winkte ab, plötzlich lächelnd. "Ich weiß, dass Du mich und Orophin beschützen willst, aber die Zeiten, in denen wir Dir wegen unserer Unerfahrenheit lästig waren, sind vorbei."

"Es war eine spontane Entscheidung", erklärte Haldir, der sich eingestehen musste, dass sein Bruder mit seinen Behauptungen richtig lag. Rumil lachte bedrückt.

"Du - spontan? Was ist geschehen?" Sie stiegen die Treppe zum Haus der Heiler hinauf und trafen auch viele Orkreiter, die auf den Stufen Platz genommen hatten und ihnen entgegenblickten. Die Spannung stand den meisten ins Gesicht geschrieben und als Haldir die höchste Plattform betrat, stellte sich einer der Männer in seinen Weg. Sein dreckverschmiertes Gesicht drückte widerwilligen Respekt aus, als er kurz den Kopf neigte. Die Grenzen zwischen ihnen waren verschwommen, die Vorurteile auf beiden Seiten waren fortgewaschen vom gemeinsam vergossenen Blut.

"Herr, wenn man Euch zu unseren Verwundeten lassen sollte, dann seid so gut, uns die Wahrheit über ihren Zustand zu sagen."

"Ich werde sehen, was ich für Euch tun kann", versprach Haldir und betrat dann mit Rumil den großen Talan der Heiler. Gelirion, der Oberste der Heilkundigen, kam ihnen entgegen und verwehrte ihnen durch seine beeindruckende Gestalt den weiteren Zutritt. Der Talan war zu mehreren Nischen geformt worden, von denen jede mit einem Vorhang abgetrennt werden konnte. Haldir sah Bewegung hinter vier der hauchdünnen, wenn auch undurchsichtigen Gespinste und versuchte sich nicht vorzustellen, was mit Aithiel in diesem Moment geschah und vor allem, welche Vorhersage die Heilkundigen für sie trafen. "Wie geht es den Verwundeten?", erkundigte er sich. "Kann ich sie sehen?" Damit meinte er niemand anderen als Aithiel und er bemerkte, wie Rumil ihn sinnend beobachtete.

Gelerion schüttelte ernst den Kopf.

"Allen Kriegern geht es den Umständen entsprechend. Sie werden bald über den Berg sein, aber ich kann noch keine Ruhestörung erlauben, es tut mir leid. Was die Frau angeht-."

"Sie heißt Aithiel", schnappte Haldir und hätte den älteren Elben am liebsten zur Seite gestoßen. Dessen Mundwinkel zuckten kurz.

"Ja. Aithiel. Sie hat viel Blut verloren, aber was mir wirklich Sorgen macht ist die Kopfverletzung." Er bemerkte, dass Haldir sichtlich betroffen war und setzte in endgültigem Tonfall hinzu: "Morgen früh kann ich Euch Genaueres sagen. Geht jetzt. Auch Ihr braucht wohl jetzt etwas Ruhe."

Unmissverständlich wies er in die Richtung der Tür und Haldir verließ den Talan mit geballten Fäusten. Frustration und Angst beherrschten ihn und das Letzte, was er wollte, war Ruhe. Rumil folgte ihm und übernahm es auch, den Kriegern mitzuteilen, wie es um ihre Kameraden stand. Nachdem er berichtet hatte, wie es um Aithiel stand, las Haldir aus allen Gesichtern tiefe Betroffenheit. Ganz offensichtlich schätzten sie ihre Anführerein sehr und so überraschte es Haldir nicht, dass einige sich wieder anschickten, vor dem Talan zu verharren und weitere Nachrichten abzuwarten. Er wollte sich am liebsten zu ihnen gesellen, doch Rumil legte die Hand auf seine Schulter und drückte ihn in unmissverständlicher Geste zur Treppe.

"Was soll denn das?", beschwerte er sich, doch Rumil ließ ihn erst los, als sie die Hälfte der Stufen bereits hinter sich gebracht hatten. "Was machst Du?"

"Ich zwinge Dich dazu, Dich jetzt erst einmal um Dich selbst zu kümmern. Geh Dich waschen und schlaf etwas. Du siehst furchtbar aus." Er wies auf die dunklen Blutflecken auf Haldirs Tunika "Wir können jetzt nichts tun außer warten."

Haldir nickte. Fürs Erste musste er sich dem freundlichen Befehl seines Bruders folgen, da er wusste, dass Rumil sehr bestimmt sein konnte. Doch er wusste, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde.

***

Eine Stunde später, es ging auf Mitternacht zu, trat Haldir den Weg zurück zum Talan der Heiler an, obwohl er wusste, dass es vielleicht umsonst war. Die Stufen hinauf in die Baumkrone schienen endlos und als er schließlich die Plattform erreichte, stellte er fest, dass die Orkreiter sich nicht bewegt hatten. Dumpf brüteten sie auf ihren Plätzen auf den Stufen, in Gedanken versunken, eine stumme Leibwache für ihre Verwundeten. Ohne ein Wort ließen sie ihn passieren.

Gelerion stand mit verschränkten Armen in der Tür.

"Ich hatte mir schon gefragt, wann Ihr erneut auftauchen würdet." Er schien nicht überrascht zu sein, Haldir wiederzusehen. Um seine Augen vertieften sich die feinen Fältchen, die von seinem hohen Alter sprachen, und er winkte den späten Besucher in den Raum, ohne dass Haldir ihn erneut hätte danach fragen können. "Ein paar Minuten, nicht mehr. Versucht, sie nicht aufzuregen." Der Heiler ging durch den Talan, der nur von mattem goldenen Licht erhellt war, das von einigen Öllampen ausging, deren Flammen im leichten Nachtwind zuckten. Er schob einen der Vorhänge beiseite und schloss ihn hinter Haldir, der nur zögerlich näher trat wieder. "Wenn Ihr mich braucht, ruft nur", bat er, dann entfernten sich seine Schritte.

Haldir blickte auf Aithiels Körper hinunter, der reglos unter einer leichten Decke auf dem Bett lag. Ihr Gesicht war bleich und er musste sehr genau hinsehen, um das Heben und Senken ihres Brustkorbs zu erkennen. Neben dem Verband, der sich um ihren Kopf spannte, konnte er unter dem dünnen Hemd, das man ihr angezogen hatte, Bandagen um ihre Schulter und ihr Bein erkennen.

Er fühlte sich unbeholfen, als er sich auf die Bettkante setzte. Aithiel leblos zu sehen, im vollkommene Gegensatz zu dem, was sie sonst darstellte, war schmerzhaft. Erneut drängte sich ihm das Bewusstsein seiner Schuld auf und für eine Weile stützte er die Stirn in die Hände, gab sich der Erkenntnis hin, dass er ihr auf dem Schlachtfeld nicht hatte helfen können.

Es war ein Fehler gewesen, ihr nicht sofort die Wahrheit zu sagen. Aithiel hätte ihn für seine Tat verurteilt und Lorien möglicherweise verlassen, bevor etwas so Furchtbares hätte passieren können. Stattdessen hatte er es zugelassen, dass sie vielleicht niemals erfuhr, was er zu sagen hatte. Und wenn sie leben würde, dann musste er einen Zeitpunkt abwarten, an dem sie die Nachricht verkraften konnte. Doch das Bedeutendste, das sich ihm in den Weg stellte, war, dass er sie nicht verletzen wollte, auch wenn ihm klar war, dass er es um seiner Selbst Willen musste.

Ein leises Stöhnen riss ihn aus den düsteren Gedanken. Er blickte auf und direkt in Aithiels verwirrte Augen, die in zunächst nicht wahrzunehmen schienen, sich dann aber klärten. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, als sie leise fragte:

"Aithlion?" Haldir wollte nicht antworten und wandte das Gesicht ab. Plötzlich spürte er, wie sich ihre Hand auf seine legte und sein Blick wurde zurückgelenkt, ganz gleich, wie sehr sich sein Geist dagegen wehrte. Die kleine Stelle, an der sie ihn berührte, fühlte sich heiß an, obwohl ihre Haut eiskalt war. "Bitte, Haldir", wisperte sie.

"Es tut mir leid", antwortete er und wusste, dass er nicht sehr sagen musste. Er ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. Aithiels Augen wurden groß und schimmerten verdächtig und schließlich drehte sie den Kopf im Kissen, um ihn nicht ansehen zu müssen. Er konnte das Zittern ihrer Hand spüren.

Eine Weile saß er einfach da und ertappte sich irgendwann dabei, ihren Handrücken mit dem Daumen zu streicheln, eine tröstende Geste, die sich seltsam vertraut anfühlte. An ihren regelmäßigen Atemzügen erkannte er, dass sie eingeschlafen war. Sachte legte er ihr Hand zurück auf die decke und verließ dann den Talan.

Draußen traf er auf Rumil, der im Mondlicht an einem der Äste lehnte.

"Du bist berechenbar, großer Bruder", erklärte er. "Aber ich hätte nicht erwartete, dass wir uns einmal für dieselbe Frau interessieren würden."

"Rede keinen Unsinn", wich Haldir missmutig aus. Sein Herzschlag dröhnte viel zu laut in seinen Ohren. "Ich mache mir Sorgen um sie, das hat noch gar nichts zu bedeuten. Und überhaupt, wie kannst Du mir diesen Vorwurf machen, wenn noch nicht einmal klar ist, ob sie den morgigen Tag überhaupt erlebt!" Erstaunt stellte er fest, wie wütend ihn die Unterstellung seines Bruders machte. Wissentlich würde er Rumil niemals ins Gehege kommen und bislang hatte er gedacht, dass es seinem Bruder auch klar war.

Rumil legte den Kopf zu Seite und lächelte wehmütig.

"Nichts hat Dich in den letzten Jahren so sehr aus dem Konzept gebracht wie sie. Selbst ein Blinder würde die Spannung zwischen Euch bemerken." Er senkte die Stimme, als einer der Heiler aus dem Talan trat und zu einer der Hängebrücken ging. Als er in der nächsten Baumkrone verschwunden war, setzte Rumil hinzu: "Es ist ein Fehler, Haldir. Ich sage das nicht, weil ich sie für mich will, sondern weil ich mir Sorgen um Dich mache. Je näher Du sie an Dich heranlässt, desto schmerzhafter wird sie Wahrheit für Euch beide sein."

Haldir erkannte die Wahrheit, die sein Bruder ihm darbot und nickte nur leicht. Er durfte nicht zulassen, dass sie diese Gedanken in seinen Kopf schlichen, wenn er in Aithiels Nähe war. Er würde sie nicht besuchen, nicht mit ihr reden. Und irgendwann würde zu ihr gehen, ihr die Wahrheit sagen und ihr denn den Rücken zukehren. Ganz gleich was geschah, er konnte es nicht ertragen, ihr so nahe gekommen zu sein.