Kapitel 12
In die Hölle
Die Orkreiter ritten scharf nach Süden, ohne große Pausen einzulegen. Eine lange Zeit orientierten sie sich am Lauf des Anduin, indem sie sich stets in einiger Entfernung von den sandigen Ufern hielten. Je weiter sie sich vom Goldenen Wald fortbewegten, desto steiniger wurde die Gegend um den Fluss und sie stieg leicht an. In weiter Ferne lag der Rauros, der sich mit Macht über eine gewaltige Klippe quälte und dann in die Tiefe donnerte wie ein brüllendes Ungeheuer.
Als sie am Abend des zweiten Reisetages einen Nebenarm des Anduin überquerten, wies Rumil nach Westen.
„Dort liegt der Fangorn, ein riesiger Wald, der sich an die letzten Ausläufer des Nebelgebirges schmiegt. Warst Du schon einmal dort?"
Aithiel, die bislang abwechselnd ihre Hände und den Horizont beobachtete hatte, hob überrascht den Kopf. Es waren die ersten Worte, die Rumil seit ihrer Abreise gesprochen hatte und sie waren derart belanglos, dass Aithiel lächeln musste. Er wusste ganz genau, dass sie mit ihm noch nicht über Haldir reden konnte. Der bloße Gedanke an ihn war wie eine frische Wunde, die sie trotz aller Wut, die sie ebenfalls in sich trug, nicht schließen konnte.
„Nein, wir haben uns bislang immer recht weit im Norden aufgehalten." Aithiel beobachtete, wie Rumil dem weißen Falken, der auf seiner Schulter saß, sanft das Fell zauste. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er das Tier aus Lorien mitgebracht hatte und runzelte die Stirn. „Woher hast Du den Vogel?"
„Galadriel hat ihn mir geschickt, mit einer Botschaft. Alles geht zuhause seinen gewohnten Gang." Er senkte kurz den Kopf, plötzlich nachdenklich. „Ich vermisse meine Brüder. Obwohl ich schon oft fort war, ist es dieses Mal anders."
„Du hättest nicht um meinetwillen mitkommen müssen." Aithiel schluckte schwer und versuchte, die Schuldgefühle, die sie die ganze Zeit über mit sich herumtrug, Luft zu machen. „Wenn Du Galadriel gesagt hättest, dass Du nicht mitgehen möchtest, hätte sie sicher nachgegeben. Ich nehme es Dir nicht übel, dass Du mir nicht gesagt hast, dass-."
Rumil winkte ab, ehe sie den Satz zuende bringen konnte.
„Es hat nichts damit zu tun." Er lächelte jungenhaft und seine blauen Augen strahlten vor Schalk. „Du weißt, dass ich gerne in Deiner Nähe bin und Galadriels Bitte war eine Ehre für mich. So kam eines zum anderen. Und was Haldir angeht-." Er zuckte die Achseln. „Jeder von uns drei Brüdern lebt sein eigenes Leben und das schon sehr lange. Wir alle übernehmen die Verantwortung für das, was wir tun und auch wenn ich es nicht gutheißen kann, wie er sich verhalten hat, so gab mir das noch lange nicht das Recht, ihn zu bevormunden. Wenn ich Dich damit verletzt habe, tut es mir leid."
„Ach, Rumil!", seufzte Aithiel. Dass er sich bei ihr entschuldigte, hätte sie nicht erwartet. Sie wollte ihn beruhigen, doch in diesem Moment erblickte sie die zwei Reiter, die sie gegen Mittag in Richtung Westen vorausgeschickt hatte. Die Männer kamen schnell heran und Aithiel musste nur in ihre Gesichter blicken, um zu erkennen, dass etwas vorgefallen sein musste.
Die Pferde, denen der Schaum vor dem Mund stand, scheuten, als sie hart an der Spitze des kleinen Zuges gezügelt wurden. Aearnon, einer der beiden Krieger, verneigte sich kurz vor Aithiel, der wieder einmal auffiel, wie sehr sie doch im Ansehen der Männer durch ihre Entscheidungen gestiegen war – auch wenn der Auszug aus Lorien eher ihren Gefühlen als ihrem Verstand entsprungen war.
„Massen von Orks im Westen", sagte Aearnon und wischte sich die winzigen Schweißtropfen ab, die sich unter der sengenden Sonne auf seiner Stirn gebildet hatten. „Keine normalen Orks. Eine neue Rasse, wie es aussieht. Großer und kräftiger – und wohl auch klüger. Wir wurden entdeckt und konnten nur mit knapper Mühe entkommen."
„Was würdet Ihr vorschlagen?" Der Mann sah verwundert aus, doch dann schien er sich an die ungewohnte Verantwortung zu gewöhnen. „Ihr könnt die Situation besser einschätzen als sich!", setzte Aithiel hinzu. Anders als ihr Vater, der die Trupp straff geführt und sich selten hatte beraten, setzte sie auf das Wissen jedes einzelnen Orkreiters. Wie die Männer darauf reagieren würden, blieb abzuwarten.
„Wir sollten uns auf jeden Fall weiter nach Osten schlagen, in Richtung des Weißen Gebirges. Es ist das Land Gondor, das den Elben freundlich gesinnt sind. Zudem gibt es genug Orte, an denen wir uns verbergen können."
„Gut", nickte Aithiel. „So werden wir es machen. Gebt den Befehl an die Männer weiter!"
Die zwei Reiter folgten der Anweisung. Rumil wartete, bis sie außer Hörweite waren und erkundigte sich dann:
„Ich hätte gedacht, dass Du der Gefahr ins Auge blicken würdest!"
„Wir sind zwar eine schlagkräftige Gruppe, doch geisteskrank sind wir nicht!", gab sie zurück. „Wir müssen ein sicheres Lager finden, dann können wir einen Vorstoß in den Westen wagen. Für die meisten von uns ist es unbekanntes Gebiet und ich möchte kein unnötiges Risiko eingehen." Sie blickte über die Schulter zurück. „Es sind so viele gestorben, die ich von Kindesbeinen an kannte. Kaum zu glauben, dass die Männer, die ich von Kindesbeinen an kannte, nun nicht mehr hier sind. Mögen sie im Tode Ruhe finden."
Rumil nickte und legte eine Hand auf ihren Arm. Sie genoss sie kurze Berührung und lächelte ihn an, froh über seinen Beistand.
„Sei nicht traurig", sagte er leise. „Es tut mir weh, Dich so zu sehen."
Sie wollte ihm versichern, dass es ihr gut ginge, doch sie konnte es nicht. Das Mitgefühl in Rumils Augen erinnerte sie nur noch mehr daran, welche Gefühle in ihrem Inneren tobten. Sie gab sich große Mühe, um es zu verbergen, doch es war ihr, als sei sie aus Stein, als reagiere sie nur noch, anstatt handeln zu können. Und Rumil hatte sie durchschaut.
***
Sie waren nach Südosten weitergeritten, hatten in mehreren Tagen einige Nebenarme das Anduin hinter sich gelassen. Mit der Zeit hatte sich die Landschaft verändert, die saftigen, sanften Hügel waren verschwunden. Nun erhoben sich zu allen Seiten Felsen, durchbrochen von kleinen Wäldchen. Wolken bedeckten den Horizont, aus denen sich schroffe Felsgrate in den Himmel reckten, die sich dann im Süden zum Weißen Gebirge auftürmten.
Aithiel schätzte, dass sie noch zwei Tage reiten mussten, um die Berge zu erreichen. Sie hatten einen Ort mit dem Namen Amon Hen hinter sich gelassen, einen Gipfel am Ufer des Sees Nen Hithoel. Er bildete die Grenze zwischen dem Land der Pferdemenschen und Gondor, jenem uralten Königreich, das nun dem Zerfall entgegenblickte. Lange hatte dieses Land keinen König mehr gekannt, war von habgierigen Statthaltern in den Ruin getrieben worden. Die großen Städte zerfielen und auch wenn Aithiel Bauten aus Stein nicht mochte, so empfand sie doch Mitgefühl für die Menschen.
Der Tag ging seinem Ende zu und sie schlugen ihr Lager im Schutz einiger großer Kiefern auf. Einige Späher, die Aithiel ausgeschickt hatte, kamen zurück und gaben Entwarnung. Die Orktrupps, die sie in der Zeit der Dämmerung gesichtet hatten, waren Richtung Westen gezogen. Nur aufgrund dieses Wissens wagten es die Männer, einige kleine Feuer zu entzünden. Wenig später durchbrach lediglich das Knacken des brennenden Holzes das Schweigen, das sich unter den rauschenden Gipfeln ausbreitete.
Aithiel hatte etwas abseits ihre Decke an einem großen Stein ausgebreitet und lehnte mit dem Rücken daran. Sie verzichtete auf ein Feuer, sondern starrte in die Dunkelheit. Es war eine schöne klare Nacht und ein Orkreiter nach dem anderen nutzte die Ruhe, um zu schlafen und Kräfte zu sammeln. Einige Stunden vergingen, in denen nicht geschah und Aithiel keine Ruhe finden konnte.
Sie dachte an die Zärtlichkeit, mit der Haldir ihr begegnet war, der unterschwelligen Ängstlichkeit, mit der er sie berührt hatte. Warum hatte sie nur nicht früher begriffen, was in ihm vorging? Dass er ihre Mutter getötet und sich dann nicht getraut hatte, es ihr zu sagen, war furchtbar. Aber sie ahnte, dass er es nicht getan hatte, weil sie ihm in irgendeiner Weise etwas bedeutet hatte und er sie nicht verlieren wollte. Doch mit ihr zu schlafen, ohne ihr die Wahrheit gesagt zu haben, war in ihren Augen unverzeihlich. Er hatte sich zur selben Zeit in ihren Körper und ihre Seele geschlichen wie ein Dieb.
Die Wachen wechselten und Rumil, der die erste Schicht übernommen hatte, kehrte zurück. Aithiel kam es nicht ungelegen, als er seine Satteltaschen aufhob und zu ihr ging. Schweigend entrollte er seine Decke und setzte sich neben sie. Aus einer der Taschen holte er einen Lederschlauch und hielt ihn ihr entgegen.
„Was ist da drin?", erkundigt sie sich skeptisch. Rumil hob die Brauen und erinnert Aithiel schmerzlich einmal mehr an Haldir.
„Ein leichter goldener Wein, um Dich ein wenig aufzuheitern."
„Rumil", murmelte Aithiel leicht entnervt, griff aber dennoch nach der Flasche. Angenehm rann der Wein durch ihre Kehle und wärmte ihren Magen. Entspannt schloss sie für einen Moment die Augen. „Das ist nicht der beste Weg."
„Ich bin auch nicht für meine guten Ideen bekannt", gab er grinsend zu und beugte sich dann vor. Aithiel fühlte seine Lippen angenehm warm auf den ihren und für einen Moment ließ sie ihn gewähren, doch dann zog sie sich zurück. Rumil sah aus, als sei er bei einem Spaziergang in Galadriels Garten ertappt worden. „Wie gesagt", sagte er zerknirscht. „Keine gute Idee. Entschuldige."
„Ich hab Dich sehr gerne", gab sie zögerlich zu. Sie hatte den Kuss ohne Zweifel genossen, doch er hatte nicht mehr berührt als ihre Sinne. „Aber es ist nicht richtig. Nicht jetzt, nicht nachdem -."
„Nachdem Du Dich in meinen Bruder verliebt hast?" Die Wahrheit ausgesprochen zu hören tat weh. Aithiel fuhr zusammen. „Das ist nichts was Du leugnen kannst, auch wenn ich glaube, dass Du es am liebsten tun würdest."
„Bitte lass uns nicht über ihn sprechen, Rumil. Ich kann das nicht."
„Irgendwann wirst Du es müssen. Je länger Du Schmerz und Wut mit Dir herumträgst, desto verbitterter wirst Du werden. Das kann ich nicht zulassen." Er streichelte kurz über ihre Wange. „Ohne mich jetzt noch einmal zu weit aus dem Fenster zu lehnen – Dein Lächeln sollte bewahrt werden. Ganz egal, was geschieht."
Aithiel fühlte, wie die Spannung, die in ihr aufgestiegen war, langsam wieder abflaute. Er sprach die Wahrheit und sie hatte nicht das Recht, darüber wütend zu werden. Im Gegenteil, das, was er ihr stets anbot, seine Freundschaft, seine Unterstützung und vielleicht sogar seine Liebe – dessen war sie sich nicht sicher, da sie ihn bereits zurückgewiesen hatte – sollte sie dankbar machen.
Aus einem Impuls heraus war sie es nun, die sich vorbeugte und Rumil küsste. Es war nur eine kleine Berührung, in die sie bewusst keinerlei Leidenschaft legte, doch sie spürte, wie sich sein schlanker Körper anspannte. Dann legte sie den Kopf an seine Schultern, um ihre Wärme mit ihm zu teilen und seine zu empfangen. Nahe beieinander und doch meilenweit entfernt.
„Ich respektiere Dich, Rumil", flüsterte sie so leise, dass nur er sie hören konnte. „Und deswegen kann ich nicht so tun, als würde ich für Haldir nichts empfinden, auch wenn ich damit zugebe, wie naiv ich gewesen bin. All die Zeichen, die sich mir boten, habe ich nicht gesehen, so sehr habe ich mich von meinem Herzen leiten lassen. Solch einen Fehler werde ich für die nächste Zeit nicht wiederholen."
Als Antwort zog er sie noch ein wenig näher an sich heran und sie fühlte, wie sich eine Hand in ihr Haar verirrte und sanft begann, ihren Kopf zu kraulen. Ein wenig traurig genoss sie die unverdiente Zärtlichkeit und blickte hinauf in den Nachthimmel.
„Wie hat es dieser Schurke eigentlich geschafft, dass Du so an ihm hängst?", grummelte Rumil nach einer längeren Zeit und Aithiel wusste, ohne ihm ins Gesicht zu sehen, dass er wieder lächelte. „Ich bin schöner als er, kann besser reiten und singen, überhaupt-."
„Wenn ich das wissen würde, dann würde ich mir sicher jemanden suchen, der in allen Dingen besser ist als er", gab sie schnippisch zurück und erkannte erstaunt, dass sie zumindest schon wieder einen kleinen Scherz auf Haldirs Kosten machen konnte. Das minderte ihre Wut, betrogen worden zu sein, ein wenig.
Sie wusste nicht, ob sie ihm verzeihen konnte. Alles, was sie wusste, war, dass sie ihn immer noch genug liebte, um es versuchen zu wollen.
***
Am nächsten Morgen sprachen sie nicht mehr über die Unterhaltung der Nacht und bereiteten sich auf den Aufbruch vor. Sorgfältig streuten die Männer Erde über die Feuerstellen und verteilten einige Grassoden über den verbrannten Boden, um Verfolgern keine Spur zu hinterlassen.
Rumil bestieg soeben sein Pferd, als der Schrei eines Rauvogels die morgendliche Stille zerriss. Alarmiert griffen die Männer zu den Waffen, da sie ein geheimes Signal zu einem Angriff befürchteten, doch auf Aithiels Zeichen hin beruhigten sie sich wieder.
Wenig später landete der weiße Falke flatternd auf Rumils Handschuh.
„Seltsam", sagte der Elb und nestelte aus der kleinen Lederrolle, die der Vogel am Fuß trug, ein zusammengefaltetes Pergament. Sanft setzte er das Tier auf seiner Schulter ab und las dann das Papier.
Aithiel sah, dass er sehr blass wurde und trat zu ihm.
„Was ist los?", fragte sie alarmiert, als Rumil das Blatt sinken ließ. Auch die anderen Orkreiter kamen mit fragenden Gesichtern näher.
„Haldir ist mit den Galadhrim ausgezogen, kurz nachdem wir Lorien verlassen haben. Die Menschen sind in Bedrängnis geraten und werden sich laut Galadriel in ihre letzte Festung zurückziehen, einer Feste mit dem Namen Helms Klamm. Dorthin wird Haldir gehen, um gegen die Orks zu kämpfen."
Aithiels Herz schlug bis zum Hals, als sie erkannte, wohin die großen Gruppen von Orks gezogen waren, die die Späher in den letzten Tagen gesehen hatten.
„Helms Klamm? Wie weit ist das entfernt?"
„Wenn wir sofort aufbrechen und ohne Pause reiten, dürften wir in vier Tagen dort sein." Es war Rumil anzusehen, dass er nicht glaubte, dass sie es rechtzeitig schaffen würden. Aithiel stand ebenfalls wie erstarrt, doch sie zwang sich, sich zu den Männern umzudrehen.
„Wir reiten sofort los!", bestimmte sie laut und ohne noch weiter nachzudenken. Die Vorstellung, dass Haldir in Gefahr sein könnte, machte ihr Angst. Ihre Stute scheute leicht, als Aithiel in den Sattel sprang, doch sie wurde mit fester Hand auf den Weg gebracht. Die Männer folgten dem Befehl ohne zu zögern und auch Rumil hatte seine Sorge zumindest für den Moment abgelegt. Er schloss zu ihr auf, als Aithiel an ihm vorbei in Richtung Westen sprengte.
Dicht über die Köpfe der Pferde gebeugt, preschten sie über die Ebene. Die Hufe prasselten wie Donner auf die ausgedörrte Ebene hinab, die nach Regen zu lechzen schien. Doch am Himmel stand weiterhin die unnachgiebige Sonne, die im Laufe des Tages immer drohender brannte.
Am Abend legten sie eine kurze Pause ein, um die Pferde zu tränken und ihnen eine kleine Pause zu gewähren, doch danach scheuchte Aithiel die Männer unnachgiebig wieder auf die Pferde. So war es gewesen, als ihr Vater noch lebte, eine wilde Jagd ohne Rücksicht auf Verluste. Dem vertrauten, wilden Rausch des Rittes konnte sich Aithiel nicht entziehen, auch wenn sie dieses Mal mehr Angst empfand als jemals zuvor.
In der Nacht sahen sie vereinzelte Gruppen vor Orks in ihrer Nähe, doch die waren zu langsam, um die Reiter einzuholen. Ein Horn dröhnte, doch in den Minuten und Stunden danach geschah gar nichts. Rumil starrte verbissen in die Nacht, ihm schien die Nähe des Feindes nicht zu behagen. Doch die Sorge um seinen Bruder trieb auch ihn immer weiter.
In den kommenden Tagen sahen sie immer mehr kleine und größere Gruppen von Orks, aber keine von ihnen stark genug, um den Reitern gefährlich zuwerden. Die Hauptgefahr schien von Westen auszugehen und so hoffte Aithiel, dass sie unbehelligt so nahe wie möglich an Helms Klamm herangelangen konnten.
Es war am Morgen des vierten Tages, als sich die ersten Wolken über den blauen Himmel schoben und ein scharfer Wind vom Gebirge herunterwehte, dem sie sich nun bis auf wenige hundert Fuß genähert hatten. Rumil spähte hinauf und rief Aithiel zu:
„Kein gutes Zeichen."
Sie musste ihm zustimmen. Ork waren Wesen der Dunkelheit und wenn die Sonne erst einmal völlig unter den grauen Wolken verschwunden sein war, dann würden sie in Kampfstimmung geraten.
Im Lauf des Tages wurde es immer deutlicher, dass am Abend ein Unwetter über das Gebirge hereinbrechen würde. Die Gipfel lagen in trübem Dunst verborgen und eine unangenehme Feuchtigkeit setzte sich in der Kleidung der Elben fest. Aithiel wusste, wie erschöpft ihre Männer und vor allem die Pferde sein mussten, doch sie gab erst den Befehl zum Halten, als beim Anbruch der Dämmerung einer ihrer Späher zurückkam und meldete, dass es kein Durchkommen ohne Kampf mehr geben würde.
Sie ließ den Blick über die Berge schweifen und entdeckte einen kleinen Pfad, der von der Ebene fortführte und auf den die Orks nicht folgen würden. Sie gab ihrer erschöpft zitternden Stute vorsichtig die Sporen und trieb sie hinauf. Einer nach dem andere folgten ihr vorsichtig die Männer. Als Aithiel vorsichtig um eine Felsnase herumritt, die ihr die Sicht auf die Ebene verborgen hatte, wagte sie es kaum, ihren Augen zu trauen.
Eingebettet in den Felsen, lag etwa anderthalb Meilen entfernt eine trutzige Festung, umgeben von einer hohen Ringmauer. Ein Bauwerk der Menschen, hässlich und dennoch stark. Überall waren Orks, die sich inzwischen zu riesigen Heeren gesammelt hatten und auf die Mauer zurückten. Trommeln und Hörner erklangen und Schreie stiegen in den tiefhängenden Himmel, der inzwischen pechschwarz geworden war. Es mussten Tausende sein, wenn nicht Zehntausende und sie alle kannten nur das eine Ziel.
Rumil führte sein Pferd neben Aithiel und folgte ihrem Blick, ebenso fassungslos wie sie. Doch dann glitt plötzlich ein schmerzliches Lächeln über sein Gesicht, als der helle Klang eines Horns ertönte.
„Das ist Haldirs Horn", sagte er leise. „Kein anderer würde es wagen, es zu blasen. Es geht ihm gut."
Aithiel kniff die Augen zusammen und beobachtete dann, wie die Wimpel Loriens im Nordwesten auftauchten und sich auf die Festung zu bewegten. Ein langer Zug silbern gerüsteter Gestalten wurde kurz darauf vom Tor der Festung verschluckt, in endgültiger Art und Weise, die sie erschauern ließ. Sie meinte, Haldirs silbern schimmerndes Haar in der Dunkelheit gesehen zu haben, doch das war sicherlich Produkt ihrer Phantasie gewesen.
„Rumil", sagte sie leise. „Ich habe Angst um ihn."
„Ich weiß." Er legte die Hand fest um den Griff seines Dolches, wütend und hilflos zur selben Zeit. Dann senkte er den Blick und seine Lippen begannen sich zu bewegen, ohne dass ein Laut hervortrat. Ihn derart verzweifelt zu sehen, nahm Aithiel jede Art von Hoffnung.
Mit geballten Fäusten starrte sie hinüber zur Burg, getrennt von Haldir durch ein undurchdringliches Meer schwarzer, stinkender Körper. Sie spürte, wie ihre Fingernägel kleine Wunden in ihre Handflächen rissen, doch der Schmerz war leichter zu ertragen als ihre Machtlosigkeit.
Und dann, irgendwann, als sie dachte, der Himmel könne nicht mehr dunkler werden, begann es zu regnen.
