Kapitel 16

Im Reich des Waldkönigs

Wasser tropfte von der Decke. Wie kleine Geschosse fielen die Tropfen, schlugen in regelmäßigen Abständen auf dem Boden auf.

Es war das Geräusch, das Aithiel weckte und sich in ihren Kopf hineinbohrte, so sehr, dass es ihr fast körperliche Schmerzen bescherte.

Mit einiger Anstrengung rollte sie sich auf die Seite und blinzelte in die Dunkelheit, während sie ihr Gedächtnis zu dem Zeitpunkt ihrer Ohnmacht zurückzwang. Sie konnte sich daran erinnern, von den drei Grenzwachen gefangengenommen worden zu sein, doch ab einem bestimmten Punkt hatte sie keine bewusste Erinnerung mehr. Sie war anscheinend zusammengebrochen.

Unter ihren tastenden Händen fühlte sie feuchten Steinboden und einigen Binsen, die auf dem Boden verteilt lagen. Ein winziger Lichtschimmer, der durch die Tür schimmerte, genügte ihr, um ihre trostlose Umgebung erkennen zu können.

Die Zelle war gerade groß genug, um eine Person darin unterbringen zu können und bis auf das Stroh und eine Schale völlig leer. Mit einigen Mühen ergriff Aithiel das Gefäß und fand darin sauberes Wasser vor, das sie mit erzwungener Ruhe nur bis zur Hälfte trank, obwohl sie sich innerlich wie ausgedörrt fühlte.

So ging der Durst, doch das Gefühl blieb. Ihre eigene, nicht erklärbare Schwäche hätte sie vor wenigen Wochen noch wütend gemacht, aber so ließ sie sich nach der kleinen Erfrischung wieder in das Stroh fallen und starrte hinauf zu der Decke, an der Schimmel zu erkennen war, welcher sich durch die Feuchtigkeit zu bizarren Mustern gefügt hatte.

Es überrascht sie nicht, auf eine derartige Weise willkommengeheißen zu werden und als ihre Hand nach ihrer Tasche griff, fühlte sie sofort, dass das Stück Stoff, in dem sie Legolas Ring und das Amulett ihrer Mutter eingeschlagen hatte, nicht mehr an seinem Platz war. Resigniert schlang sie die Arme um sich selbst, um die heranschleichende Kälte zu vertreiben und schloss die Augen.

Dämmerschlaf umfing sie und ohne sich zu wehren glitt sie hinüber in wirre Träume, die immer in einem einzigen Bild mündeten – ihrem eigenen Tod. Zwischen den einzelnen Sequenzen der Träume erwachte sie, doch niemals lange genug, als dass sie sich von der Hoffnungslosigkeit befreien hätte befreien können. Dann wurde sie wieder zurückgezogen und mit jedem neuen Bild in ihrem Kopf wurde sie verzweifelter.

Aithiel wusste nicht, wie lange sie auf dem Stroh lag und sie sich in dem Zustand der Schwebe zwischen Wirklichkeit und Phantasie befand. Es kam ihr vor, als würden Tage vergehen, in denen das Wasser auf ihr erhitztes Gesicht hinabtropfte wie die Herzschläge jener großen unterirdischen Festung, die einst wohl ihr Heim gewesen war. Und während ihr Körper glühte, spürte sie dennoch, dass die Kälte immer weiter in sie hineinkroch.

Der brennende Durst kam mit großer Macht zurück, doch sie war unfähig, nach der Schale zu greifen und ihr Verlangen zu stillen. Nur das Wasser auf ihrer Haut verschaffte ihr ein wenig Linderung.

Irgendwann er kannte sie, dass sie bereit war, sich dem Schlaf endgültig hinzugeben. Die drängende Frage nach ihren Wurzeln verschwand hinter dem Schmerz ihrer Erinnerungen und der Sehnsucht nach Frieden. Nicht zum ersten Mal seit Haldirs Tod fragt sie sich, wie es wäre, ihm nachzufolgen.

Da zuckte plötzlich ein Licht über sie herein und sie wusste nicht, ob sie wachte oder träumte. Mit zusammengekniffenen Augen, um den Schleier zu vertreiben, der sich über ihren Blick, zu legen drohte, starrte sie zur Tür, die sich geöffnet hatte. Inmitten des grell beleuchteten Vierecks stand eine schemenhafte Gestalt und Aithiel erwartete, Thranduils kraftvolle Gestalt zu sehen oder auch einige seiner Wächter. Selbst Namo und Vaire hätte sie als Besucher nicht ausgeschlossen, doch es war die zarte Figur einer einzelnen Frau, die sich aus dem Licht löste und zu ihr eilte.

Die Elbin trug einen staubbedeckten Reisemantel und ihr sorgsam am Hinterkopf aufgestecktes braunes Haar war an einigen Stellen aus den kunstvollen Flechten gefallen und hing ihr ins Gesicht. Freundliche Augen tasteten über Aithiel Gesicht, ebenso behutsam wie die Hand, die sich auf ihre Stirn legte.

Aithiel wollte zurückweichen, doch etwas am Gesicht der Frau fesselte sie und zwang ihren geschwächten Körper, ruhig zu verharren und die kurze Untersuchung über sich ergehen zu lassen. Die Elbin nickte ihr zu und erhob sich dann energisch, obwohl in ihren Bewegungen eine unterschwellige Müdigkeit zu erkennen war, die sie nicht verleugnen konnte.

            „Wie konnte das passieren?", erkundigte sie sich mit sanfter, aber befehlsgewohnter Stimme und Aithiel erkannte, dass sie mit einigen Personen sprach, die außerhalb der Zelle standen. Von dort erklangen einige gemurmelte Antworten, die der Elbin nur ein Schnauben entlockte. „Habt Ihr den Verstand verloren?"

            „Es war die Entscheidung des obersten Beraters", klang er bis zu Aithiel hinein. „Der König ist noch nicht von seinem Zug in den Norden zurückgekehrt und Belegren hielt es für nötig, sie hier einzukerkern."

            „Der Mann ist nicht nur vollkommen verblendet, sondern auch noch gefährlich!" Die Elbin strebte der Tür entgegen und Aithiel fürchtete, die liebevolle Erscheinung könne wieder verschwinden. Mit großer Anstrengung hob sie eine Hand und fragte:

            „Wer seid Ihr?"

Die Frau drehte sich zu ihr um und schenkte ihr ein zartes Lächeln, das die Kälte in Aithiels Körper zumindest für einen Moment zu vertreiben schien.

            „Fürchtet Euch nicht.", antwortete sie weich. „Mein Name ist Rhiwen. Ich werde Euch von hier fortbringen."

            „Das könnt Ihr nicht tun!", erklang es aus dem Raum vor der Zelle. Es war derselbe Mann, mit dem Rhiwen schon einmal gesprochen hatte. „Ihr könnt der Entscheidung des Belegrens nicht widersprechen. Was würde der König dazu sagen? Gerade bei dieser Gefangenen!"

Rhiwen hob eigensinnig das Kinn.

            „Ich werde mich zu rechtfertigen wissen. Darüber hinaus ist Thranduil nicht hier. Nehmt sie und bringt sie unverzüglich in meine Räume. Das ist mein letztes Wort."

Aithiel wusste nicht, womit sie diese ungeheutre Freundlichkeit verdiente, doch ihr Geist war beruhigt, als der Mann in die Zelle trat, sie auf seine Arme nahm und sie erneut in tiefem Schlaf versank.

***

Rhiwens Räume waren riesig und sonnenüberflutet. Soweit es Aithiel beurteilen konnte, lagen sie zwar in dem gewaltigen Steinkomplex von Thranduils Palast, doch einige Schritt über dem Erdboden. Vor den hoch gewölbten Fenstern, vor denen schwere Vorhänge drapiert waren, um den Wind fortzuhalten, wehte ein leichter Südwind und wehte den Duft des Waldes hoch zu Aithiel, die sich im Bett aufsetzte und panisch ihre Kleidung vermisste.

Sie fühlte sich trotz des Schlafes erschöpft und die Kälte war nicht vollständig aus ihrem Körper gewichen. Fröstelnd zog sie die Decke bis zum Kinn und beobachtete dann, wie sich die Tür öffnete und Rhiwen eintrat.

Die Spuren der Reise, die ihr im Kerker noch anzusehen gewesen waren, waren verschwunden. Eine wundervolle Robe aus bronzefarbenem Stoff spielte um ihre Beine und  betonte reizvoll ihr Haar und ihre Augen, die von einem hellen Nussbraun waren. Obwohl sie sehr jugendlich wirkte, konnte man doch an den kaum sichtbaren Falten um ihren Mund und dem gesetzten Blick ihrer Augen erahnen, dass sie sehr alt war.

Mit einem freundlichen Lächeln setzte sie sich auf die Bettkante und legte besorgt erneut die Hand auf Aithiels Wange.

            „Euer Fieber ist gesunken, doch Eure Haut ist kalt." Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite. „So etwas habe ich noch nie bei einem Elben gesehen, aber es wird oft erzählt, dass es das erste Zeichen ist, wenn man sich entschlossen hat zu schwinden." Aithiel schwieg und verschränkte die Hände. Der wissende Ton ihrer Gegenüber erinnerte sie nur allzu sehr an Galadriel. „Euch muss Furchtbares geschehen sein, mein Kind."

Frischer Schmerz schnitt in ihr Inneres, doch scheiterte an der Betäubung. Es stimmte, was Rhiwen sagte - die Versuchung, denen zu folgen, die sie geliebt und grausam verloren hatte, war zu groß gewesen.

            „Es ist nicht von Bedeutung", sagte sie schließlich und blickte auf, trachtete danach, das Rhiwen nicht erfuhr, wie tief ihr Schmerz war. „Was zählte, ist mein Dank für Eure Freundlichkeit. Es geht mir besser. Wenn Ihr Euer Gemach zurückhaben wollt, bin ich selbstverständlich bereit, in die Zelle zurückzukehren und die Rückkehr des Königs dort zu erwarten."

Rhiwen lachte leise und hob abwehrend die Hand.

            „Ich habe Euch zuallererst hergebracht, um ruhig mit Euch sprechen zu können." Sie musterte Aithiel von oben bis unten. „Eine Schande, das Belegren Eure Herkunft nicht erkannte. Es ist soviel von Eurer Mutter in Euch und auch von Eurem Vater."

Aithiel stockte der Atem.

            „Ihr kennt meine Eltern? Legolas verriet mir den Namen meiner Mutter, doch mehr wollte er mir nicht sagen, was ich nicht verstehen kann. Ich bitte Euch, sagt, zu wem ich gehöre!"

Rhiwen nahm tröstend ihre Hand und drückte sie leicht.

            „Das kann ich noch nicht, so Leid es mir auch tut. Ich vermute, dass es Legolas klar war, dass ihr, wenn Ihr wisst, wessen Kind Ihr seid, dem König nicht mit jener Art von Demut gegenübertreten werdet, die es braucht, um Euch von Eurer Schuld zu befreien." Die Düsterwaldelbin zog die Mundwinkel nach oben. „Denn wenn Ihr seid wie Eure Mutter, dann besitzt Ihr dieselbe Arroganz und denselben Stolz. Thranduil war immer ein harter Mann und man kann ihn nur erreichen, wenn man ihn richtig zu überzeugen weiß."

            „Ich weiß", sagte Aithiel. „Er hat meinen Vater verbannt und ich stand an seiner Seite, als der König das Urteil fällte."

            „Berion." Über Rhiwens Gesicht huschte ein melancholisches Lächeln. „Er war ein wunderbarer Berater für den König. Seine Stirn unter den dunklen Haaren war immer sorgengefurcht, doch wenn er lachte, dann meinte man, es im ganzen Palast hören zu können. Er und Thranduil waren beste Freunde."

            „Bis zu dem Tag, an dem sie sich stritten und Thranduil ihn verbannt", warf Aithiel bitter ein. Zu ihrem Erstaunen senkte Rhiwen den Kopf.

            „Es ist wahr. Was immer sich zwischen sie schob, es begann, als Ihr von Galadriel zu uns geschickt wurdet, ein verängstigtes kleines Lebewesen, das in den ersten Monaten vor Schock kaum sprach. Berion nahm Euch auf und je strahlender sein Lächeln wurde bei jedem Schritt, den Ihr in die Welt hinaus tatet, desto wütender wurde der König. Eines Tages, nach einem langen privaten Gespräch das sie geführt hatten, kam es zum Eklat und Thranduil verbannte Berion endgültig aus seinem Reich. Es war ein furchtbarer Tag und obwohl der König hart ins Gericht ging, sah ihn doch jeder weinen, als er sich nach der Tat zurückzog. Es war, als hätte er an jenem Tag noch einmal einen Teil seines Herzens verloren."

Aithiel versagte sich danach zu fragen, was genau Rhiwen in dem letzten Satz hatte andeute wollen. Stattdessen erkundigte sie sich mit wild klopfendem Herzen:

            „Und was war mit meiner Mutter?"

Rhiwens Augen wurden für einen Moment feucht.

            „Sie war mir sehr nahe und ihre Geschichte ist ebenso traurig zu erzählen wie die von Berions Verbannung. Laeriel war jung und voller Leben. Als ihr Vater sie zwang, aus dynastischen Gründen den Bund mit einem Mann einzugehen, den sie nicht liebte, floh sie. Die Nachricht von ihrem Tod erreichte uns nie offiziell, doch als Galadriel ein namenloses Kind zu uns gab, genügte uns der Blick in sein Gesicht, um uns die schreckliche Wahrheit erkennen zu lassen. Es war Euer Gesicht, Aithiel, das all jene betraf, die Laeriel geliebt hatten."

            „Ich vermisse sie, auch wenn ich nur verschwommene Erinnerungen an sie hatte." Mit einem Mal war ihr Wunsch, den Namen ihres Vaters zu erfahren, nicht mehr ganz so drängend. Was für sie mehr zählte, war es, mehr über Berion gehört zu haben, den Mann, der ihr wahrer Vater gewesen war in all den Jahren.

***

Rhiwen blieb noch eine lange Zeit bei ihr und erzählte er Geschichten aus der Vergangenheit, so farbig, dass Aithiel fast das Lachen Laeriels erahnen konnte. Doch wann immer Aithiel durch geschickte Nachfragen herauszufinden versuchte, zu welchen Familien ihre leiblichen Eltern gehörten, stieß sie auf eine Mauer des Schweigens.

Sie ermüdete schnell und schlief irgendwann ein, während Rhiwen noch an ihrem Bett sah. Als sie das nächste Mal erwachte, war es Nacht und sie fühlte sich noch immer, als sei ihr Körper nur noch ein kraftloses Abbildes seines Selbst. Ihr war schlecht und sie zitterte, obwohl es warm war in dem Zimmer. Auf dem Tisch neben dem Bett lag neben einer Nachricht von Rhiwen auch eine kleine Phiole. Sie tat, wie es ihr auf dem Pergament geheißen wurde und schluckte die bittere Flüssigkeit, die sich in einer heißen Bahn durch ihren Körper wand und die Schmerzen verschwinden ließ. Schließlich konnte sie ruhig schlafen und erwachte erst am nächsten Mittag.

Auf diese Weise vergingen ihre Tage quälend langsam. Jeden Abend wurde sie von ihrer Schwäche heimgesucht, doch sie konnte sie mit Rhiwens Medizin zurückdrängen und erholte sich langsam aber sicher von den Strapazen der vergangenen Wochen. Man hatte ihr neue Kleidung gestellt und schon bald unternahm sie zwischen den kurzen Phasen der Ruhe kleine Spaziergänge im Garten. Oft dachte sie bei dem Anblick der hohen Bäume, die sich um den Palast herum erhoben und den Wohnplatz der gewöhnlichen Elben darstellten, an Lorien und Haldir, doch auch an Berion und Aithlion.

Eines Abend, als sie meinte, ihr Herz müsste zerspringen unter dem Druck der Erinnerungen, erzählte sie Rhiwen von ihnen und schämte sich nicht zu weinen, so sehr vertraute sie der anderen Frau inzwischen. Als sie ihre Erzählung beendet hatte, sah sie großen Kummer in Rhiwens edlen Zügen.

            „Ich kann verstehen, warum Euer Körper kurz davor war aufzugeben. Aber Ihr müsst in die Zukunft sehen. Alles wird sich ändern."

            „Was sollte sich ändern?" Resigniert schüttelte Aithiel den Kopf. „Wenn Thranduil zurückkehrt und schlechte Laune hat, werde ich nie zu ihm durchdringen und für das Leben meiner Leute bitten können."

            „Damit werdet Ihr es können." Rhiwens Zuversicht strahlte förmlich aus ihr heraus, als sie in ihre Tasche griff und ein kleines Bündel herausholte. Mit Nachdruck legte sie es in Aithiels Hand. Diese ertastete unter dem Stoff das Amulett ihrer Mutter und Legolas Ring. Rhiwens Fingerspitzen verweilten noch eine Weile auf ihrer Hand und zwangen sie förmlich, der älteren Frau in die Augen zu sehen. „Alles wird gerecht verlaufen, dafür werde ich mich einsetzen."

Aus irgendeinem Grund, den Aithiel nicht erraten konnte, schlug Rhiwen dann eine Hand vor den Mund und floh aus der Laube, in der sie gesessen waren. Aithiel sah ihr hinterher und fragte sich, ob die anderen vielleicht doch weniger Zuversicht hegte, als sie zu zeigen bereit war.

Eine weitere Woche verging wie im Fluge, die Aithiel nutzte, um sich im Palast umzusehen und mit den Instinkten einer Kriegerin nach möglichen Fluchtwegen für den Fall ihrer Verurteilung zu suchen. Doch diese Versuche gab sie irgendwann auf, nicht sicher, ob sie diesem möglichen Schicksal wirklich entfliehen wollte. Die ganze Zeit über wurde sie von drei Wachen begleitet, die stets in respektvollem Abstand blieben, sie aber stets scharf im Auge behielten.

Eines Abends machte sich Unruhe im Palast breit und es brauchte keine Worte, um Aithiel wissen zu lassen, dass der König von seinem Kriegszug in den Norden zurückgekehrt war. Die Wachen vor ihrer Tür flüsterten leise miteinander, hatten aber anscheinend noch nicht den Befehl erhalten, sie zu holen. Sie saß eine Weile einfach stumm auf einem Sessel in Rhiwens Gemächern, doch irgendwann ertrug sie ihre eigene Feigheit nicht mehr.

Mit großer Sorgfalt kleidete sie sich an und überprüfte ihr Erscheinungsbild im Spiegel, dann nahm sie Ring und Amulett an sich und trat vor die Tür.

            „Bringt mich zum König!", sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Ohne ein Wort führten die Männer sie zum großen Thronsaal, der bislang verschlossen gewesen war. Nun drängelte sich eine große Zahl von Elben vor den geöffneten Türen. Sie alle wichen beiseite, als Aithiel zu ihnen trat. Die Kunde über sie hatte im Königreich die Runde gemacht und der Anblick einer verurteilten Exilantin genügte, um die Gespräche stocken zu lassen.

Mit erhobenem Kopf drängte sich Aithiel durch die Menge, so schnell, dass die Männer ihr kaum folgen konnten. Der große Saal, in dem sie bislang nur ein einziges Mal gewesen war, war mit Bittstellern dicht bevölkert und der Lärm war ohrenbetäubend bis zu dem Moment, in dem man ihrer gewahr wurde.

Thranduil, der auf seinem schlichten Thron saß und sich mit seinen Beratern unterhielt, blickte auf und sein Blick traf den Aithiels quer durch die große Halle. Der König sprang auf. Er war noch immer eine imposante Gestalt, ein wahrer Berglöwe, dessen blondes Haar üppig über seine Schultern fiel. Seine Augen waren von einem stürmischen Grau, das sich verdunkelt, wenn er zornig war – in diesem Moment war er es - und in seinem alterslosen Gesicht reihten sich die feinen Falten von Sorge und Kummer.

Obwohl er sie nur als kleines Mädchen gekannt hatte, musste er wissen, wer sie war, denn mit einer harschen Geste wies er die Bittsteller aus der Halle. Ungeduldig eine Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt, wartete er kaum, bis sich die Tür hinter den Fortgeschickten geschlossen hatte.

            „Euer Eindringen ist eine Unverschämtheit und ein Bruch unserer Gesetze", knurrte er. „Der Bann, mit dem ich Euren Vater belegte, gilt auch für Euch, das solltet Ihr wissen."

            „Das ist mehr bewusst", antwortete Aithiel ruhig. „Mein Vater ist tot." Sie bemerkte das Aufblitzen in Thranduil Augen und das kaum merklichen Zusammensacken seiner Schultern. Dies war nicht der Mann, der Berion verurteilt hatte. Thranduil hatte gelitten in den vergangenen Jahren und war nicht mehr jener unbeherrschte Despot, dem sie begegnet war. Ihre Hand glitt langsam in ihre Tasche und förderte den Ring zutage, den sie ihm mit einer Verbeugung reichte. „Ich traf Euren Sohn Legolas in Lothlorien und er gab mir dieses Pfand seines Vertrauens."

Misstrauisch musterte Thranduil das Schmuckstück.

            „Ihr könnt es ihm gestohlen haben. Das ist kein beweis, dass Ihr ihm begegnet seid." Eine Ader schwoll gefährlich pochend auf seiner Stirn und Aithil schluckte. Die Wachen hatten sich ihr genähert, bereit, um sie zu ergreifen. „Ihr wusstet, welchen Preis Ihr bei Eurer Rückkehr zahlen würdet. Bringt sie fort!"

Starke Hände schlossen sich um Aithiels Oberarme und sie schloss gepeinigt die Augen. Umsonst. Da erklang eine feste Stimme und Aithiel riss die Augen auf. Neben Thranduil stand Rhiwen, die kleine Figur zornbebend.

            „Vater, halte ein!", sagte sie bestimmt und winkte die Wachen beiseite. Aithiel starrte sie an. Rhiwen war eine Prinzessin? Legolas Schwester lehnte sich für sie gegen die Beschlüsse ihres Vaters auf? „Zeig ihm den Anhänger." Vorsichtig zog Aithiel den Schmuck ihrer Mutter aus der Tasche und gab ihn Thranduil. Das Gesicht des Königs verwandelte sich sofort in eine starre Maske. Sein Blick bohrte sich in sie wie der Stahl einer Waffe und Aithiel erinnerte sich an den Moment, in dem Legolas das Blatt aus Gold gesehen hatte.

            „Und woher habt Ihr dieses Stück?" Thranduils Stimme war nun gefährlich leise und seine hand krampfte sich fester um seinen Schwertgriff. „Sagt es mir, sonst schneide ich Euch Eure falsche Zunge heraus!"

            „Es gehörte meiner Mutter und so wie ich es schon Legolas nicht erlaubte, mich eine Lügnerin zu nenne, so verbiete ich es Euch ebenfalls", antwortete Aithiel unbeugsam. „Lady Galadriel gab ihn mir und ich vertraue ihrem Wort, dass es um den Hals meiner toten Mutter hing, als man sie in Lorien fand."

Thranduil war die Farbe aus dem Gesicht gewichen.

            „Lügen", befand er wütend und schien an seinen eigenen Worten zu ersticken. „Nichts als dreckige Lügen. Was für ein Spiel treibt Ihr? Sagt es, oder ich werde es auf andere Weise aus Euch herausbringen."

Da trat Rhiwen erneut vor und wagte es, sich zwischen ihren Vater und Aithiel zu schieben.

            „Wenn Du dieser Frau etwas antust, dann vollendest Du ein Unglück, das Du seit dreihundert Jahren mit Dir herumträgst." Mit vor Empörung erstickter Stimme setzte sie dann hinzu: „Du hast immer gewusst, wer Aithiel ist, auch wenn Du es nicht wahrhaben wolltest. Als sie Berions Ziehtochter wurde, hat Dich der Neid aufgefressen. Daraus wurde ein gnadenloser Hass auf ihn, dem Du Dich unterworfen hast. Du hast Aithiel mit ihm fortschickt, in blinder Wut." Sie legte die Hände auf Thranduils Schultern. „Vater, sie ist Laeriels Tochter. Und in ihrem Bauch wächst Dein Enkelkind heran."