TWIST AND SHOUT

KAPITEL EINS – WHILE MY GUITAR GENTLY WEEPS

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»I look from the wings at the play you are staging
While my guitar gently weeps
As I'm sitting here, doing nothing but aging
Still my guitar gently weeps«

„While my guitar gently weeps"

The Beatles

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Professor Juke, stellvertretende Schulleiterin und Lehrerin für „Bildende Künste" an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei, schritt vor ihrem Pult hin und her, während sie einen eintönigen Vortrag über einen berühmten Komponisten hielt. Ihre gestrengen Augen, die trotz ihres hohen Alters noch scharf wie die eines Adlers waren, glitten wachsam über die ungefähr zwanzig schrillen Gestalten – vielleicht waren sie Hippies, vielleicht war es auch ein anderer Stil, den man jetzt 1980 wiederum ganz anders nannte -, die die Abschlussklasse von Gryffindor darstellten. Oder besser gesagt, darstellen sollten.

Juke konnte sich nämlich beim besten Willen nicht vorstellen, dass man diese langhaarigen Kinder, die man fälschlicherweise wie Erwachsene behandelte, nur weil sie fast alle das Alter von siebzehn Jahren erreicht hatten, in knapp einem halben Jahr auf die Menschheit und in das Berufsleben loslassen konnte. Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln verwarf sie diesen, von ihr schon so oft durchgekauten Gedanken und konzentrierte sich dagegen ganz bewusst auf die Klasse.

Juke wusste genau, dass fast alle Schüler den Unterricht nur vorbeiplätschern ließen. Quasi vom einem Ohr hinein, vom andern wieder hinaus. Doch das taten sie jetzt seit Beginn ihrer Schulzeit und eigentlich war es sinnlos, jetzt noch etwas zu ändern. Außerdem zählte das Fach (was die Schüler zum Glück nicht wussten) schon seit Jahren nicht mehr für den Abschluss und das Zaubereiministerium suchte nur noch nach passenden einem Grund, es endgültig vom Lehrplan zu streichen.

Juke hatte ihren Abschlussklassen freigestellt, unter ihren Vorträgen zu zeichnen, da das ja auch zu den „Bildenden Künsten" gehörte, doch die meisten dösten und träumten nur vor sich hin oder schauten aus dem Fenster und zählten die Schneeflocken, die an diesem kaltem 6. Dezember vom Himmel rieselten. Die wenigen, die Zettelchen schrieben oder warfen, hörten nach einem scharfen Blick von ihr sofort auf. Nur ein zierliches, blasses Mädchen mit bis weit über die Schultern fallenden, dunkelroten Haaren, malte ungestört weiter.

Das wäre ja nicht schlimm – nein, sogar erlaubt – gewesen, doch erstens war sie so vertieft, dass sie wahrscheinlich kein Wort von ihrem Vortrag mitbekommen hatte (was nicht gestattet war) und zweitens (was sehr, sehr viel schlimmer war) tat sie es mit der linken Hand. Da der dunkle Lord selbst Linkshänder war, galt das wiederum in der Zaubererwelt bis vor einigen Jahren noch als potentielles Erkennungszeichen für Magier, die mit der dunklen Seite zu tun hatten. Doch 1975 hatte das Zaubereiministerium nach jahrelangen Tests und Beobachtungen bekannt gegeben, dass man für seine Links- oder Rechtshändigkeit nichts konnte und jeder das Recht hatte, mit der Hand zu arbeiten, mit der er wollte. Mittlerweile war es den meisten Lehrern auch egal, ob die Zauberstabhand nun links oder rechts war. Nur einige ältere Lehrer, darunter auch Professor Juke, verboten den Schülern strikt, mit links zu schreiben. Und nun tat es eine Schülerin doch. Juke schnaubte.

Mit harten, schnellen Schritten trat sie vor den Tisch der „Übeltäterin", die (wie auf ihrem Sitzplan stand) Lillian Evans war.

»Also, Evans!«

Die Klasse schrak auf. Für einen winzigen Augenblick war eine verzweifelte Regung auf Lilys blassen Gesicht zu sehen, bevor sie sich wieder in der Gewalt hatte und ihr übliches Pokerface aufsetzte. Pokerface. Sich keine Gefühle anmerken zu lassen und immer etwas cool und gelangweilt zu schauen war vielleicht Lilys einziges Talent. Wenn sie überhaupt eins hatte. Aber wenn, dann war es schon ein sehr nützliches Talent. Doch in ihrem Inneren versuchte Lily sich krampfhaft zu erinnern, was Juke gefragt oder gesagt hatte. Die Hoffnung, dass ihre Nachbarin Eleanor oder die Leute, die hinter ihr saßen, etwas einsagten, sank drastisch, denn sie hatten ja selbst nichts mitbekommen und außerdem war Juke zu nah bei ihnen. Viel zu nah.

Nervös umklammerte sie ihren Bleistift.

»Ähm...«, versuchte sie Zeit zum Nachdenken (was aber sinnlos war, sie hatte ja doch nicht zugehört) und vor allem, um ihre Zeichnung verschwinden zu lassen, zu gewinnen.

»Könnten Sie bitte Ihre Frage wiederholen?«, trat Lily schließlich die Flucht nach vorn an.

Die Spannung im Klassenzimmer war fast mit den Händen zu greifen, denn alle wussten, wie Juke explodieren konnte. Auch ihre Strafarbeiten waren berühmt-berüchtigt.

Juke zog die Augenbrauen zusammen.

»Willst du damit sagen, dass du nicht zugehört hast, Evans?«, fragte sie gefährlich leise.

»Doch...natürlich. Ich...ich habe sie nur nicht verstanden.«

Um eine Ausrede waren Siebtklässler fast nie verlegen. Auch Lily nicht.

»Tja, verständlich, bei diesem Lärm, der hier herrscht.«, säuselte Juke vor Sarkasmus nur so triefend, um plötzlich loszubrüllen: »Wenn du nichts hörst, solltest du vielleicht deine Frisur verändern, Evans! Und zu deiner Information: Ich wollte, dass du die zwei Dinge wiederholst, die ich am Anfang der Stunde gesagt habe! Kannst du mir jetzt eine Antwort geben?«

»Bin ich Jesus?«, wisperte Lily so leise, dass Juke es nicht verstand, dafür aber Eleanor als Tochter anglikanischer Muggel fast einen Lachanfall bekam.

Einen Moment hatte sie geglaubt, sie höre nicht richtig oder Juke würde einen Witz machen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass Juke das Wort „Humor" wahrscheinlich nur vom Hörensagen kannte. Wie, zum Teufel, sollte sie noch wissen, was dieses Weib am Anfang gelabert hatte?!

»Nein?! Kann mir sonst irgendjemand antworten?«, schnarrte Juke.

Zuerst Stille. Dann schnellte der ausgestreckte rechte Arm von Marian Raifeather in der ersten Reihe hoch.

»Also, Raiderfeather!«

Da konnte sich Eleanor nicht mehr halten und platzte laut heraus. Fast alle fielen mit ein, auch wenn wahrscheinlich nur die Muggelgeborenen die (bestimmt ungewollte) Pointe in Jukes Versprecher kapierten. Die angespannte Stimmung schien sich nach und nach zu lösen.

»Raifeather, Professor.«, rief Marian Raifeather über den Lärm hinweg, der nach einem weiteren eisigen Blick von Juke verstummte, »und sie sagten, dass man a nur so zeichnen soll, damit man ihren Vortrag noch hören kann und b, dass der Gebrauch der linken Hand als Zauberstabhand strengstens untersagt ist.«

In der Klasse wurde einen Augenblick unterdrücktes Grummeln laut. Man haute nicht einfach jemanden so in die Pfanne. Lily kochte innerlich. Diese miese Streber-Schlampe!

»Exakt, Raide –äh, Raifeather.«, sagte Juke und drehte sich wieder in Richtung Lily, die jetzt provozierend ihren Bleistift festhielt, »Evans, 20 Punkte Abzug für Gryffindor. Und leg jetzt sofort diesen Stift aus deiner Hand oder nimm ihn mit der Normalen.«

»Nein.«, erklärte Lily kurz und hielt den Bleistift eisern fest.

Die Klasse hielt den Atem an.

»Das ist doch... «, Juke sog stark Luft ein. Für einen Augenblick schien sie hilflos, rettete sich dann aber in ein schnarrendes »Und wenn du nicht sofort meiner Aufforderung nachkommst, werde ich Gryffindor...«

»Sie können Gryffindor so viele Punkte abziehen, wie sie wollen.«, unterbrach Lily sie gelassen. Sie schien immer cooler zu werden, doch innerlich zitterte sie schlicht und einfach vor Angst. »Und ich werde trotzdem mit der Hand meinen Stift halten, zaubern, essen und arbeiten, mit der ich es für richtig halte.«

»Die Frau hat Mut«, murmelte jemand hinter Lily.

Sie brauchte sich nicht umzudrehen, denn so redete nur einer: Sirius Black, einer der letzten Hippies (was Anfang der Achtziger verständlich war), der fast noch längere Haare hatte als Lily selbst. Wahrscheinlich saß neben ihm sein bester Kumpel Jim Potter und wo der war, waren auch Remus Lupin, Peter Pettigrew und Lucy Straw nicht weit.

Na super. Die Rumtreiber (Marauder) hinter ihr – das hätte gefährlich werden können. Eine Sekunde war Lily froh darüber, dass sie Juke jetzt hatten, weil die Rumtreiber schlichtweg zu feige waren, um in ihren Stunden etwas anzustellen oder auf sonstige dumme Gedanken zu kommen. Aber wirklich nur eine Sekunde.

Juke indessen wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als das Thema zu wechseln.

»Oh...Evans, wenn du schon so vertieft in deine Zeichnung warst, macht es dir sicher nichts aus, sie uns allen zu zeigen.«

Etwas fahrig wollte Juke nach dem Papier auf Lilys Tisch greifen, doch mit einer blitzschnellen Bewegung zog diese es weg.

»Sind Sie verrückt?! Das ist privat.«

Lily hätte sich eine reinhauen können. Warum konnte sie nur ihr verdammtes Maul nicht halten? Sie ritt sich doch nur noch tiefer in die Scheiße rein. Auch noch so eines ihrer zweifelhaften Talente. Aber wenn Juke das Papier zu Gesicht bekommen würde...nein, das wäre Mord.

Sie hatte aus purer Langweile rumgekritzelt und schließlich einen (ihrer Meinung nach erbärmlich lächerlichen) Versuch für einen eigenen Song aufgeschrieben. Juke durfte das unter keinen Umständen lesen!

Innerlich seufzend zog Lily ihren Zauberstab und legte ihn auf ihre Oberschenkel. Geh aufs Ganze, dachte sie sarkastisch.

Tatsächlich zog Juke ebenfalls ihren Zauberstab und rief plötzlich:

»Accio Zeichnung!«

Noch bevor das Papier Jukes ausgestreckte Hand erreicht hatte, flüsterte Lily »Abscedero« und es löste sich in Luft auf.

Juke riss die Augen auf und röchelte.

»Fünfzig Punkte Abzug für Gryffindor!«, startete sie einen letzten Versuch, ihre Autorität wieder herzustellen, nachdem sie sich wieder gefasst hatte.

Doch Lily gab sich nicht geschlagen. Zu verlieren hatte sie jetzt sowieso nichts mehr.

»Das ist mir so was von egal, Professor, so was von scheißegal. Aber...äh...«

Plötzlich verlor Lily den Faden. Nein, nicht jetzt, nicht ausgerechnet jetzt. Ich brauche einen wirksamen Abgang, ich brauche einen!

»...ein Frage hätte Lily schon noch – insgesamt fünfzig Punkte oder zwanzig plus fünfzig Punkte Abzug?«, kam ihr Eleanor überraschend zur Hilfe.

Die Glocke, die das Ende der Stunde und den Anfang des Mittagessens verkündete, ersparte Juke die Antwort.

»Evans – Nachsitzen...heute Nachmittag...hier!«, übertönte sie stoßweise den Lärm der hinausstürmenden Siebtklässler, bevor sie entkräftet auf einen Stuhl sank.

***

Eleanor O'Jigg war restlos verwirrt, während sie sich automatisch auf den nächstbesten Stuhl am Gryffindortisch in der Großen Halle fallen ließ. Normalerweise zog sie es vor, wenn möglich, immer am gleichen Platz zu sitzen, doch heute konnte sie froh sein, dass der Tisch der Gryffindors am nahsten bei der Tür lag, sonst hätte sie sich in ihrer Zerstreutheit wohl auch zu den Slytherins neben den Blutigen Baron gesetzt.

Doch nach den Ereignissen in der letzten Schulstunde war es eigentlich zu verstehen, wenn man ein bisschen neben der Spur war. Eleanor konnte kaum fassen, was Lily da angerichtet hatte. Warum, verdammt, legte sie sich mit der strengsten Lehrerin an, die unter Umständen auch noch die gemeinste Person des Universums werden konnte, wenn man sie reizte? Warum nur?

Sie wusste doch, was auf dem Spiel stand. Zuerst einmal ihr Schulabschluss, ihre N.E.W.T.s. Schließlich zählte nach Eleanors Informationen jedes (wenn auch noch so unwichtige) Fach dazu. Ganz zu schweigen davon, dass sie bei Professor Juke auch noch Verwandlung hatten, auch wenn ihre junge (und ebenso gestrenge) Assistentin McGonagall jetzt immer öfter den Unterricht für Juke hielt.

Dann würde Lily mit großer Wahrscheinlichkeit gewaltigen Ärger mit ihrer Familie kriegen. Denn Mr und Mrs Angus, ihre spießig-konservativen Adoptiveltern, die im Ministerium arbeiteten, regten sich schon bei der geringsten Kleinigkeit auf. Das Verhältnis zwischen ihnen und Lily war auf dem Gefrierpunkt, seit Lily sich, als sie mit vierzehn Jahren zu ihnen kam, geweigert hatte, den Namen „Angus" anzunehmen. Und so war es immer weitergegangen. Nur noch Streit und Ärger, bei jeder Geringfügigkeit. Warum riskierte sie das alles? Warum, verdammt?

Jedenfalls hatte Eleanor wenigstens eine Antwort. Nämlich auf die Frage, warum sie sich selbst in die Lily-Juke-Sache eingemischt hatte. Dafür gab es einen einfachen Grund: aus Freundschaft. Nun, Freundschaft konnte man das Verhältnis zwischen Lily und ihr eigentlich nicht nennen. Nicht mehr. Sie waren einmal gute Freundinnen gewesen – genauer gesagt von dreieinhalb Jahre. Vom Schulanfang in Hogwarts bis nach Weihnachten der vierten Klasse. Dreieinhalb verdammte Jahre, bis der dunkle Lord in einer einzigen Winternacht alles zerstört hatte. Indem er Lilys Eltern umbrachte. Seitdem war Lily nicht mehr sie selbst.

Eleanor hatte natürlich erwartet, dass Lily für einige Zeit trauern würde. Aber dass es sie sich so verändern würde, nicht. Nie hätte sie das geglaubt. Doch es war wahr. Aus Lily, dem witzigen, lebenslustigen Mädchen war Lily, das Pokerface geworden, blass und ohne jede Gefühlsregung. Lily, die Verrückte, die keine Freunde brauchte. Auch Eleanor hatte das schmerzhaft gespürt. Vielleicht sogar am Schmerzhaftesten. Lily, die Unangepasste, die sich nicht darum scherte, was andere von ihr dachten. Pokerface eben.

Lautes Stimmengewirr riss sie aus ihren düsteren Gedanken und machte sie darauf aufmerksam, dass sich soeben die Leute zu ihr gesetzt hatten, die sie jetzt wohl am Wenigsten ertragen konnte – die Rumtreiber, die wohl nervigsten Zeitgenossen seit der Obstfliege.

»Na, hat dir der Auftritt eben so auf den Magen geschlagen, dass du schon vom Anschauen meines Tellers satt wirst? Oder magst du mein Essen?«, fragte Jim Potter so unerhört freundlich grinsend, dass sich Eleanor beinahe der Magen umdrehte.

Mit dieser Anspielung hatte er nicht ganz unrecht, denn Eleanor starrte seit geschlagenen fünf Minuten wortlos auf Jims Kartoffeln, ohne Anstalten zu machen, sich selbst welche aus der Schale herauszunehmen.

»Ne, ich probiere grad 'ne neue Diät aus.«, antwortete Eleanor bissig.

»Und wie soll die heißen?«, fragte Remus Lupin im gleichen Tonfall (das war wohl das erste Gebot der Rumtreiber: Du sollst schleimen, bis dein Opfer auf der Spur ausrutscht) ein, »Passivessen vielleicht?«

»Vielleicht«, murmelte Eleanor.

Am liebsten wäre sie sofort abgehauen. Bevor sie wirklich den Fehler beging und ausrutschte. Bei dieser ekligen Einwickel-Taktik konnte das nur allzu leicht passieren.

»Also, ich könnt dir da 'ne tolle Story erzählen. Aber vom Passivsaufen. Also einmal, da waren ein Kumpel und ich...«, mischte sich Sirius Black ein.

Die anderen verdrehten mit einem »Verschon uns bitte« die Augen.

»Ich sag's euch, ihr verpasst was. Aber wenn ihr sie nicht hören wollt – bitte.«, sagte Sirius gespielt beleidigt. Dann wandte er sich mit glitzernden Augen wieder an Eleanor: »Widmen wir uns doch besser den neuesten Neuigkeiten. Äh... – er schaute sich suchend um - wo ist denn unser Pokerface eigentlich? «

»Woher soll ich das wissen, Sirius Black?!«, rief Eleanor gereizt, »Und bevor du dir deinen Kopf über Lilys Aufenthaltsort zerbrichst, solltest du dir vielleicht mal auf 'nem Kalender die Jahreszahl anschauen. Die Hippiezeit ist vorbei, Mann!«

Sirius schüttelte ungerührt sein langes, pechschwarzes Haar.

»Ich weiß, Baby. Aber was glaubst du, wie lange ich gebraucht hab, bis meine Haare so geworden sind, wie sie gerade aussehen?! Und jetzt abschneiden? Never.«, erklärte er von oben herab und legte einen Arm um Lucy Straw, die neben ihm saß.

Aha. Also sind sie doch wieder zusammen, registrierte Eleanor triumphierend. Die Wette hatte sie gewonnen. Sirius Black wechselte seine Freundinnen zwar öfter als seine Zahnbürsten (sofern er überhaupt welche hatte), doch im Zweifelsfall schien er immer wieder auf Lucy Straw zurückzugreifen.

Aber die war auch echt zu hübsch, gab sie neidvoll zu. Mit ihren langen rotbraunen Locken, großen Augen, langen, schwarzen Wimpern und so. Außerdem war sie immer nach außen hin immer lieb und nett, während sie es aber in Wirklichkeit faustdick hinter den Ohren hatte. Kein Wunder, dass sie als einziges Mädchen zu den Rumtreibern gehörte.

»Huhu?«, Jim wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum, »Schon wieder beim Passivessen angelangt?«

Eleanor bemerkte, dass sie schon wieder in ewiges Grübeln versunken war. Und in Folge dessen leider wieder das Essen anstarrte.

»Ach, leck mich!«, fauchte sie genervt, stand auf und rannte aus der Großen Halle.

Das Gekicher der Fünf verfolgte sie bis in den Flur.

***

Lily Evans lehnte trotz der Kälte an einer Bank draußen auf dem Schulgelände und rauchte. Weiche Schneeflocken, die immer noch vom Himmel fielen, benetzten ihr Haar und ihre dünne Jacke. Leise summte sie „I'm a loser".

Das passte. Wenigstens die erste Zeile. Sie war definitiv ein Verlierer. Außer natürlich, wenn es um ihr Pokerface ging. Lily umklammerte ihre Zigarette fester. Es gibt Tage im Leben, die man ohne Weiteres aus dem Kalender streichen könnte. Dieser war, aus Lilys Sicht, ein solcher. Der verdiente nicht einmal mehr das Etikett „Scheißtag". Vielleicht Oberscheißtag? Auch egal.

Lily fragte sich, warum, zum Teufel, sie das getan hatte. Diese Frage beschäftigte wahrscheinlich auch den Rest der Schule einschließlich der Lehrer. Denn zweifellos hatte ihr spektakulärer Auftritt bei Juke schon die Runde gemacht, dafür hatten die Rumtreiber schon gesorgt. Idioten. Sie hatten nichts direkt gegen Sirius Black, Lucy Straw, Jim Potter, Peter Pettigrew und Remus Lupin. Eigentlich waren die ja ganz in Ordnung, nur manchmal nervten sie Lily einfach ungemein mit ihrem Grinsen und ihrer Vorliebe, Chaos zu stiften. Heute war so ein Tag.

Das war auch der Grund, warum sie nicht zum Mittagessen gekommen war. Zu viel Aufmerksamkeit war auch wieder nicht gut. Außerdem hätte sie dort Juke treffen müssen. Lily hatte nie einen persönlichen Groll oder irgendwelche Rachsucht gegen beziehungsweise auf Juke gehabt. Woher auch. Und jetzt dieser große Knall.

Mit der hab ich's verschissen, stellte Lily lapidar fest und versank weiter in düsterem Grübeln, wen die auf dem Kieker hat, macht sie fertig, egal wer oder wie alt derjenige ist oder wo er herkommt. Wahrscheinlich werd' ich erst mal zu Dumbledore geschickt werden. Wahrscheinlich wird er dann versuchen, aufs Psychoprogramm zu gehen. Bei meinen – gelinde gesagt - bescheidenen Noten sowieso. Ich werd' nichts sagen. Wahrscheinlich schickt er dann den Angus' eine Eule. Wahrscheinlich werden die dann wieder ausrasten. Vielleicht werd' ich meine N.E.W.T.s auch nicht schaffen. Dann als drogensüchtiges Wrack auf den Straßen von (Muggel-)London enden, für andere Arschlöcher Gitarre spielend. Lily blies den Rauch durch die kalte Luft. Schöne Aussichten.

Lange, bevor Eleanor um die Ecke bog, wusste Lily, dass sie kam. Sie kannte ihren Atem, ihre Schritte. Dreieinhalb unzertrennliche Jahre sprachen für sich. Eigentlich war Lily froh, dass sie nicht mehr allein war. Das dauernde Alleinsein brachte einen nur auf düstere Gedanken. Und dann gab es noch diese Horror-Tagträume, die Lily regelmäßig hatte. Natürlich wusste niemand davon, sonst hätte man sie garantiert für ein Jahr in das St. Mungo-Hospital geschickt und ihr den Psychiatern zum Fraß vorgeworfen. Das war echt das Letzte, was Lily wollte. Sie kam gut allein mit sich klar und außerdem hatte sie diese Träume ja nicht ständig. Aber wenn, dann waren sie tausendmal schlimmer als ein Horrortrip. Lily wusste, wovon sie sprach.

»Eisig hier, was?«

Eleanor stellte sich neben sie und schaute sie erwartungsvoll an.

»Hm«

Dann erzählte sie vom Mittagessen mit den Rumtreibern, dem „Passivessen", Lucy Straw und Sirius Black. Harmloses Geplauder, dachte Lily. Endlich kam Eleanor zum springenden Punkt:

»Bist jetzt ziemlich berühmt, Pokerface«, meinte sie und druckste ein bisschen herum, ehe sie mit der Hiobsbotschaft herausrückte »Juke hat dich übrigens zum Nachsitzen verdonnert. Heute Nachmittag. Und irgendwann wirst du Dumbledore auch noch 'nen Besuch abstatten müssen. Sorry, Süße.«

»Zweifelhafter Ruhm.«, murmelte Lily nur und blies den Rauch gegen die Schneeflocken.

Da ging Eleanor bald wieder.

Lily schnippte, sobald sie weg war, mit den Fingern. Der Zigarettenstummel verschwand und ebenso konnte man sich sicher sein, dass der Tabakgeruch und die Asche weg war. Alter Trick, dessen Ausarbeitung sie vor drei Jahren die ganzen Sommerferien gekostet hatte.

Lily zog den Kopf vor dem beißenden Wind ein und machte sich auf dem Weg über die Ländereien. Ihr Ziel war ein kleines Häuschen nahe am Verbotenen Wald. Hagrids Hütte.

***

Rubeus Hagrid, der Wildhüter von Hogwarts, war einer der wenigen Menschen, der das Vertrauen Lillian Evans' voll und ganz besaß und er wusste das.

Wenn er es sich recht überlegte, wussten eigentlich weder er noch sie, warum das so war, dachte Hagrid lächelnd und streichelte seinen Saurüden Fang, während er die vertrauten, weichen Schritte hörte. Vielleicht lag es daran, dass Lily ihre (ihr hochheilige) Gitarre hier sozusagen versteckte und auch nur spielte, wenn außer ihm niemand anwesend war, doch das konnte längst nicht alles sein.

Aber eigentlich war Hagrid das ziemlich egal. Die Hauptsache war ja doch, dass es so war, wie es war.

***

Lily klopfte hoffnungsvoll an Hagrids Tür. Sie musste jetzt einfach Gitarre spielen, sie brauchte es jetzt unbedingt. Hoffentlich war er da.

Zu ihrem Glück öffnete Hagrid sofort. Lily trat in das warme Innere der kleinen Hütte und streichelte den freudig bellenden Fang.

»Peace, Hagrid«

»Peace, Lily«

Das war seit drei Jahren ihre Begrüßung und die beiden dachten nicht daran, sie irgendwie zu ändern. Lily fand es einfach schön, „Peace" zu sagen, auch wenn es für andere albern klang.

Die beiden setzten sich an den Tisch und Lily begann, ihre Gitarre zu stimmen. Eine Weile hörte man nichts außer ihre Fingerübungen und das Knacken des Feuers, das im Kamin brannte. Dann begann sie leise zu spielen und zu singen.

»I'm a loser and I'm not what I appear to be. Although I laugh and I a act like a clown, beneath this mask I am wearing a frown. My tears are falling like rain from the sky, is it for her or myself that I cry?«

»So schlimm?«, erkundigte sich Hagrid teilnahmsvoll.

Lily nickte fast ein bisschen depressiv.

»Liebeskummer?«

Sie winkte ab (das war seine Standardfrage, wenn sie in ihrer Depressionsstimmung war – so etwas schien ihn wohl brennend zu interessieren) und fing an, kurz zu erzählen. was sich in „Bildende Künste" ereignet hatte.

»…und jetzt will Juke mich umbringen und ich fall' durch meine N.E.W.T.s-Prüfung. Außerdem is' da noch die Kleinigkeit mit den Angus'. Die denken doch eh, wenn was passiert, dass ich auf 'nem Trip war. «, schloss Lily und erlaubte sich, für zwei Sekunden etwas schlechte Stimmung über ihr Pokerface zu lassen.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit unterhielten sich Hagrid und sie, wenn auch eher mit den Augen, als mit den Worten.

Lily ging nicht zum Nachsitzen.

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© 2002-2003 by Ipecacuanha

Disclaimer: Alle Personen gehören J. K. Rowling, außer die, die ihr noch nicht kennt, das sind dann meine ;-). Die Songtexte gehören „The Beatles"...das gilt für die ganze Story!