TWIST AND SHOUT
KAPITEL ZWEI – COLD TURKEY
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»Temperature's rising fever is high
Can't see no future can't see no sky
My feet are so heavy so is my head
I wish I was a baby I wish I was dead«
„Cold Turkey"
John Lennon
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Sie schwebte. Dieses Gefühl des Freiseins war so intensiv, dass sie beinahe verrückt wurde. Auch die grellen, zuckenden Farbblitze und Wirbel um sie herum trugen einen Teil dazu bei.
Dort, wo sie sich befand, lässt sich die Zeit nicht messen. Weder in Sekunden oder in irgendeiner anderen Einheit. Also konnte man nicht sagen, wann das Gefühl aufhörte und sie irgendwo hinunterfiel. Sie stand plötzlich vor einem mächtigen, von Mauern umgebenen, großen Gebäude, dessen Umfang außerhalb jeglicher Vorstellungskraft war. Und es strahlte ein so helles Licht aus, dass sie sich sicher war, dass sie erblindet wäre, wenn es nicht Nacht gewesen wäre.
Sie wusste genau, wo sie war, doch immer, wenn sie dieses Wissen ergreifen wollte, war es verschwunden. Wie weggeblasen. Bevor sie auch nur halbwegs klar denken konnte, kamen scheinbar aus dem Nichts heraus vier Gestalten auf sie zu. Man konnte nicht erkennen, ob es Menschen waren, doch sie mussten zu dem Gebäude mit Mauern gehören, denn sie umgab wie es dieses Licht, das so hell war, dass man sie wahrscheinlich schon aus Lichtjahren Entfernung klar und deutlich gesehen hätte. Sie wusste nicht, warum – aber tief in ihrem Inneren empfand sie eine nie dagewesene Furcht vor diesen immer näherkommenden Wesen. Vielleicht, weil dieses Licht ihre Augen ruinieren könnte, sollten sie irgendwann vor ihr stehen. Doch es musst da noch mehr dahinter sein.
Langsam, aber unerbittlich kamen die Wesen näher, bis sie schließlich vor ihr standen. Sie versuchte wegzulaufen oder wenigstens die Augen zu schließen, doch es war, als wäre ihr ganzer Körper erstarrt. Wie betäubt. Die gleißende Lichtumhüllung der Wesen brannte und schmerzte so in ihren Augen, dass sie glaubte, sterben zu müssen. Sie fühlte sich, als würde sie bei lebendigen Leibe verbrannt, jeder Nerv in ihrem Körper, obwohl doch eigentlich gelähmt, tobte jetzt und ihre Knochen standen buchstäblich in Flammen. Es war doppelt so schlimm, dass sie nicht schreien konnte und ihre Augen keine Tränen mehr absonderten. Schmerz erstarrt zu ertragen, verstärkte alles. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen.
Ein Lichtwesen begann zu ihr zu sprechen und von allen Seiten schienen seine verzerrten Worte wiederzukommen:
»Du!«
Seine hallende, ausdrucksvolle Stimme dröhnte durch ihren Körper, wie wenn man den Lautstärkeregler einer Stereoanlage bis zum Anschlag aufdrehen würde.
»Du! Du hast uns verraten, du hast es missbraucht, er hat sich abgewandt...«
»Verraten...missbraucht...abgewandt... «, echoten die anderen Lichtwesen
Der Nachthimmel kippte und alles um sie herum begann sich zu drehen.
»Verraten...missbraucht...abgewandt...«
Die Stimmen schienen überall zu sein.
»Verraten...missbraucht...abgewandt...«
Die Wesen verschwammen. Endlich fühlte sie jegliches Gefühl verschwinden und die langersehnte, süße Ohnmacht kommen. Lieber bewusstlos sein als noch mehr zu hören, zu sehen, gequält zu werden.
Ihre Hoffnung wurde brutal zunichte gemacht, indem sich ein rasender, unvorstellbarer Schmerz von ihren Augen und ihrer Schulter aus ihren ganzen Körper durchdrang. Eines der Lichtwesen stand direkt vor ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Gepeinigt versuchte sie verzweifelt der Starre oder dem Griff zu entkommen. Zwecklos. Ihr war, als würde ihr Körper, allen voraus, die Augen gleich in Flammen aufgehen. Hatte sie eben geglaubt, schlimmer konnte es nicht mehr kommen? Lächerlich. Es konnte immer schlimmer kommen.
»Du hast Schuld...du hast Schuld...du hast Schuld...DU HAST SCHULD!«
Die flüsternden Stimmen wurden zu einem hohen Kreischen, das trommelfellzerfetzend war und durch Mark und Knochen ging. Das Lichtwesen bewegte etwas, das man vielleicht einen Arm nennen konnte, und drückte ihre Kehle zu. Sie würgte. Nur ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Das ist das Ende...
...vorbei. Von einem Punkt auf den anderen waren alle Schmerzen, das Licht und die Schreie weg. Sie fiel lautlos durch völliges Dunkel. War sie blind geworden? Lebte sie überhaupt noch?
Ein unsanfter Aufprall auf hartem Boden beantwortete ihr zumindest die letzte Frage. Auch das Dunkel um sie herum lichtete sich. Doch es blieb dabei – es war Nacht. Wenigstens etwas, was noch in Ordnung war.
Auf einmal tauchte vor ihr ein Haus auf. Es hatte eher die Größe und Form eine Villa und musste früher einmal sehr schön und prächtig gewesen sein – jetzt ähnelte es aber eher einer moosbewachsenen, halbverfallenen Ruine. Wunderbarerweise stand sie plötzlich auf einem morschen Holzfußboden im Inneren des Hauses. Doch nach den bisherigen Ereignissen hatte sie es aufgegeben, sich zu wundern. Alles war möglich, dachte sie, während ihr kalte Schauer über den Rücken hinunterliefen
Qualvolle laute Schreie drangen aus einem Raum, dessen Tür geschlossen war. Der Schlüssel steckt aber. Obwohl ihre Angst vor dem dahinter Lauernden fast genauso groß (oder noch größer) als ihre Neugier war, drehte sie ihn mit zitternden Fingern um und öffnete die schwere Tür.
Die Schwelle knarrte. Auch dieser Raum wurde von vollkommenen Dunkel beherrscht und wie zuvor lichtete sich auch Dieses allmählich. Der Geruch und der Anblick, der jäh mit bestialischer Wucht auf sie eindrang, brachte sie dazu, sich sofort zu übergeben. Es schien, als wäre sie ins Innere eines riesigen Sarges geraten: Auf dem Boden lagen Zigtausende von modernden Leichen. Und keineswegs normale Leichen, sofern es so etwas überhaupt gab. Sie waren grausam zerstückelt, ihre Körper verstümmelt.
Sie wollte sich auf dem Absatz umdrehen und hinauslaufen, doch plötzlich begann sich etwas zu regen. Die Toten begannen zu erwachen. Ihr Herz raste, sie war unfähig, sich zu rühren, während sich einige Leichen aufzurichten begannen.
Nein, das darf es nicht geben, nein, das kann nicht sein, bitte, das passiert nicht wirklich...
Wie gelähmt und mit aufgerissenen Augen starrte sie die aufgerichteten Toten an. Einbildung oder nicht, ihr kam es vor, als würden sie sich langsam auf sie zubewegen. Sie vorwurfsvoll aus ihren leeren Augen anzustarren. Hatte sie nur durch ihre bloße Anwesenheit ihre ewige Ruhe gestört?
Eine Leiche war jetzt wirklich nahe bei ihr. Und das war keine Einbildung. Ihr Magen rebellierte, als sie sie genauer musterte. Sie nahm an, dass die Leiche einmal eine noch junge Frau gewesen war. Doch obwohl die Tote Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte in diesem Raum gelegen haben musste, konnte man immer noch deutlich sehen, wie grausam sie durch Folter entstellt und niedergemetzelt worden war: Ihre lederartige rissige Hau spannte sich über ihren grinsenden Schädel, quer durch das Gesicht kam der blanke, weiße Knochen zum Vorschein. Ihre Augen waren praktisch nicht mehr vorhanden, viel eher waren es zwei eingefallene dunkle Höhlen, in denen aber immer noch Leben herrschte. Für einen winzigen Moment hatte sie sogar das Gefühl, dass die Toten sie genau erkannten, wussten, wer sie war.
Wie, als wäre sie aus einer Trance erwacht, realisierte sie unerwartet sachlich und schnell, dass viele – viel zu viele – Toten aufgestanden waren und mit ihren erbarmungslos verstümmelten Körper und vorgestreckten Armen einen immer enger werdenden Ring um sie bildeten. Tiefe unheimliche Stimme begannen zu murmeln.
»Deine Schuld...deine Schuld...deine Schuld...deine Schuld... «
Das war zu viel.
Sie kreischte und versuchte ein letztes Mal, sich herumzudrehen, wobei ein hässliches Knarren, Bröckeln und Rascheln, das verdächtig wie das eines uralten Knochen klang, ertönte. Sie stolperte, ruderte mit den Armen, wieder wurde alles schwarz –
- bis sie ein heftiger Schmerz in ihrem Gesicht aufschrecken ließ. Jemand hatte sie kräftig geohrfeigt.
»Miss Evans?«
Lily begann zitternd zu schreien. Was war hier los, verdammt?
Langsam öffnete sie die Augen und blickte geradewegs in ein kurz verschwommenes, vom blassen Vollmond beleuchteten Gesicht, dass sich als das von Madam Pomfrey, der Krankenschwester von Hogwarts, herausstellte.
»Was, um Himmels Willen, machen Sie hier? «
Lily zuckte beiläufig die Achseln und schaute interessiert einer verschwommener Gestalt nach, die schnell an ihnen vorbeihuschte. Ihre Augen waren wohl doch noch ziemlich angegriffen. War das ein Schüler? Und wenn ja, wer?
Madam Pomfrey beobachtete besorgt ihre Versuche, sich aufzurichten.
»Am besten, Sie kommen mit hoch in den Krank-«
»Nicht nötig«, unterbrach Lily sie so freundlich wie möglich und schritt über die mondbeschienenen Ländereien in Richtung Hogwarts davon.
Poppy Pomfrey sah ihr kopfschüttelnd nach.
***
Lilys Herz raste immer noch. Was, zum Teufel, war da gerade abgegangen? Verzweifelt versuchte sie sich zu erinnern. Sie war von Hagrids Hütte auf dem Weg nach Hogwarts gewesen. Und dann war das passiert.
Soweit ihr Gedächtnis reichte, war sie nicht überfallen worden, niemand hatte sie aus dem Hinterhalt zusammengeschlagen oder ihr irgendwelche Drogen verabreicht. Also gab es nur eine Erklärung: Es war wieder einer der Horrorträume gewesen. Aber konnte man das überhaupt noch Traum nennen, wenn sie einen mitten im Wachzustand überraschten?! Ganz bestimmt nicht. Das waren keine Träume mehr. Visionen war da schon ein passenderes Wort.
Lily, inzwischen in ihrem Schlafsaal angekommen, schlich sich auf Zehenspitzen noch einmal durch die Dunkelheit, um die anderen nicht zu wecken und warf sich auf ihr Bett.
Von irgendwoher glaubte sie, Gitarrenklänge zu hören. Wütend knallte sie das offene Fenster zu.
Verrückte Nacht.
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