TWIST AND SHOUT

KAPITEL DREI – BLACKBIRD

----------------------------------------------------------------------------------------------------

»Blackbird singing in the dead of night,
Take these broken wings and learn to fly
All your life,
You were only waiting for this moment to arise«

„Blackbird"

The Beatles

----------------------------------------------------------------------------------------------------

NACH ZWEI JAHREN STILLE ERNEUTER ANSCHLAG VON SIE-WISSEN-SCHON-WEM

London. Nachdem der dunkle Lord, dessen Name nicht genannt werden darf und seine Anhänger, die Todesser, zwei Jahre lang mehr oder weniger nichts mehr von sich hören lassen haben (...) jetzt mit aller Macht einen neuen Terroranschlag in der Winkelgasse verübt. (...) Die Winkelgasse wurde dabei fast vollständig gesprengt und zerstört (...) von der einstigen Einkaufsmetropole sind nur noch Tonnen Trümmer und Schutt und einigen Ruinen übrig (...) Anzahl der Opfer noch ungewiss (...) man rechnet mit Tausenden (...) unter anderem Verschüttete (...) bisher nur wenige Überlebende geborgen (...) Auswirkungen auf die Muggelwelt (...)

Ann Halley, 07.12.1980

***

Lily gab es auf, den vor ihr liegenden Tagespropheten zu lesen. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Vielleicht war sie übermüdet. Vielleicht aber auch nicht. Auch egal. Jeder einzelne Gedanke war viel zu anstrengend.

Sie wünschte, sie hätte einen Zeitumkehrer. Dann würde sie nämlich einfach eine Woche zurückreisen, wo man noch ganz normale Träume von der Freiheit – dem Schulabschluss – haben konnte, ohne das Todesser oder Ähnliches dazwischenfunkte. Wo man noch den Unterricht an sich vorbeirauschen lassen konnte, ohne dass man sich mit Juke herumstressen musste. Und wo man noch schlafen und allein sein konnte, ohne befürchten zu müssen, dass einem im nächsten Moment eine Horrorvision umbringt. Aber die Welt war eben aus dem Gleichgewicht geraten und das war auch der einzige Grund, warum sie sich, noch eine ganze Schattierung blasser als sonst, mit Augenringen und zitternden Händen an einem solchen Morgen zum Frühstück in die Große Halle setzte.

Zwischen verängstigte Kinder und den verheulten oder verunsicherten Rest. Zwischen eine zu Tode erschrockene Eleanor und die Rumtreiber, deren Scherze auch etwas unnatürlich klangen. Zwischen grinsende Slytherins. Zwischen die ach so gefassten Lehrer mit ihrem Heile-Welt-Grinsen im Gesicht.

Ätzend. Die Welt war scheiße. Missmutig zerbröselte Lily das Brot, dass auf ihrem Teller lag.

»Auch schon beim Passivessen angelangt?«, versuchte Sirius Black, die trübselige, in ihre Tagespropheten (Dumbledore hatte angeordnet, dass jeder Schüler einen bekam, »um sich selbst ein Bild der Sachlage zu machen«) starrende Runde aufzuheitern, was wie erwartet gründlich misslang.

»Verschon mich mit deinen lauwarmen Witzen von gestern«, knurrte Lily. Sie hatte jetzt echt keinen Nerv für Irgendjemanden aus der nervigen Sippe der Rumtreiber.

»Ohhh, Prinzessin Pokerface sitzt heute wieder mal auf einer Erbse, hm?«, konnte er ihr gerade noch zuzischen, als Dumbledore aufstand und mit lauter, klarer Stimme zu sprechen begann.

Lily verdrehte die Augen. Es war im Prinzip die gleiche Rede, die er den Siebtklässler irgendwann um Mitternacht herum gehalten hatte, mit einigen entschärften Details vielleicht. Die Lehrerschaft hatte es wohl für nötig befunden, die „Großen" gleich nach dem Anschlag zu benachrichtigen. Es gab genug Gründe, warum.

Aber darüber wollte sie jetzt nicht darüber nachdenken. Denken war schließlich anstrengend, schoss ihr etwas schmerzhaft durch den Kopf, während sie ein Gähnen unterdrückte.

***

Lily tat genau das, womit sie vor ungefähr einer Stunde aufgehört hatte: Ein Gähnen unterdrücken. Was sollte man auch anderes machen, wenn vorn an der Tafel irgendein fetter, alter Typ mit einer Fast-Glatze vom Ministerium stand und langweiliges, sinnloses Zeug laberte?

»Angesichts der besonderen Umstände«, wie Juke am Anfang der Stunde erklärt hatte, war er gekommen, »um die planmäßige Bekämpfungsstrategie des Ministeriums gegen die Terroranschläge zu erörtern und nebenbei den Beruf Auror näher zu beschreiben.«

Solche Typen, die einem ständig in stundenlangen Vorträgen irgendwelche Berufe schmackhaft machen sollten, kamen seit Anfang der Siebten ständig. Schließlich sollten sie, die „Elite-Schüler", ja etwas „Anständiges" werden. Lily hatte überhaupt keine Ahnung, was sie werden wollte. Eigentlich wusste sie nur, was oder wie sie nicht werden wollte – wie Juke etwa, oder wie die Angus'. Oder so ein halbkaputter Ministeriumstyp, wie der, der jetzt (immer noch labernd) vor ihr stand.

Eigentlich konnte der einem fast Leid tun. Obwohl Juke gelegentlich vom Lehrerzimmer aus wieder im Klassenzimmer apparierte, um kurz nach dem Rechten zu sehen, hörte wirklich kein Schwein zu. Mühsam setzte sich Lily, die immer weiter in sich zusammengesunken war, wieder aufrecht hin, um von ihrem Platz in der letzten Reihe aus ihre lieben Mitschüler halbwegs gut beobachten zu können und – ganz wichtig – ja nicht einzuschlafen.

Müde rieb sie sich die Augen und unterdrückte einen weiteren Gähnanfall. Einige aus der Klasse taten es ihr gleich, während andere ungestört weiterdösten. Die Rumtreiber arbeiteten hochkonzentriert und beschrieben Pergamentrollen. Wahrscheinlich an einer neuen Strategie, um noch mehr ihrer Mitmenschen endgültig in den Wahnsinn zu treiben, dachte Lily verächtlich. Eleanor und einige Leute in den vorderen Reihen konnten anscheinend immer noch nicht fassen, was passiert war, denn man sah ihnen deutlich an, dass sie allergrößte Mühe hatten, um nicht in Tränen auszubrechen oder beispielsweise Zitteranfälle zu bekommen. Der Rest machte die Hausaufgaben, die sie eigentlich für den heutigen Tag erledigen hätten müssen oder lernte für Alte Runen – ein besonders mieses Fach, dass der Stenografie der Muggel gleichkam.

Es half alles nichts. Es war todlangweilig und Lily war todmüde. Seufzend schaute sie auf ihre Armbanduhr, deren Zeiger irgendwie kaputt sein mussten, denn sie bewegten sich kaum von der Stelle. Noch ganze eineinhalb Stunden lagen vor ihr , bevor endlich der erlösende Gong zum Mittagessen kam. Erlösende? Guter Witz. Erlösend von dem Gelaber, ja, aber von den hunderttausend anderen Problemen, die vor ihr lagen wie ein unüberwindbarer Steinberg, leider nicht. Nie.

Bestand eigentlich die Möglichkeit, dass irgendjemand von den noch normalen Leuten, die sie kannte, auch verreckt war? Von der Winkelgasse und allen denen, die sich bei den Anschlägen dort befanden oder in der Nähe wohnten, waren jetzt im wahrsten Sinne des Wortes nur noch (Schutt und) Asche übrig. Lily begann, in Gedanken eine Aufzählung zu machen: Hagrid war hier, ihre Gitarre auch, ebenso wie Eleanor. Arabella befand sich ihres Wissens nach zur Zeit in New York. Aber die Angus' – sie wohnten bei der Winkelgasse! Über ihr müdes Gesicht huschte ein kleines Lächeln. Möglicherweise hatte sich eins ihrer Hauptprobleme ganz von selbst erledigt. Dann hätten die Attentäter ja wenigstens etwas Gutes getan. Genüsslich stellte sich Lily vor, wie die Angus' eventuell gestorben sein könnten (Vielleicht erstickt, vielleicht auch nicht...es gab viele Möglichkeiten, hoffentlich nur schön langsam und qualvoll), sodass sie für ein, zwei Augenblicke ihre Müdigkeit vergaß. Doch ein Huster von Irgendjemanden ließ sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Ihre depressive Stimmung gewann wieder die Überhand. Schade eigentlich.

***

Langsam verschwammen und verzerrten sich die Gestalten und Stimmen rings um sie herum und dieses, ihr wohlbekannte, schwebende Gefühl und die Dunkelheit machten sich in ihr breit. Nicht einmal so weit entfernt konnte sie das Strahlen erkennen – das Strahlen des Gebäudes. Die Vision kam zurück. Das Entsetzliche daran war, dass sie genau wusste, dass es eine war und trotzdem nicht aufwachte, was normal geschehen hätte müssen. Verzweifelt schlug sie um sich, doch das, was sie schweben ließ, brachte sie unerbittlich näher an das tödliche Gebäude heran.

Einige Minuten lang waren ihre Gefühle wie ausgestellt. Das Erste, was sie wieder bemerkte, war die nicht gerade sehr sanfte Landung auf einem harten Steinfußboden. Sie spürte, ja, sie wusste, wo sie war. Im Inneren des Gebäudes, genauer gesagt in einem Raum, in dem eine der mächtigen Lichtgestalten stand. Man brauchte nicht zu sehen, um das zu wissen. In einem kurzen Anfall von Wahnsinn öffnete sie ihre instinktiv fest zugekniffenen Augen einen Spalt. Verwundert schlug sie sie dann ganz auf. Wider erwarten war der Raum eher dunkel als grell und selbst das Lichtwesen, das mit jemanden sprach, hatte das Strahlen auf ein Minimum herabgesenkt. Außerdem kreisten an der mehrere schwarze Vögel, die komische Laute von sich gaben. Krähen? Oder Amseln? Nun, auf jeden Fall waren es schwarze Vögel.

Von dem gedämpften Gespräch, dass die Lichtgestalt und der Jemand, der sich bei genauem Hinsehen als normal sterblicher männlicher Mensch entpuppte, drangen nur einige Fetzen bis zu ihr. Doch schon diese reichten, um sie neugierig zu machen. Mutig geworden robbte sie auf den Knien näher an die beiden heran...

»…sehr gut erledigt. Du erweist dich deines Blutes würdig. Schon bald wirst du reif genug sein, um dein Erbe antreten zu können. Doch vorher gibt es noch allerhand zu erledigen. Na, na, na...spüre ich da etwa Angst? Angst? Aber was rede ich denn da...einer unseres Blutes würde nie Angst haben, nicht wahr? «

»Nein, oh hoh-«

»Dann schweig und höre! Als erstes will ich, dass er verschwindet. Dramatisiere es nicht, keine offensichtliche Magie – sonst steht dir alles offen. Wir haben uns schon Mehrerer dieses Abschaums entledigt. Die Sache muss endlich wieder vorangetrieben werden. Höre ich bis spätestens morgen früh nichts von einer erfolgreichen Erfüllung meines Auftrags, kannst du dir dein Testament vorbereiten. Los!«

Der Mann verbeugte sich eilig und wollte gehen, als sie sich nicht mehr zusammenreißen  konnte und laut nieste. Langsam und grimmig drehte die Lichtgestalt den Kopf in ihre Richtung und fixierte sie eine schreckliche, schmerzhafte Sekunde lang. In Todesangst versuchte sie, dem Blick zu entkommen – keine Chance. Das Wesen stand auf und kam näher, näher –

»Pokerface?! Hallo? Ist dir das Abendessen nicht bekommen?«

Ungemein erleichtert öffnete Lily die Augen und erhob sich langsam. Sie hätte nicht gedacht, dass sie sich irgendwann einmal in ihrem ganzen Leben so freuen würde, die Rumtreiber zu sehen. Am liebsten hätte Lily jeden von ihnen einzeln abgeknutscht, so dankbar war sie ihnen.

»Danke. Alles in bester Ordnung«, kam sie auf die Frage zurück.

Einen Augenblick lang standen die Rumtreiber noch ziemlich verwirrt da, bis sie sich endlich umdrehten und leise debattierend in Richtung Küche davongingen.

Lily hatte gute Ohren und nach der Bemerkung Remus Lupins über ihren Geisteszustand war es nicht weiter verwunderlich, dass ihr Verlangen, die Bande zu knutschen, drastisch sank.

***

Nie wieder schlafen zu wollen, war eine Sache – es auch ohne Drogen umzusetzen, eine andere.

Lily saß total fertig am Fenster des Schlafsaals der Mädchen der siebten Klasse und starrte in die Dunkelheit hinaus. Der Tag hatte es in sich gehabt. Leise öffnete sie das Fenster. Die Nachtluft war klar, eiskalt, aber angenehm und der leichte Wind rauschte leise...

Es fühlte sich gut an. Vielleicht brauchte sie auch gar keine Drogen mehr. Vielleicht ging es ohne. Vielleicht aber auch nicht...

***

Von irgendetwas Spitzigen, Scharfen empfindlich gestoßen, schreckte sie hoch. Die Leuchtziffern ihres Weckers zeigten halb vier Uhr morgens an. Lily saß noch immer am Fensterbrett und rieb sich die Augen. War sie doch eingeschlafen? Und wenn ja, hatte sie es überlebt?!

Danach schien es ganz und gar auszusehen. In diesem Moment piekte sie wieder etwas. Benommen drehte sie sich um und sah eine dunkle Eule, die einen Brief auf ihr Bett gelegt hatte und ungeduldig auf ihre Reaktion wartete.

Verwundert streckte Lily sich und sah der eilig davon flatternden Eule nach. Nachdenklich schloss sie das Fenster. Wer schrieb ihr denn um diese Uhrzeit? Neugierig setzte sie sich auf ihr Bett und versuchte, im Mondschein den Absender zu entziffern: Arabella Figg.

Lily lächelte. Natürlich, wer sonst außer ihr kam um diese Zeit auf die Idee eine Eule zu verschicken? Sie hätte es sich wirklich denken können.

Die Freundschaft zwischen der siebzehnjährigen Lily und der dreiundzwanzigjährigen Arabella war in Lilys ersten und Arabellas letztem Jahr in Hogwarts entstanden, als sie durch einen Zufall ihre gemeinsame Leidenschaft für die Beatles und insbesondere John Lennon entdeckten. Eigentlich für die gesamte Musik dieser Zeit. Leidenschaft war fast noch untertrieben, denn sie lebten für diese Musik, sie atmeten, spürten sie. Seitdem waren sie eng befreundet, aller Widersprüchlichkeit des großen Altersunterschiedes zum Trotz.

Inzwischen hatte Lily den Brief geöffnet. Ein eilig bekritzelter Zettel viel heraus:

Süße, John...er ist tot. John Lennon. Erschossen. Schalt das Radio ein. Arabella

Lilys Gedanken wirbelten durcheinander. John Lennon...tot?! John Lennon?!

Einige Sekunden war sie wie gelähmt. Ihr wurde schwindelig, sie sackte zusammen. Dann sprang sie gehetzt auf und rannte zum Klo, als ginge es um ihr Leben.

Dort angekommen, sprach sie den Aufrufezauber und ließ ein Radio von irgendwoher heranfliegen. Das Zaubereiministerium, dass das sicher nicht so gern sah, sollten sie es herausbekommen, konnte sie mal. Schnell schaute sie sich das Radio sich an. Ein Zauberradio. Das würde selbst auf Hogwarts nicht spinnen, sondern funktionieren.

Lily atmete noch einmal tief durch und drückte dann mit zitternden Fingern den Einschalt-Knopf.

»...nun ist es also bestätigt: John Winston Lennon, Ex-Beatle, wurde um ca. 22:50 Uhr Ortszeit in New York vor dem Dakota erschossen. Bis jetzt gibt es keine genaueren Hinweise über den Täte-«

Die Stimme des Nachrichtensprechers verstummte. Vermutlich war das Radio doch nicht so funktionstüchtig. Lily glaubte, ein schrilles, böses Lachen zu hören.

»Es war deine eigene Schuld. Hörst du? DEINE SCHULD?! Strafe muss sein...DEINE SCHULD!«

Lily kotzte.

----------------------------------------------------------------------------------------------------

© 2002-2003 by Ipecacuanha