TWIST AND SHOUT

KAPITEL VIER – GET BACK

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»Get back,

Get back,

Get back

To where you once belong«

„Get back"

The Beatles

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Rennen. Rennen. Rennen.

Schneller. Schneller.

Diese Worte dröhnten in einer Endlosschleife durch Lilys Kopf, während sie wie ein dunkler Windhauch über die nächtlichen Ländereien von Hogwarts raste. In ihrem Kopf herrschte trotz allem eine merkwürdige Leere, als wenn sie von einer Sekunde auf die andere das Denken verlernt hätte. Lily war viel zu aufgewühlt, um zu wissen, was sie da eigentlich tat und wohin sie wollte, doch ihre Beine trugen sie so schnell vorwärts, als hätten sie eigenen Verstand entwickelt. Und sie führten sie auf einen Weg, dessen Ziel vielleicht ihr schlimmster Alptraum sein könnte.

Keuchend schlug sie einen fast zugewachsenen, verwilderten, um diese Jahreszeit tief verschneiten und von anderen nie entdeckten Pfad in Richtung Hogsmeade ein. Die Sträucher wucherten vielleicht etwas üppiger als früher (sofern man das im tiefsten Winter erahnen konnte) aber sonst war alles noch genauso wie vor drei Jahren. Einzig und allein die unbarmherzig spitzen Stacheln der Dornenhecke, unter denen Lily sich früher mit Leichtigkeit und jetzt sehr mühsam durchzwängen musste und die ihr schmerzhaft durchs Gesicht fuhren, erinnerten sie für einen Moment daran, dass sie nicht mehr vierzehn Jahre alt war. Unter normalen Umständen hätte sie wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte dieser Mörderroute durchgehalten, aber was war heute schon normal? Heute gab es keinen Schmerz. Keine Gefühle. Kein Frieren. Das Ziel war alles, was zählte.

Das Gestrüpp und der Schnee lichteten sich. Endlich tauchte das Dach des Holzschuppens vor ihr auf.

»...das letzte Stück des Weges schien sich, wie immer, endlos hinzuziehen. Es war jedes Mal so, wenn sie hierher kamen; neunzig Prozent der nicht gerade kurzen Strecke schafften sie spielend, doch für die restlichen zehn brauchten sie scheinbar mindestens doppelt so lange. Verhöhnender Weise war besagtes Wegstück auch noch im Gegensatz zu den ebenso besagten neunzig Prozent ein einfacher, ein nur noch von den Stachelsträuchern gesäumter Sandpfad, der wohl einmal als provisorische Straße für den Traktor des längst weggezogenen Bauern gedient hatte. Und trotzdem – er war das Schlimmste. Zieleinlauf, wie Lily ihn in einem Anfall von Sarkasmus einmal bezeichnet hatte. Manchmal konnte sie unglaublich zynisch werden, in letzter Zeit immer häufiger. So stellte sie sich zum Beispiel, wenn sie sich wieder mal auf dem Weg quälte, die Stimme eines  (Quidditch-)Kommentatoren vor, so in etwa: „Und nun die letzten Meter bis zum Ziel! Sie führt unangefochten – aber wird sie es noch durchhalten? Oh – oh – das könnte knapp werden...". Vielleicht machte das der ganze Stoff, den sie regelmäßig einwarf. Jedenfalls redeten er und sie auf diesen „letzten Metern bis zum Ziel" kein Wort miteinander oder kommunizierten auf irgendeine andere Art und Weise miteinander. Verbissen stapften sie Tag für Tag nebeneinander ohne ein Wort vorwärts, jeder innerlich den schwersten Kampf, den es nur geben konnte, allein für sich ausfechtend. Sicher, sie beide waren Kämpfernaturen, aber jeder für sich alleine. Man konnte allerdings nicht wissen, ob das nicht besser war, im Kampf gegen sich selbst...«

Stop!

Abrupt blieb sie stehen.

Keine Erinnerungen. Das hielt sie nicht aus. Nicht heute, nicht jetzt, nicht daran.

Schreiend sank sie auf die Knie.

Oh Gott, sie wurde verrückt. Absolut irre. Meschugge, schizo, krank im Kopf – es gab tausend Bezeichnungen dafür. Oder es war einfach nur der Rückfall, vor dem sie jahrelang gewarnt wurde. Verrückt werden war da doch entschieden besser. In seltenen Momenten hatte Lily die Gabe, zwei Personen zugleich zu sein. Dann stand sie vollkommen neben ihrem eigentlichen Ich und baute totale Scheiße, während sie sich selbst dabei nur wie eine Fremde betrachtete und ihr Sachen nach dem Motto »Was für eine Verrückte« durch den Kopf gingen. Jetzt war wieder so ein Moment.

Nach einigen Minuten, Stunden oder Sekunden war der Anfall vorbei und der Rest ihrer alten Kämpfernatur regte sich in ihrem völlig ausgebrannten Körper. Sie würde denen nicht den Gefallen tun und endgültig zur einer zu bedauernden geistig Verwirrten werden. Ganz bestimmt nicht. Außerdem brauchte sie jetzt unbedingt etwas. Unbedingt. Sie rannte weiter. Einfach so. Manchmal konnte sie sogar aus dem Stand irgendwelche Sachen machen, zu denen sie sonst einen dreimal verlängerten Anlauf gebraucht hätte.

Als Lily vor der morschen Holztür, die Klinke umfasst, stand, hielt sie inne. Von drinnen dröhnte Musik; etwas Indisches, vielleicht gemixt mit den Be – ach egal, auf jeden Fall irgendwie indisch, surreal und schon in der Mitte des „Zieleinlaufs" schmeckte die Luft intensiv nach Räucherstäbchen, Zigaretten, Marihuana, diversen alkoholischen Getränken und noch Einigem mehr.

»...wieder hatten sie es geschafft. Den Kampf gewonnen. Für dieses Mal. Aber darüber verschwendeten die beiden keine Gedanken. Sie planten nicht im Voraus, sie lebten für den Moment. Anstelle die Tür gleich zu öffnen, zögerte er und tauschte einen Blick mit Lily. Noch so ein Ritual. Sinnlos, vielleicht. Aber eben ihr Ritual...«

Diesmal musste sie nur unwillig den Kopf schütteln und das Flashback zerplatzte genauso schnell, wie es gekommen war. Langsam bekam sie wohl Übung im Umgang mit Halluzinationen und Ähnlichem. Vielleicht war es aber auch nur die Aussicht auf den Stoff, den sie zweifellos gleich bekommen würde, die ihr nahezu übermenschliche Kräfte verlieh.

Mit einem Ruck öffnete Lily die Tür und ging mit geschlossenen Augen einige hastige Schritte. Nichts passierte. Atemlos wagte sie nach einige Sekunden, die Augen wieder zu öffnen. Einen Augenblick lang sah sie nichts als weißen Nebel, so dicht schwebten die Rauchschwaden in der Luft. Oh Gott, die Luft – sie war zum Schneiden dick, stickig und es stank, sodass sich ihr für einige Minuten der Magen umdrehte. Ihre Augen brannten. Mühsam und ungeschickt stolperte sie halb blind weiter vorwärts, eine Hand auf den Bauch gepresst, die andere suchend tastend. Nach einer halben Ewigkeit fühlte sie endlich Widerstand – der morsche Holpfeiler, der schon vor zwei Jahren so ausgesehen hatte, als würde er jeden Moment in sich zusammenbrechen, stand also immer noch. Erleichtert lehnte sie sich an und sank unwillkürlich etwas in sich zusammen. Eine Träne rann ihre linke Wange herab. Verdammter Qualm! Es musste einfach der Qualm gewesen sein, der schmerzhaft in ihre Augen biss. Was denn sonst? Warum sollte sie heulen? Sie, Lillian – nicht mehr Lily, sondern wie früher -, war doch am Ziel. Angekommen. Da. Zu Hause. Hysterisch lachte sie auf. Die Folge davon war, dass der beißende Qualm in ihren Mund drang und sie einen Hustanfall bekam. Ihr wurde schwindelig. Die Rauchschwaden um sie herum begannen zu tanzen. Torkelnd versuchte sie vergeblich, Halt zu finden. Dann fiel sie über irgendetwas Großes, Weiches.

Der Aufprall war nicht wirklich schmerzhaft, obwohl sie auf bloßen Holzboden alles andere als sanft aufschlug. Es knallte auch ziemlich laut. Mit einem Schlag setzte die betörende Musik aus und ein wildes Stimmengewirr brach los. Das alles bekam Lily nur noch am Rande mit. Für sie spielte die Musik weiter, vermischte sich mit Kreischen, Trommeln. Das letzte, was sie wahrnahm, war das langhaarige Gesicht Jokes, das sich mit riesigen Pupillen über sie beugte und seine Worte:»Wieder eine Heimkehr der verlorenen Tochter – nun ist wohl auch die Letzte zurückgekehrt!«

***

Dieses Schweben.

Sie hatte nicht geglaubt, dass das auch noch jetzt funktionierte. Dass das Schicksal so grausam sein konnte. Dramatik. Große Worte, viel zu groß für einen lächerlichen psychopathischen, gerade wieder in die Szene eingestiegenen Junkie. Eigentlich musste sie fast über sich selbst lachen, obwohl ihre Situation eher zum Heulen war. Wie immer konnte nichts dagegen tun. Wie immer wusste sie nicht, was sie erwartete. Wie immer hatte dieses Gefühl, das ihren ganzen Körper durchdrang, eine unglaubliche Intensität. Sie hatte Angst – wie immer.

Mit aller Kraft, die ihr kaputter Körper aufbringen konnte, versuchte sie, den Kopf zu schütteln, aber es schien, als seien ihre ganzen Nervenbahnen blockiert. Merkwürdig, wie konnten ihre Gliedmaßen nur so leicht und gleichzeitig so starr sein? Nach sechs erfolglosen Versuchen gelang es ihr schließlich, ihren Kopf ein kleines Stückchen zu drehen. Doch die beabsichtigte Wirkung trat nicht ein. Weder befand sie sich wieder auf dem Holzfußboden, noch hörte der eklige Schwebezustand auf. Diese Visionen waren von einer ganz anderen Größenordnung als ihre Flashbacks, die sie nach Belieben (oder jedenfalls fast) wieder verdrängen konnte. Und da kämpfte sie schon gegen ihren – bis jetzt geglaubten – größten Feind: Sich selbst. Das sagte schon Einiges über den oder die aus, der beziehungsweise die ihr diese Visionen schickten.

Irgendwoher mussten sie ja kommen. Das konnte ja nicht von allein passieren. Hoffte sie zumindest. Es machte sie fast wahnsinnig, gegen jemand (oder etwas?) anzukämpfen, den sie nicht kannte, gegen nichts Reales. Toll, das war wieder mal typisch sie – wahrscheinlich schwebte sie (wie schon so oft in den letzten Tagen) in etwas, was schlimmer war als bloße Lebensgefahr und was tat sie? Sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, woher Visionen kamen. Aber man gewöhnte sich an alles. Einmal Zyniker, immer Zyniker – so war das eben. Manchmal war es direkt gut, wenn man verrückt und nicht ganz richtig im Kopf war.

Was phantasierte sie sich da eigentlich für einen ausgemachten Schwachsinn zusammen? Wütend wie sie war, gelang es ihr noch ein zweites Mal, ihren Kopf um einige Millimeter hin und her zu bewegen. Der gewünschte Effekt blieb allerdings wieder aus.

,Netter Versuch. Aber dazu gehört schon etwas mehr, als du kannst.'

Oh Gott. Diese Stimme! Sie hielt das nicht mehr aus. Diese Stimme...genauso...mächtig...leicht verzerrt...mild, fast sanft...

,Ich sagte, mehr, als du kannst.'

Verdammt! Sie war so nah dran gewesen! Beinahe hätte sie gewusst, was diese Stimme war, woher sie kam, woher sie sie kannte. Jetzt war es weg. Und je gewaltsamer sie versuchte, den Gedanken zurückzuzwingen, umso mehr entfernte er sich. Verdammte Scheiße!

Dunkelheit.

Alles ergreifend.

Als sie nach einigen, wie ausradierten Sekunden wieder in den Schwebezustand zurückkehrte, war nichts mehr so wie immer, nicht einmal mehr der Schwebezustand selbst. Alles wirkte so künstlich, einfach unecht. Wie eine schlecht nachgebaute Kulisse.

Eine Stimme sagte irgendetwas Unverständliches. Sie war vielleicht die Gleiche wie vorhin, hallte aber und war so verzerrt, dass man beim besten Willen nichts verstehen konnte. Anstelle des zwar nicht angenehmen, aber wenigstens noch etwas beruhigenden (haha) Dunkel rasten jetzt rauschende Farbenwirbel und verzerrte, unidentifizierbare Fratzen um sie herum. Kreischen, Trommeln. Sie bäumte sich auf. Was, zum Teufel, war das jetzt schon wieder für eine Scheiße? Ihrem Magen heute wirklich nichts erspart. Es war sowieso ein Wunder, dass sie noch nicht gekotzt hatte.

Eine der Fratzen wurde größer und größer, heller und heller und begann langsam aber sicher, Gestalt anzunehmen. Das Lichtwesen?! Sie schrie, kreischte, schlug krank vor Furcht wild um sich. Es wuchs in Sekundenschnelle und kam auf sie zu. Näher, näher. Und absolut todbringend. Sie bekam keine Luft mehr, versuchte panisch, Atem zu holen, hustete qualvoll...

»Nur nicht so gierig! Es ist genug da, keine Sorge, bei solch einem Anlass wird ausgegeben. Rückkehr wird doch immer gefeiert!«

Es dauerte einige Minuten, bis Lily begriff, wo sie war, wer sie war. Es schien, als hätte sie jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Dann brauchte sie mindestens die doppelte Zeitspanne, um zu realisieren, dass sie sich nicht mehr in Gefahr befand. Und nur zwei Sekunden, um zu bemerken, dass das ganz und gar nicht der Fall war.

Diese Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag in den Magen. Stöhnend wand sie sich. Sie lag zwar wie zuvor noch auf dem Boden, doch jetzt nicht mehr allein, sondern alle, vielleicht nicht ausnahmslos, aber fast alle saßen um sie herum. Und als ob das nicht schon genug wäre, waren Joke und Leila mit Freuden dabei, ihr mehr oder weniger gewaltsam irgendwelche Pillen und Wodka pur einzuflößen. Sie würgte erneut.

»Na, na! Kotz das teure Zeug jetzt ja nicht wieder aus!«

Der hatte gut reden. Aber Lily war nicht mehr in der Lage zu protestieren. Der Stoff entfaltete sein volle Wirkung. Die hauptsächlich schadenfrohen Gesichter um sie herum begann zu verschwimmen, sich auszudehnen, zu verzerren. Die Welt um sie herum wurde in wundervolle, pulsierende Farben getaucht. Fasziniert zwang sie sich dazu, die Augen weit zu öffnen. Lily fühlte sich leicht, frei. Eine kleine Stimme in ihrem Inneren schalt sie eine gottverdammte Idiotin, die nicht mal mehr checkte, dass sie sich auf einem Trip befand, aber sie war zu dünn, zu schwach, sich durchzusetzen. Vor was hatte sie eigentlich Angst gehabt? Ihre Sorgen, Probleme, Juke, die Lichtwesen – war doch scheißegal. Sie war glücklich.

Kichernd registrierte sie, dass eine riesige Hand auf sie zukam und ihr etwas, das entfernt einer Weinflasche ähnelte, an die Lippen setzte. Erst das Etikett brachte ihr Ernüchterung. Nicht das! Alles, nur nicht das! Nein! Nein! Das nicht! Bitte...nein!

Wenn sie die Wahl zwischen Schlucken oder Ersticken gehabt hätte, hätte sie Letzteres gewählt. Aber es war zu spät. Die Flüssigkeit, für sie schlimmer als eine Mischung aus LSD, Heroin und Methadon, rann wie von selbst ihre Kehle hinunter. Lily ballte die Fäuste...

***

»...sie liebte die Sitar. Ihre Klänge – gitarrenähnlich und leicht verwoben – waren einfach unbeschreiblich. Arabella und sie hatten vor längerer Zeit selbst einmal versucht, zu spielen – erfolglos. Rav konnte es dafür umso besser. Unwillkürlich summte Lily mit. Die Melodie hatte so ein Indien-Feeling, von Liebe und Frieden...man konnte so etwas Einzigartiges gar nicht ihm würdig beschreiben.

Nach ihrem Blickaustausch deponierten die beiden schnell wie sorgfältig ihre Schuluniformen hinter den Büschen. Darunter trugen sie bunte weite Schlaghosen und ebenso große bestickte Hemden mit Trompetenärmel, eben die Kleidung der Hippies, auch wenn sie vielleicht nicht wirklich welche waren. Dann gingen sie endgültig hinein.

Es war kein richtiger Nebel, sondern die Mischung des Rauchs der unzähligen Räucherstäbchen, Zigaretten und Wasserpfeifen, der in der Luft lag, aber Lily mochte die Vorstellung einfach – das gab dem ganzen etwas Geheimnisvolles, Magisch-Romantisches. Magisch im wahrsten Sinne des Wortes...

Lily lächelte. Das tat sie nicht oft, seit...na ja, jedenfalls war es nicht nur ein ungewohntes Verziehen des Gesichtes, auch See fragte sie gleich etwas irritiert, was sie hatte. Daraufhin ließ sie es lieber. Erklären wollte sie es nicht. Die meisten hier hielten nicht viel von Geheimnisvollen, geschweige denn Romantik, wahrscheinlich war das unter Hippies nicht üblich. Oder es lag daran, dass sie wie gesagt nicht wirklich welche waren. Aber ab heute würde sich das Weltbild der anderen mit großer Wahrscheinlichkeit drastisch verändern. Wenigstens hoffte sie das...

Bis jetzt sah es nämlich nicht so aus, als ob viele Lust auf ihr alltägliches Treffen hatten. Ihre Zusammenkünfte waren zwanglos – entweder man war da oder eben nicht. Komplett bestand die Gruppe aus vierzehn Leuten, die von Anfang an da gewesen waren und auch in Zukunft kommen würden plus deren Freunde, die gelegentlich mal mitkamen. Es gab aber auch Tage an denen nur die fünf „Radikalsten" von ihnen zusammensaßen: Joke, der so etwas wie einen Chef darstellte, auch wenn sie alle immer wieder betonten, wie gleich sie doch waren, irgendeinen Leithammel brauchte man ebenimmer, seine Freundin Leila, sein Bruder und Sitarspieler Rav, See und sie selbst. Meistens kamen aber fast alle, weil sie einfach etwas brauchten. Den Kampf gegen sich selbst nicht schafften. Niemand schaffte das.

Zielstrebig steuerte See auf eine verwinkelte Ecke des Schuppens zu. Lily folgte ihm. See kannte den Holzschuppen von innen wie von außen wie seine Westentasche und würde sich selbst mit verbundenen Augen großartig zurechtfinden (was ja nötig war, bei dem dichten Qualm hier). In der Ecke knutschten Leila und Joke halb auf den Kissen sitzend, halb liegend.

,Darf man stören?', fragte See in einem ausgesprochen höflichen Tonfall mit einem spöttischen Funkeln in den Augen.

Unwillig löste sich Joke aus Leilas Umarmung und richtete sich auf.

,Quatsch nicht rum. Kümmer' dich lieber um euren großen Auftritt.'

,Alles längst bereit.', erwiderte Lily und wickelte sichtlich nervös eine rote Haarsträhne um ihren Zeigefinger.

,So?', Joke musterte sie zweifelnd von oben bis unten. Lily fühlte sich nun gänzlich unwohl. Von ihrem berühmten Pokerface war nicht mehr viel übrig. See dagegen war die Coolness in Person. ,Na, dann bin ich wirklich mal gespannt, was das für eine sensationelle Entdeckung sein wird.'

,Du wirst ganz bestimmt auf deine Kosten kommen.'

,So?', sagte er nur noch einmal, zog eine Augenbraue hoch und machte sich dann daran, den von See und Lily mitgebrachten Stoff aus der Weinflasche in Pappbecher zu verteilen.

,Spinnst du? Nicht so viel. Nur ein Tropfen. Oder willst du abkratzen?', herrschte See, der Joke mit Argusaugen beobachtet hatte, ihn an.

,Peace, Brother. Ganz ruhig bleiben. Sonst vergessen wir das Ganze.'

See konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Joke in seltenen Momenten den Boss raushängen ließ und Lily wusste das. Also legte sie ihm beschwichtigend die Hand auf den Unterarm. Das half fast immer. Auch diesmal.

Inzwischen waren auch die anderen gekommen. Es waren wirklich alle, auch wenn Lily schon nicht mehr daran geglaubt hätte. Schnell verteilte sie die Pappbecher. Dann setzte sie sich See gegenüber im Schneidersitz und wies die anderen innerlich tausend Tode sterbend an, einen Halbkreis um sie herum zu bilden. Das war nicht wirklich wichtig, aber See hatte darauf bestanden, als sie heute morgen vor dem Frühstück den genauen Ablauf besprochen hatten. Anscheinend hatte er doch mehr Sinn fürs Mystische, als sie geglaubt hatte.

Auf ihr Kommando hin tranken alle die Flüssigkeit in den Pappbechern gleichzeitig. Lily war mittlerweile so aufgeregt, dass sie sich beinahe verschluckt hätte, was das Ende hätte bedeuten zu können. Ärgerlich zwang sie sich, sich zusammenzureißen. Wenn sie alles kaputtmachte – nicht auszudenken, was passieren würde. Sees Reaktion wäre dann noch das geringste Übel. Sie hatte wirklich Angst.

See warf ihr einen bedeutungsschweren Blick zu. Die Substanz wirkte auf jeden unterschiedlich und See konnte nach der Einnahme nicht reden, also musste sie auch diesen Teil übernehmen.

,Wir – See und ich...wir wollten', Ihre Zunge schien wie gelähmt. Lily musste eine Pause machen und war erst nach Sees jetzt bedeutend schärferen Blick wieder dazu in der Lage zu sprechen. ,Wir haben eine Möglichkeit gefunden, uns nur mit wenigen Tropfen dieses Mittels hier geistig auszutauschen. Ihr...ihr wisst was das heißt. Alle den gleichen Trip. Nie mehr Horror. Zu zweit geht das nicht. Aber wir alle können es schaffen. Das Große. Konzentriert euch.'

Nach einer weiteren Pause fügte sie, die irritierten wie wütenden Blicke Sees über jede weitere vergeudete Sekunde ignorierend, hinzu:, Bitte.'

Es war soweit. Mit zitternden Fingern zog sie an der Kordel, die um ihren Hals hing. Ein rotgoldenes Etwas, einem Stein ähnlich das daran befestigt und bis jetzt sicher unter ihrem Hemd verborgen gewesen war, kam zum Vorschein. Lily hielt es in die Luft.

Etwas...geschah. Erst langsam und allmählich, dann immer heftiger. Man konnte die Spannung direkt fühlen. Die Luft war voller Energie.

Es war wie eine uralte Macht, die an ihren Ketten zerrte. Lily spürte die unvorstellbaren Kräfte, die im Begriff waren, entfesselt zu werden und plötzlich verstand sie. Sie schrie auf.

Was hatten sie getan? Was waren sie im Begriff zu tun?

Das steinähnliche Etwas, das sie immer noch zwischen Fingern hielt, wurde warm und strahlte ohne Vorwarnung von einer Sekunde auf die andere auf einmal eine unbeschreibliche Hitze aus. Lily schrie, es war ein ungemein gequälter und langgezogener Schrei und nicht einmal der konnte ihren Schmerz ausdrücken. Aber sie konnte nicht loslassen. Der Stein versengte ihre Haut, bald, nach endlosen Sekunden der Pein stieg ihr der Geruch von geschmorten Fleisch in die Nase. Sie hielt die Augen krampfhaft geschlossen, sah aber bereits vor ihrem inneren Auge, wie sich ein verkohltes, schwarzes Stück Fleisch gleich von dem weißen Knochen lösen würde. Oh Gott, was hatten sie nur getan?!

Grelles Licht flammte auf. Rings um sie herum explodierte es...«

***

Lily lag wieder auf dem Rücken, doch diesmal nicht mehr im Holschuppen, sondern unter freien Himmel auf eiskaltem Schnee. Sie fror.

Um ihren Kopf herum bildeten sich verästelte rote Spuren in dem strahlenden Weiß. Blut oder Illusion?

Sie schloss die Augen.

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